H. Babendreyer in Widerspruch (Zürich) 22.Jg. / Bd. 42, 2002
Meinhard Creydt: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im gesellschaftstheoretischen Denken. Frankfurt am Main 2000, 423 S.
Der Abschied von der früheren ebenso imaginären wie ungeheuren Leichtigkeit von Systemveränderungsambitionen ist eingemündet in eine saturierte und realpolitische Affirmation des Gegebenen. Zu begreifen ist dann gesellschaftstheoretisch nichts wirklich mehr. Kenner der Szene fragten deshalb: »Wieviel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theoriebildung vertragen?« (Wolf-Dieter Narr). Im Unterschied zu faktizitätsblindem ›Idealismus‹ und tatsachenbegeistertem ›Realismus‹ ist hier von einem gelungen Stück Gesellschaftstheorie zu berichten.
Die vorliegende ›Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit‹ stellt die Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung auf eine Weise dar, die sowohl den Gestaltungspessimismus wie den Utopismus überwindet. Sie zeigt das Umschlagen beider ineinander. Die in ihrem Gefüge analysierten Schwierigkeiten, auf Gesellschaft (um)gestaltend einzuwirken, resultieren für Creydt aus den modernen Strukturen der gesellschaftlichen Synthesis, des Kapitalismus und der Subjektivität. Nicht diese drei Sphären gegeneinander auszuspielen oder sie ›multifaktoriell‹ zu kombinieren, sondern ihren konstitutiven Zusammenhang zu denken, ist das Anliegen des Autors.
Der Verfasser fokussiert soziologische Modernetheoreme und Kernpunkte einer gesellschaftstheoretisch fruchtbar gemachten Kapitalismustheorie, insofern beide die Schwierigkeit einer substanziellen Gestaltung von Gesellschaft im Unterschied zum Bedienen und Ausnutzen von ›Sachzwängen‹ thematisieren. Eingeschlossen ist eine Kritik utopischer Sozialismusvorstellungen aus der Perspektive soziologischen Wissens und eine Kritik einer unmittelbaren, kapitalismusblinden Anwendung soziologischer Theoreme auf die bestehenden modernen westlichen Gesellschaften aus der Perspektive der Marx’schen Kapitalismustheorie. Deren Differenz zum ›Marxismus‹ wird ebenso zum Thema wie untaugliche Versuche, den kapitalistischen Tiger zum Vegetarier zu zähmen. Creydt stellt in einem dritten Schritt zentrale Weisen des individuellen In-der-Welt-Seins dar, wie sie die Lebenswelt auf der Grundlage der geschilderten Strukturen der modernen kapitalistischen Gesellschaft und in Absetzung von ihnen mit sich bringt. Diese Analyse formuliert eine Kritik an mit der ›Lebenswelt‹ gegenüber den ›Systemen‹ verbundenen Emanzipationsvorstellungen und an Hoffnungen, in ›Subjektivität(en)‹ einen Rückhalt zur Einhegung und Kritik der problematischen Effekte moderner und kapitalistischer Strukturen zu gewinnen. ›Doppelcharakter‹ und ›Ereignis‹ sind der Darstellung und Kritik immanente theoretische Modelle, die das dem Gegenstand angemessene und zugleich notwendige Denken vor Funktionalismus, Strukturhermetizismus und einfacher Negation bewahren.
Die Darstellung der Schwierigkeiten von Gesellschaftsgestaltung suggeriert nicht deren Unmöglichkeit. Umgekehrt aber wird auch nicht, um die Möglichkeit von Gesellschaftsgestaltung darzutun, die Analyse – wie so oft – von der politischen Absicht her ergebnisinteressiert angelegt. Gegenüber den aufeinander fixierten Wunschgegnern des ebenso werteseligen wie naiven Gutmenschentums oder einer geschäftigen Endlosverbesserung des Gegebenen einerseits und des allzuleichten Zynismus und der schönen Seelen der Negation andererseits wird ein anderes Terrain und eine andere Problematik erarbeitet, in der man mit einem einfachen Entweder-Oder nicht weit kommt.
Gegenüber einer Wissenschaft, die immer mehr von immer weniger wissen möchte, und gegenüber abgehobener Metatheorie sind Integrationsleistungen wie die vorliegende rar. Der Autor bezieht Essentials der Soziologie als trauriger Wissenschaft von der Opakheit und der schwierigen Veränderbarkeit der Gesellschaft, wesentliche Knotenpunkte einer gesellschaftstheoretisch gelesenen Kapitalismustheorie sowie die Subjektivität betreffende Theoreme aufeinander. Das vorliegende Buch enthält nicht nur drei durchaus auch selbständig lesbare Teile. Zugleich entfaltet der Verfasser umsichtig die vielfältige abgestufte Aufbauordnung, in der die thematisierten drei Sphären stehen, und die verwickelten Verweisungszusammenhänge zwischen ihnen. Creydt rehabilitiert Gesellschaftstheorie als Analyse der Totalität, die sich zur imponierenden Pluralität und Differenzierung nicht reduktionistisch verhält. Vielmehr weiß der Verfasser allererst im Durchgang durch die Multiperspektivität das aus der jeweiligen Binnen- und der einfachen Außenperspektive notwendig selbständig Erscheinende ineins begrifflich aufzuschließen und auf über- und durchgreifende Strukturen zu beziehen. Immer wieder kann der Leser entdecken, wie alten, vermeintlich bekannten Texten neue Erkenntnisse abgewonnen werden. Das bornierte Totschweigen von Marx hat auch ein Motiv in den vielen ebenso uninspirierten wie ermüdenden Nacherzählungen aus der Vergangenheit. Im vorliegenden Band nun findet sich eine Lektüre, die Marx nicht als Konkurrenten der Ökonomietheorie zeigt, sondern die ökonomischen Tatbestände auf ihre Vergesellschaftungsdimensionen durchsichtig macht. Immer wieder werden die theoretischen Argumente anderer Autoren auf den zugrundeliegenden realen Problemgehalt hin geöffnet und zugleich besonders bei Luhmann die vielfältigen Verteidigungsanlagen und labyrinthischen Selbstimmunisierungen aufgezeigt.
Im Subjektivtätsteil steuert der Verfasser an den Klippen einer verfallstheoretischen Abkanzelung gegenwärtiger Subjektivität ebenso vorbei wie an ›emanzipatorischen‹ Hoffnungen. Das Buch enthält eine Theorie der Moderne, die die subjektlosen und die lebensweltlichen Strukturen nicht nur aufeinander bezieht, sondern auch als Momente eines in sich differenzierten Konstitutionszusammenhangs ausweist. Zur Diskussion der vielfach gefeierten objektiven Leistungsvorzüge moderner und kapitalistischer Organisationen, Institutionen und Strukturen (Effizienz, Kalkulierbarkeit, Rechtssicherheit usw.) tritt eine Diskussion soziokultureller Versprechen, z.B. »Autonomie«, »Subjekt«, »Grund- und Menschenrechte«, »Gebrauchswert«, »Sinnlichkeit«. Diese Werte einfach positiv als Kritikfundament in Anspruch zu nehmen beruht auf vom Verfasser herausgearbeiteten Entkontextualisierungen, Hypostasierungen und Idealisierungen. Sie sind durchaus typisch für eine Gesellschaft, die sich auch dadurch erhält, daß viele ihrer Mitglieder sich imaginär über sie hinaus oder gar erhaben dünken. Dafür – so Creydts These – wird jeweils eine Seite der Wirklichkeit aus ihr herausgelöst. Andere soziale Momente geraten dann zur äußer(lich)en Bedingung, zum Mittel oder zur Schranke desjenigen, das als »eigentlich« gehandelt wird. Creydts Diagnose der Lebenswelt läuft darauf hinaus, daß die in die modernen und kapitalistischen objektiven Strukturen eingelassenen Formen der Individualität im Reich der Subjektivität immer mehr imaginär umgewendet werden zur Verwirklichung von Subjektivität. Über das hinaus zu sein, wovon sie abhängt, macht dann den vordringlichen Sinn von Subjektivität aus. Ihn idealisieren Ideologen, die die kreativen und interpretativen Leistungen der Subjekte ebenso für bare Münze wie für den Ausweis von Freiheit nehmen, ohne daß solche Schönrednerei sich noch davon Rechenschaft abzulegen hätte, wie die subjektive Selbstverwirklichung zur Durchsetzungsform subjektloser Strukturen gerade dadurch avanciert, daß letztere imaginär zur bloßen Kulisse depotenziert werden, vor und in der die Subjektivität ihr Spiel zu spielen meint.
Die Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung bilden das integrative Zentrum des Textes. Aus ihrer Darstellung und Kritik erwächst als Alternative ein erweiterter Arbeitsbegriff bzw. die Konzeption eines »arbeitenden In-der-Welt-Seins«. Der Verfasser deutet die vielfältige Präsenz dieses Anderen der gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer Mitte selbst an. Insbesondere das Kapitel über den Doppelcharakter und das Ereignis widmet sich der schwierigen Aufgabe, nach der dichten Beschreibung der allgemeinen Ultrastabilität der gegenwärtigen Gesellschaft – bei allen Flexibilitäten im besonderen – die Chancen für Gesellschafts(um)gestaltung aufzuweisen. Diese Passagen lesen sich als Variation über Musils Unterscheidung zwischen Unmöglichkeit und Hindernis: »Darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit« (Mann ohne Eigenschaften). Man wird auf das angekündigte Buch gespannt sein, in dem Creydt diese Alternative positiv entfaltet.
Wenn der Campus-Verlag Creydts Band schon als eine von nur zwei Neuerscheinungen zur soziologischen Theorie im Herbst 2000 veröffentlicht, so wäre dem Buch eine baldige Neuauflage zu einem niedrigeren Preis zu wünschen. Der Band gehört in jedes Hauptstudium, in dem nicht nur Soziologie, sondern auch Gesellschaftstheorie Thema sein soll. Der Text eignet sich auch als Prüfstein für linke Politik, werden doch hier schonungslos jene Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung begriffen, über die sich Illusions- und Projektemacherei nur allzu leicht und gern hinwegsetzen. Erst wer sich den »Verschlußsachen« in voller Intensität aussetzt und weder die Angst kurzschlüssig zu überwinden trachtet noch sich als Busibody an der Komplizierung der Welt durch die Vereinfachung des Denkens beteiligt, kann imstande sein, weder sich noch anderen etwas vorzumachen.
Sprachlich ist das Buch nicht immer leichte Kost. Die Hineinarbeitung ins Detail geht aber nicht auf Kosten des Zusammenhangs. Die theoretische Argumentation ist durchsetzt mit Beispielen, die geschickt gewählt sind, ohne daß Empirisches journalistisch Gedankenschwächen kompensieren soll, wie dies bei Robert Kurz bereits früh bemerkt wurde. Viele Bücher erschöpfen sich in reichem Material für mickrige Thesen. Im vorliegenden Band werden komplizierte reale Verwicklungen analysiert und es herrscht trotz des Umfangs eine gedankliche Ökonomie. Einen Text bspw. wie den 40 seitigen Kulturteil – Kulturkritik ohne Ressentiment – hätte anderen für ein ganzes Buch gereicht. Creydts Text wirkt trotz seines Umfangs eher wie ein Konzentrat. Der theorieinteressierte Leser wird auf die Spur gesetzt, sozusagen während der Lektüre verschiedene Seitenstücke dieses Bandes weiter zu denken, z.B. eine Kritik der älteren Kritischen Theorie oder poststrukturalistischer Ansätze. Der vorliegende Band formuliert dazu zentrale Argumente, ohne daß der Verfasser sich in entsprechenden Exkursen verzettelt. Das Buch arbeitet sozusagen im Leser weiter. Auch von der Gestaltung her zeigt der Autor die Erfahrung eines Bewußtseins, das über »das in der gegenwärtigen Theorielandschaft notorische Mißverhältnis zwischen luxuriöser Verausgabung von Sinn(en) und Denkkraft einerseits, dem Mangel an Konzentration auf notwendendes Obligates andererseits« hinauskommt (Einleitung). Die Argumentationsführung läßt das erarbeitete Anliegen und die Intervention des Buches auf dem jeweiligen Stand ihrer Entfaltung trotz der Breite des verarbeiteten Stoffes stets unaufdringlich präsent sein, so daß man trotz aller der Sache geschuldeten Verwicklungen nicht den Überblick verliert. Der vorliegende Band unterscheidet sich von enzyklopädischen Arche Noah-Projekten und einer mit der Kreativität einer Legebatterie begabten linken Publizistik. An derlei läßt sich der risikoscheue Fleiß und die Geschäftigkeit von Theorieverwaltern, von Ehrenwachen oder bloßen Defensivmaßnahmen einer Orthodoxie bewundern. Angesichts der schlechten Unendlichkeit und der Vorlust an Präliminarien, Ansätzen und Einfällen fragen sich Leser dann ratlos und erschöpft, wofür dieser ganze wenig zugespitzte Aufwand denn lohnen soll. Im Unterschied dazu zeigt sich im vorliegenden Band ein Verstand, der erst in seiner begrifflichen Systematizität der herrschenden Totalität gewachsen ist, ohne sie zu einer Invariantenlehre zu ontologisieren. Der Leser genießt den seltenen Überblick, den analytischem Tiefgang und die beeindruckende Stringenz. Eine Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit, die ob ihrer Konzentration hell wach macht.