Antwort auf die Rezension in ›Das Argument‹ Bd. 243, 2001
›Das Argument‹ (Bd. 243, 2001) enthält eine Rezension meines Buches ›Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit‹ von C. Schmidt. In dieser Rezension werden tatsachenwidrige Behauptungen zu zentralen Positionen des Buches aufgestellt, die seinen Inhalt ins Gegenteil verkehren. Dies betrifft die Grundaussagen der vom Rezensenten allein thematisierten ersten beiden (der insgesamt drei) Hauptteile des Bandes (1, 2), seine Gliederung (2,3,4), sein Anliegen (4) sowie Grundbegriffe des Buches: ›Gesellschaftsgestaltung‹ (5) und ›Gesellschaftliche Müdigkeit‹ (6).
1) Der erste Teil des Buches beinhaltet eine systematische Kritik soziologischer Modernetheorien und analysiert die mit modernen Strukturen verbundenen Schwierigkeiten für Gesellschaftsgestaltung. Der Rezensent behauptet demgegenüber ohne Beleg die “Akzeptanz der Modernetheorien” (853) als Position des Buches und verkehrt sie damit in ihr Gegenteil.
2) Im zweiten Teil des Buches kritisiere ich systematisch die kapitalistischen Formen des gesellschaftlichen Stoffwechsels. Thema ist u. a., die Stilisierung des Marktes als unüberbietbares Modell gesellschaftlicher Synthesis ebenso infragezustellen wie die Effizienzmythen kapitalistischer Technologie und die Auffassung, ohne Hierarchie, Konkurrenz und Sozialdarwinismus entfielen alle Anreize für die Reichtumsentwicklung. Die unzutreffende Behauptung, meinem Buch seien “die Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung ›irreduzibler‹ Maßstab des eigenen Handelns” (853), verkehrt den zweiten Teil des Bandes in sein Gegenteil. Der Rezensent behauptet unzutreffend, meiner Position zum Markt zufolge sei ihm gegenüber “eine ›Demut‹ angebracht” (852).
Tatsache ist: Der Ausdruck “Demut” kommt im Buch allein in einem Zitat von Friedrich August Hayek vor. Der Rezensent unterlässt es, den Ausdruck “Demut” als Zitat von Hayek auszuweisen. Das Unverständnis des Rezensenten für die Gliederung des Buches offenbart sich darin, dass er unterschlägt, wie im Moderneteil meines Buches Hayeks Theorie des Marktes als ebenso unersetzbar wie unübertreffbar dargestellt und eben diese Auffassung im Kapitalismusteil kritisiert wird. Darüber hinaus enthält mein Band (S. 140ff.) eine ausführliche Darstellung der Probleme, in die Linke kommen, die den Markt ›marktsozialistisch‹ zugleich voraussetzen und für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Spätestens hier hätte dem Rezensent dämmern können, dass meine Position zum Markt nicht die der Demut ist.
3) Meine Analyse des Zusammenspiels moderner und kapitalistischer Strukturen und der Überdeterminierung der ersteren durch letztere arbeitet heraus, dass beide unabhängig voneinander und nicht aufeinander zu reduzieren sind. Weder kann der Kapitalismus als Teilmenge der Moderne konzeptualisiert werden, noch erledigen sich mit einer vorgestellten Überwindung des Kapitalismus die modernen Strukturen und deren Probleme für Gesellschaftsgestaltung. Der Rezensent behauptet ohne jeden Beleg, dass der Verfasser “durch seine Akzeptanz der Modernetheorien die Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung zum ›irreduziblen‹ Maßstab des eigenen Handelns macht” (853). Tatsache ist: Schon aufgrund der strikten Unterscheidung zwischen kapitalistischen und modernen Strukturen könnte auch selbst dann nicht “durch” die vermeintliche Akzeptanz der einen (modernen) Sphäre die andere (kapitalistische) Sphäre affirmiert werden, wenn es diese Akzeptanz im Buch gäbe.
4) Inhalt meines Buches ist es, mit der Kritik des Kapitalismus in ihm absorbierte Ressourcen, Potentiale und Akteure für einen anderen Umgang mit modernen Strukturen aufzuweisen und eine Konvergenz von praktischer Moderne- und Kapitalismuskritik als emanzipatorische Perspektive aufzuzeigen. Sie ermöglicht eine (dann: wirklich) reflexive Moderne. Diese unterscheidet sich ums Ganze von den nicht gesellschaftlich gestalteten, insofern unmittelbar zu nennenden modernen Strukturen. Im Telegrammstil: Die Überwindung des Kapitalismus setzt andere Ressourcen dafür frei, mit den Problemen umzugehen, die in modernen Strukturen für die Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder stecken. Und: Die in Teil I enthaltenen Modernekritik ermöglicht es, die gegenüber Gesellschaftsgestaltung aversiven ›Sachzwänge‹ und ihre menschlichen Unkosten als Problem des gesellschaftlichen Zivilisations- und Kulturmodells zu beschreiben und Effizienz, Effektivität usw. als Kriterien selbst nichtregressiv infragezustellen. Es wird damit das Rüstzeug erarbeitet für eine Selbstreflexion der Moderne bereits in ihrer systemischen ›Hälfte‹ und für eine Veränderung der für sie konstitutiven Maßgaben und Zielgrößen. Der Rezensent behauptet diesbezüglich ohne Beleg, in meinem Buch würden die modernen und kapitalistischen Strukturen “quasi-ontologisch festgeschrieben” (853). Richtig ist: “Festgeschrieben”, und dann auch gleich noch “ontologisch”, wird in meinem Buch nichts. Der Rezensent verwandelt die im Buch dargestellten Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung in deren Unmöglichkeit – eben die Verwechselung, gegen die das ganze Buch argumentiert. Der Rezensent verschweigt die von mir herausgearbeitete Differenz zwischen den bestehenden unmittelbar modernen Strukturen und den mit der Moderne- und Kapitalismuskritik möglichen Standards einer reflexiven Moderne.
5) Den Ansatz des Buches macht es aus, Gesellschaftsgestaltung auf ›emphatische‹, politisches und staatliches Handeln überschreitende Weise zu fassen. Ich begründe dies als notwendig aus dem bestimmten Inhalt der in unmittelbar modernen und in kapitalistischen Strukturen unlösbaren Probleme und erkläre, warum unter den Bedingungen solcher Strukturen es keine dauerhafte und nachhaltige Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder geben kann. Der Rezensent geht an diesem zentralen Anliegen vollkommen vorbei. Tatsachenwidrig stellt er den Inhalt des Buches so dar, dass es “mit dem staatlichen und politischen Handeln einen wesentlichen Bereich tatsächlicher Gesellschaftsgestaltung ausblendet” (852). Mein Buch blendet staatliches und politisches Handeln nicht aus (s. S. 121ff., 157f., 229). Vielmehr zeigt es, warum ihnen gegenüber Gesellschaftsgestaltung der umfassendere und tiefere Zugang ist. Der Rezensent füllt den von mir schon auf der ersten Seite bestimmt gefassten Zentralbegriff ›Gesellschaftsgestaltung‹ vom Alltagssprachgebrauch her auf und erweitert bzw. entleert ihn sinnentfremdend. Im Unterschied zur vom Rezensenten bloß behaupteten “Ausschaltung der politischen Sphäre” (853) geht es mit der Kritik an politischem und staatlichem Handeln und mit der Vergegenwärtigung der in ihrem Horizont weder konzeptualisierbaren noch überwindbaren Schwierigkeiten von Gesellschaftsgestaltung um die Emanzipation der Gesellschaftsgestaltung von ihren politischen und staatlichen Schranken und Grenzen. Damit wird auch eine Problematik theoretisch erarbeitet, die den Gegensatz von parlamentarischer Realpolitik und ›sozialen Bewegungen‹ durchgreift und beide konstitutiv betrifft.
6) ›Gesellschaftliche Müdigkeit‹ entsteht auch dadurch, dass vielfältige Gesellschaftskritiken auflaufen am Schein der Unersetzbarkeit und Unübertreffbarkeit der basalen modernen und kapitalistischen Strukturen und an den von ihnen ausgehenden, weder praktisch noch theoretisch bewältigbar erscheinenden Schwierigkeiten für Gesellschaftsgestaltung. Protest relativiert sich an der Realfiktion, es handele sich vielleicht um eine schlechte Welt, aber sicher um die – wenigstens von ihren Grundstrukturen her – beste aller möglichen Welten. Der Rezensent unterstellt mir ohne jeglichen Beleg und sinnverkehrend die Position, “daß die Menschen allesamt ›eigentlich‹ die Gestaltung wollten, für die sie sich nicht einsetzen. Sie scheinen nur zu sehr von ›gesellschaftlicher Müdigkeit‹ befallen, um ihren Willen umzusetzen” (853). Der Rezensent verkehrt damit die von mir theoretisch herausgearbeiteten Problematiken der gesellschaftlichen Müdigkeit und der Gesellschaftsgestaltung sachfremd zu Bewusstseinstatsachen oder zu Zuständen von Individuen. Auch setze ich einen eigentlichen Willen zur Gesellschaftsgestaltung weder voraus noch begründe ich den Begriff der Gesellschaftsgestaltung unter Bezug auf ihn. Der Rezensent immunisiert seine massiven Falschinformationen mit dem Zusatz, es entstehe der “Eindruck”, als ob das Buch so verfahre (853). Subjektive Eindrücke als tragendes Moment der Rezension eines Theoriebuches in einer wissenschaftlichen Zeitschrift – ein erstaunliches Unterfangen! Immerhin expliziert so der Rezensent am Ende seines Textes in dankenswerter Offenheit sein hier an sechs Essentials gezeigtes Vorgehen, sich das Objekt seiner ›Rezension‹ jenseits der Tatsachen wie Wachs in seinen Händen zur Unkenntlichkeit zurechtzumodeln.