D. Richter in: Forum Wissenschaft H. 4, Jg. 19, 2002, S. 67-69
Meinhard Creydt: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im gesellschaftstheoretischen Denken. Frankfurt am Main 2000, 423 S.
Gesellschaftstheoretisches Denken in den 70er Jahren ging in der progressiven Intelligenz der alten Bundesrepublik einher mit der starken Neigung, alles aus dem Kapitalismus ‘abzuleiten’. Später dann setzte sich etwa mit Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns und mit Luhmanns Theoremen, um einmal die Spitzen des Eisbergs zu nennen, ein Denken durch, das ‘die moderne Gesellschaft’ ins Zentrum stellte. Der Kapitalismus kam nun, wenn überhaupt, nurmehr als deren Unterabteilung vor. Creydts Buch hebt die Einseitigkeit beider Positionen und ihre einfache Entgegensetzung auf, ohne in laue Kompromisse zu verfallen. Es reagiert damit auf die hegemonialen Feindbilder. Viele Denker im öffentlichen Dienst geraten bei Marx’scher Kapitalismuskritik in eine brutalisierende Komplexitätsreduktion, die sozusagen spiegelverkehrt jene Abfertigung teilt, die auszuteilen auch manche marxistischen Kritiker ‘bürgerlicher Wissenschaft’ gewohnt waren. Man kann nach Lektüre des Buches hier entspannter und fairer denken und muß nicht länger wegen der in der Marx’schen Theorie enthaltenen Naivitäten in puncto millenaristischer Leichtgängigkeit der befreiten Gesellschaft (nach Subtraktion des Kapitalismus sei ‘eigentlich’ alles ganz einfach zu regeln) seine Kapitalismuskritik ablehnen. Und man muß nicht wegen der kapitalismusbezogenen Naivitäten der Modernetheorie ihre Stärken übergehen. Der Autor erarbeitet ein umfassenderes Terrain, in dem eine an Marx anknüpfende Kapitalismuskritik und die verschiedenen Spielarten der soziologischen Theorie moderner Gesellschaft sich in ein produktives Verhältnis zueinander setzen lassen.
Der integrierende Fokus dieses Buches liegt auf den Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung. Sie bildet für Creydt den Gegenbegriff gegenüber der inflationär bekundeten politischen Ambition des ‘Gestaltens’. Der Verfasser liest sowohl die Soziologie wie auch die Kritik der politischen Ökonomie als traurige Wissenschaften von den Grenzen der Gesellschaftsgestaltung. Thema ist so neben dem Markt- und Staatsversagen auch ein Politikversagen, insofern Politik an den den modernen und kapitalistischen Gesellschaften immanenten Gestaltungsgrenzen aufläuft. Beide Paradigmen enthalten jeweils eine eigene Substanz, die der andere Denkzugang nicht zu thematisieren vermag. Creydt sieht als genuine Themen makrosoziologischer Theorien moderner Gesellschaften die Komplexität moderner Gesellschaften, die Auswirkungen der Arbeitsteilung, die gesellschaftlichen Synthesisformen (Hierarchie, Markt, funktionale Differenzierung und Organisation) sowie die Effizienz und formale Rationalität als Erfolgskriterien. Mit der Marx’schen Kapitalismuskritik lassen sich eigene Abstände, Trennungen, Eigendynamiken und selbstreproduktive Kreisläufe bzw. Steigerungsspiralen des ‘abstrakten Reichtums’ denken. Creydt macht deutlich, daß diese Denkarbeit über die Projekte einer ‘arbeitnehmerfreundlichen’ oder ökologischen Ökonomievariante hinausgeht und die Erkenntnis kapitalismusspezifischer Strukturen als Vergesellschaftungsweisen beinhaltet. Mit dem Aufweis des rationalen Kerns beider Zugänge geht die Kritik einher, wie beide Denkrichtungen sozusagen ihren legitimen Platz überschreiten, in fremden Gefilden nicht nur wildern, diese sich vielmehr imperial anzueignen trachten und damit schlußendlich selbst auf Abwege geraten und ihre eigene Legitimität verspielen. Am mit der Kritik der Politischen Ökonomie verbundenen Marxismus wird gezeigt, wie er - neben mancherlei Naivitäten gegenüber den eigenen Gestaltungsproblemen moderner Gesellschaften - vor der Courage der Kapitalismuskritik zurückschreckt. Hier grassieren voluntaristische Aufhebungsphantasien und politizistische Patentrezepte, die die nüchterne Kälte der Gesellschaftsdiagnose nur auszuhalten vermögen, wenn sie dieselbe mit tröstlichen Auswegen vermeintlich komplettieren, realiter aber damit die eigene Substanz verspielen. An den soziologischen Modernetheorien zeigt der Verfasser, wie in ihnen Kapitalismus zur selbstverständlichen Voraussetzung gerät. Der Schein der Neutralität und Unumgänglichkeit von Ware, Markt, Geld und der kapitalistischen Organisation und Technik im Arbeitsprozeß wird zugleich erklärt und sozusagen dekonstruiert.
Ein dritter Teil zur “entfalteten Subjektivität” schließt das Buch ab. Wieder läßt sich die Argumentation lesen als Verarbeitung zentraler Erfahrungen mit prominenten progressiven Konzeptionen. Creydt kritisiert verfallstheoretische Zeitdiagnosen, die die Subjektivität(en) der Gegenwart am Ideal des ichstarken Bürgers (vgl. die frühe kritische Theorie) oder des erfahrungsgesättigten Bauern (vgl. Maoismus, internationalistische Folklore und Subsistenzperspektive) oder Handwerkers messen. Letzterer bildete proletarisch travestiert auch die Idealgestalt des Arbeiterbewegungsmarxismus. Subjektivität wird zudem weder verstanden als bloße Wiederspiegelung objektiver Verhältnisse noch als das sozusagen apriorisch gesetzte (’unkaputtbare’) ‘Leben’, das aller Objektivität trotzt und ihre Überwindung verheißt. Subjektivität nimmt Creydt als eigene Lebenssphäre ernst, die in Absetzung von der erscheinenden Gestalt der modernen und kapitalistischen Gesellschaft unter deren Voraussetzung eigenes Leben nolens volens zu gründen hat. Die Subjektivität verstrickt sich in Probleme mit sich selbst, weil sie etwas zur Sphäre eigener Verwirklichung kreativ umzuinterpretieren und -arrangieren genötigt ist, das anderen Imperativen gehorcht. Die Subjektivität hat nun noch dies Widerstrebende schon aus eigenen Erhaltungs- und Steigerungskriterien neuerlich sich zu assimilieren und gerät damit in neue Eigendynamiken. Der Subjektivitäts-Teil gliedert sich nach den Stufen der Entfaltung und Verselbständigung von Subjektivität.
Creydts Buch gehört weder der Sparte der Politikberatungsliteratur an noch der Klage der schönen Seele über das unentrinnbare Verhängnis. Der Autor vergegenwärtigt die Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung in einer Konsequenz, die die auf diese Gestaltungsschwierigkeiten bezogene ‘Gesellschaftliche Müdigkeit’ in ihrer Persistenz eindrücklich vergegenwärtigt. Sowohl die realpolitische Verwaltung des kleineren Übels als auch die bewegungsaktivistische Mobilisierung des guten Willens werden an eine von diesen Positionen symptomatischerweise ebenso unbewältigte wie dethematisierte Blockade erinnert, die imaginär zu überspielen v.a. zu einer leeren Geschäftigkeit beiträgt. Zugleich zeigt Creydt mit den Figuren des Doppelcharakters und des Ereignis die Grenzen und Widersprüche der von ihm dargestellten gesellschaftlichen Formen und Strukturen. In den bestehenden Verhältnissen entstehen menschliche Kräfte, Fähigkeiten, Verbindungen sowie materiale, technische und organisatorische Ressourcen, die bei aller konstitutiven Eingebundenheit in die herrschenden gesellschaftlichen Formen nicht nur mit ihnen nicht identisch sind, sondern auch eine andere Zivilisation und Kultur ermöglichen. Der Verfasser unterscheidet zwischen einer auf dem Niveau moderner Gesellschaften denkbaren nichtkapitalistischen Organisation des Lebens, Arbeitens, Konsumierens und Wirtschaftens und einer pragmatisch naheliegenden und wahrscheinlichen gegenseitigen Steigerung der von ihm gezeigten jeweils eigenen Gründe für die starrflexible Ultrastabilität kapitalistischer und moderner Gesellschaftsformen. Der Auflösung des Knotens von der nachkapitalistischen Seite her steht die Verknotung der modernen und der kapitalistischen Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung sozusagen zum Doppelknoten entgegen. Eine postkapitalistische Ökonomie erlaube einen anderen Umgang mit den Sachzwängen der modernen Gesellschaft. Deren Steigerung aus kapitalismusspezifischen Gründen über das für moderne Gesellschaften notwendige Maß hinaus sei ebenso zu überwinden wie die für den Kapitalismus aufgewiesene Fehlabsorption von Ressourcen. Ihre Freisetzung erlaube größere gesellschaftliche Freiheitsgrade im Umgang mit modernen Sachzwängen und damit zwar nicht ihre Auflösung, wohl aber ihre substanzielle Veränderung. ‘Reflexiver Moderne’ wüchse so ein größerer Umfang und eine tiefgreifendere Konzeptualisierung zu als bei Ulrich Beck et. al. üblich. „Darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit“ (Musil, Mann ohne Eigenschaften).
Natürlich ist das Buch bisweilen seinem Gegenstand entsprechend ‘harte Kost’. Der Leser wird aber durch Einleitungen und Resümees jedes Teils didaktisch hilfreich an die Hand genommen, manch Theoriewitz lockert die Lektüre auf und es lassen sich (z. B. in Creydts Luhmannkritik) interessante Auseinandersetzungen ‘ernten’, die die infragestehenden Theorien nicht innerakademisch-selbstreferentiell ventilieren, sondern stets auf ihren realen Problemgehalt durchsichtig machen. Der Moderne-Teil stellt eine auf das Thema ‘Schwierigkeiten der Gesellschaftstheorie’ fokussierte problemorientierte Synopse moderner Soziologie dar und der Kapitalismus-Teil bietet eine frische Pointierung von Marx’scher Kapitalismustheorie, die sich von der in diesem Metier oft vorherrschenden drögen Nacherzählungsmentalität und Scholastik (’MEW-Ehrenwache’) wohltuend abhebt. Im Buch kommt es zu keiner den Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung entsprechenden ‘positiven’ Darstellung der substanziellen Gesellschaftsgestaltung und der für sie notwendigen Institutionen und Akteure. Der Autor verweist dafür auf einen Nachfolgeband, in dem ein emphatischer Arbeitsbegriff im Zentrum steht. Ohne daß Creydt Subjektivität als bloßen Überbau oder funktionalistisch versteht, führt doch sein Zugang zur Subjektivität dazu, daß hier der Doppelcharakter weniger deutlich wird als im Verhältnis der beiden ersten Teile zueinander. Insofern wird man gespannt darauf sein, wie Creydt die von ihm favorisierte Subjektivität eines „arbeitenden In-der-Welt-Seins“ unter Bedingungen der Moderne zu denken vermag.
Das Buch stellt ein Exemplar jener seltenen gesellschaftstheoretischen Grundlagenarbeit dar, die der irreduziblen Vielfalt sozialer Logiken in modernen Gesellschaften gewachsen ist, also weder dem Pluralismus eines ebenso indifferenten wie bei allen Konflikten schiedlich-friedlichen Nebeneinanders von Subsystemen (’funktionale Differenzierung’) verfällt noch einer letztlich dann doch wieder künstlichen Einheitsstiftung, die die Vielfalt nicht von innen her zu sich aufzuschließen weiß. Der vorliegende Band kritisiert überzeugend alle ‘Projekte’, die die gesellschaftliche Müdigkeit nur vergessen machen wollen, ihr sich aber nicht wirklich zu stellen vermögen. Diese Enttäuschung des Utopismus führt den Verfasser aber nicht zu einer wohlfeilen Affirmation des Gestaltungspessimismus, da er ihn mit der Vergegenwärtigung der „Notwendigkeit“ und Möglichkeit von Gesellschaftsgestaltung zu kritisieren weiß, ohne sich über deren Leichtigkeit und Wahrscheinlichkeit etwas vorzumachen. Dieser diffizilen Konstellation eingedenk bewahrheitet der Text das alte Diktum: Nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht soziologisch etwas.