Einleitung

Allenthalben wird die geringe Bearbeitbarkeit vieler gesellschaftlicher Probleme in den OECD-Staaten beklagt (von ökologischen Schäden bis zur Arbeitslosigkeit, von der »Finanzknappheit der öffentlichen Hand« bis zu sog. Zivilisationskrankheiten). Dem breit bekundeten Willen, diese Probleme anzugehen, stehen Probleme zweiter Ordnung entgegen: Die Schwierigkeiten, auf Gesellschaft gestalterisch einzuwirken, um die materialen Probleme bearbeiten zu können. »Gesellschaftsgestaltung« beziehe ich auf eine diese Schwierigkeiten minimierende Praxis und setze sie ab gegen Stückwerkhandeln und den status quo sichernde politische, ökonomische, kulturelle oder individuelle Selbsterhaltung oder -steigerung.
Nicht die (von Arbeitslosigkeit lahmgelegte) »müde Gemeinschaft« (Jahoda u.a. 1960), sondern die gesellschaftliche Müdigkeit angesichts der Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung bildet das Thema dieser Arbeit. Gerade die Leistungsvorzüge und soziokulturellen »Errungenschaften« der modernen Gesellschaften erscheinen fast untrennbar verknüpft mit den Hindernissen, die in modernen Gesellschaften für Gesellschaftsgestaltung stecken. Trotz aller Probleme, Proteste und Modifikationen weisen diese Strukturen im Kernbestand eine bemerkenswerte Fähigkeit des Überdauerns und der Selbstreproduktion auf.

Ich stelle im ersten Teil dieser Arbeit eine Minimalbestimmung moderner Gesellschaften dar, wie sie sich soziologischen Theorien entnehmen läßt. Nach der »objektiven« Seite hin handelt es sich um hohe Arbeitsteilung und soziale Komplexität sowie sie bearbeitende Synthesisformen: Markt, funktionale Differenzierung, Organisation und Hierarchie. Mit »Effizienz« und »formaler Rationalität« werden die Leistungsvorzüge dieser modernetypischen sozialen Sachverhalte zusammengefaßt. Ich stelle diese Momente moderner Gesellschaft idealtypisch soweit dar, wie es mir notwendig dafür erscheint, einige prominente Argumente für die Leistungsvorteile dieser Strukturen sowie ihre erscheinende Unersetzbarkeit zu würdigen.

Im zweiten Teil arbeite ich komplementär zum modernespezifischen Abschnitt einige kapitalistische Strukturen heraus. Wiederum geht es mir nicht um eine Real-Analyse der (nun: kapitalistischen) Gegenwart, sondern um einen Minimalbestand von Argumenten, der ausreicht, um die Geltung der im ersten Teil idealtypisch präsentierten Struktur-Beschreibungen zu relativieren. Vermeintlich genuin moderne Sachverhalte entpuppen sich als kapitalistisch konstituiert. Meine Vergegenwärtigung der Kapitalismusanalyse geschieht an vier ihrer Sphären (Ware, Geld und Kapital, Produktion, Akkumulation) so weit, daß deutlich wird, daß mit der »Kritik der Politischen Ökonomie« Auskünfte über Strukturen der Vergesellschaftung, ihre Dynamik, die in sie involvierten Beteiligungszwänge und -motive und ihre Selbstreproduktion möglich werden. Sie zu übergehen, dies macht eine symptomatische Schwäche der im ersten Teil vergegenwärtigten soziologischen Theoreme über moderne Gesellschaften aus.
Die in Teil II beschriebenen kapitalistischen Strukturen beziehen sich auf die thematisierten modernen Strukturen in dem Sinn, daß sie die ihnen zurechenbaren Bezugsprobleme (Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung, Komplexität, abstrakte Synthesisformen) verschärfen und Potentiale und Ressourcen zur gesellschaftlichen Bearbeitung der modernen Strukturen auf kapitalismusspezifische Weise absorbieren. Rückkoppelungsstrukturen entstehen, die (qua Mehrwert, Konkurrenz und Akkumulation) erst zwingende Beteiligungsmotive schaffen. Ich trenne die »Kritik der Politischen Ökonomie« vom »Marxismus« und sehe in ihr einen Beitrag zu einer Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Ihr Gegenstand, die Schwierigkeiten der Gestaltung von Gesellschaft, stellt einen Nenner für Theorien dar, deren Unterschiede sonst nicht im Bereich von Akzentverschiebungen innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens liegen.

Neben moderner arbeitsteiliger Gesellschaft und kapitalistischer Ökonomie sehe ich (in Teil III dieser Arbeit) Hindernisse und Schwierigkeiten für die Gesellschaftsgestaltung gerade in der Sphäre, auf die heute viele ihre Hoffnungen setzen. Lebenswelt, sozialmoralische Standards, »Selbstverwirklichung«, Kreativität und Autonomie des Subjekts, dessen entfaltete Sinnlichkeit und Glücksansprüche usw. – all dies soll die modernen und kapitalistischen Strukturen der Systemintegration beschränken und zivilisieren oder gar humanisierend durchgreifen. Meine These demgegenüber: Mit solchen Annahmen und Hoffnungen wird ausgeblendet, wie »die« Lebenswelt, Subjektivität, Kultur in ihrem erscheinenden Unterschied zur »Herrschaft« der Strukturen moderner Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie sich nicht gegen sie stellen, sondern noch in Differenz bis Negation dazugehören.

Die Entfaltung von Subjektivität thematisiere ich auch deshalb, um nicht einen objektiv verengten Begriff von moderner Gesellschaft zu erhalten, sondern die mit ihr verbundenen emphatischeren soziokulturellen Versprechen diskutieren zu können. Gerade sie laufen auch immer schon implizit als Bewertungsfolien in der Diskussion der Leistungseffekte mit. »Autonomie«, »Subjekt«, Grund- und Menschenrechte, Gebrauchswert, »Sinnlichkeit« erscheinen als ebenso außergesellschaftliche wie evidente Fundamente der Bewertung gesellschaftlicher Vorgänge und Strukturen. Demgegenüber umreiße ich, wie die genannten Momente in eine differenzierte gesellschaftliche Konstitutionsordnung involviert sind. Diese Werte einfach positiv als Kritikfundament in Anspruch zu nehmen beruht auf zu zeigenden Entkontextualisierungen, Hypostasierungen und Idealisierungen. Sie sind durchaus typisch für eine Gesellschaft, die sich auch dadurch erhält, daß viele ihrer Mitglieder sich imaginär über sie hinaus oder gar erhaben dünken. Dafür – so meine These – wird jeweils eine Seite der Wirklichkeit aus ihr herausgelöst. Andere soziale Momente geraten dann zur äußer(lich)en Bedingung, zum Mittel oder zur Schranke desjenigen, das als »eigentlich« gehandelt wird.

Meine Arbeit ist weder historisch auf Zeitdiagnose bezogen noch derart an positiver Erklärung einzelner Sozialphänomene in dem Sinne interessiert, daß sie zu einem Konkretionsniveau vordringen könnte, das etwa für Fallstudien notwendig wäre. Vielmehr sollen negative Ermöglichungsgründe der bestehenden Ausformungen moderner Gesellschaften dargestellt werden. Aus ihnen wird nicht »ableitbar«, wie die existierenden Strukturen im einzelnen ausfallen, wohl aber, welche Schranken und Grenzen der Gesellschaftsgestaltung aus den modernen und kapitalistischen Strukturen und aus der ihr komplementären Subjektivitätsentfaltung gesetzt sind. Der negative Grund ist nicht die Ursache, sondern thematisiert, wie etwas dadurch sich begründet, daß die vorgestellten Kosten der Überwindung (»Desorganisationsschock«) und der Alternativen als höher erscheinen als die gegenwärtig beklagten Mängel, deren Kritik eine Gesellschaftstransformation motiviert. So viel Kritik es an einzelnen Aspekten der gegenwärtigen Gesellschaft geben mag, insgesamt herrscht doch Ratlosigkeit über eine andere, sie überwindende Gesellschaft vor. Einschüchternd ungewiß bleibt, wie die »Leistungsvorteile« der gegenwärtigen Strukturen bewahrt werden können mit Konzepten, die auf ihre »Schattenseiten« reagieren.
Meine Frage ist: Wie kommen in Beschreibungen der Leistungsvorteile und der Unhintergehbarkeit zentraler Strukturen dieser Sphären gestaltungspessimistische und utopistische Argumente vor? Mein Ziel ist es dabei, die in der Sache liegenden Gründe für hohe Absorptionspotentiale der Strukturen von utopistischen Annahmen über ihre Leistungsfähigkeit ebenso zu unterscheiden wie die in der Sache liegenden Gründe für die schwierige Ersetzbarkeit dieser Strukturen vom Gestaltungspessimismus.

Angesichts des stofflich weiten Ausgreifens meiner Arbeit ist diese begrenzte Fragestellung zu vergegenwärtigen. Mir geht es um bestimmte die Gestaltung moderner Gesellschaften betreffende soziologische Diagnosen, nicht um die Soziologie. Ebenso ist auch die Kritik der Politischen Ökonomie thematisch viel umfangreicher als die für meine Fragestellung aus ihr behandelten Momente. Theorien über moderne Strukturen der Systemintegration, über kapitalistische Ökonomie und über soziokulturelle »Errungenschaften« scheinen ein pseudokonkreter Gebrauch und eine empirische Fehlverwendung analytischer Abstraktionen innezuwohnen, so daß Ideal- zu Realtypen avancieren. Die Kritik dieser Tendenz bildet ein zentrales Ziel meiner Arbeit. Nicht die gelingende Integration ist mein Anliegen, sondern kritische Prolegomena für sie oder eine Argumentation bis zu einem »Punkt«, an dem die Notwendigkeit dieser derart anvisierten Integration deutlich wird, ohne daß damit vielerlei Schwierigkeiten bei der Einlösung dieser Aufgabe schon bewältigt wären.

Der integrative Ansatz meiner Arbeit motiviert sich aus den Grenzen von Spezialuntersuchungen und aus allenthalben geäußerten Kritiken an Reduktionismen der verschiedensten Provenienz. Demgegenüber versuche ich die konstitutive Verschränkung der drei Sphären wenigstens so weit aufzuzeigen, wie dies nötig ist, um die vorfindlichen Hypostasierungen zu kritisieren. Das Umfangsformat meiner Arbeit entspricht seinem Gegenstand: In makrosoziologischen Theorien (etwa bei Parsons, Habermas und Luhmann) sind Auskünfte über moderne, die »Systemintegration« (sensu Lockwood) betreffende Strukturen, über ökonomische und soziokulturelle Strukturen sowie über die in Aussicht gestellte Perspektive notwendigerweise so miteinander verfugt, daß ohne die Thematisierung der anderen »Bereiche« die Thematisierung einer der Sphären unmöglich erscheint.

Aufgrund des damit notwendigen Umfangs der Arbeit verzichte ich weitgehend auf immanente Theoriekritik. Ich zitiere Theorien, insofern sie Vorzüge, Selbstimmunisierungen und Effekte der thematisierten Strukturen prägnant artikulieren oder jene Probleme vergegenwärtigen, in die unweigerlich gerät, wer über die infragestehenden Phänomene nachdenkt. Die innertheoretischen Folge- und Ausgestaltungsprobleme interessieren mich weniger. Ich versuche, die von den drei idealtypisch vorgeführten verschiedenen theoretischen Perspektiven jeweils unterbestimmten bis ausgeblendeten Sachverhalte hervortreten zu lassen und verweise an den jeweiligen Stellen auf die einschlägigen vorliegenden theorieimmanenten Untersuchungen, die meine Argumentation stützen, ohne sie im einzelnen ad extenso zu vergegenwärtigen.

Die Abstraktionsstufe meines Vorgehens, mich auf einige Essentials zu konzentrieren, die nicht übergangen werden sollten, motiviert sich aus einem kritischen Blick auf die gegenwärtige Theorielandschaft. Auffällig ist das Überangebot an Untersuchungen, die der Maxime zu folgen scheinen, immer mehr über immer weniger wissen zu wollen. Hinzu tritt eine Begeisterung für sich in ihrer Aktualität überbietende Zeitdiagnosen. Diese »Aktualität« wird ostentativ betont und mit Gegenwart verwechselt. Auch im Besonderen aber steckt das Allgemeine und anderes Besonderes und sie gehören dann auch thematisiert. Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch von ihr nichts. Nur wer konkret mit scheinkonkret verwechselt, muß das ganze Gefüge an verwickelten Voraussetzungen, Implikationen und kontraintuitiven Nebenfolgen, die sich bei jedem auch zuerst nur kleinformatig aussehenden Thema ergeben, nicht bearbeiten oder kann diese nötige Arbeit mit »anschaulichem« Material und Bildungseffekten überspielen. Demgegenüber favorisiere ich einen Blick, der thematisch Übergreifendes und historisch (für die moderne Gesellschaft, die kapitalistische Ökonomie und die moderne bürgerliche Lebensweise) Überdauerndes in den Blick bekommt. Er übergreift die Besonderheiten und Konjunkturen. Die Gefahren wiederum dieser Perspektive (Reduktionismus, formelle Allgemeinheiten, Hypostasierung des Überhangs an Objektivität, Übergehen historischer Besonderheiten) sind dann einhegbar, wenn der kritische Impuls des Vorgehens und die Motive der Arbeit gewiß bleiben. Vgl. dazu auch II.6.

Ohne notwendig darin aufzugehen, mengt sich den analytischen Vorlieben für das vermeintlich Besondere und für das historische Spezifische auch eine Hilflosigkeitsreaktion oder fröhlicher Nihilismus bei. Die Verpflichtung zur Konzentration auf die – gewiß nicht beliebig vielen – zentralen Probleme unserer Zeit erscheint umgangen zugunsten von unverfänglichen Beschäftigungen, bei denen man nicht wirklich etwas falsch machen kann. Zu beobachten ist hier eine Positivität, mit der Theoretiker die von ihnen untersuchten Phänomene quasi liebgewinnen und sie nicht als jene Antwort auf Schwierigkeiten (der »materialen« Probleme) denken mögen, die als Antwort selbst wiederum die Schwierigkeiten ihrer Bearbeitung (also: der Gesellschaftsgestaltung) noch in der Abwendung von beiden (den Problemen erster und zweiter Ordnung) erhält oder gar steigert. Das in der gegenwärtigen Theorielandschaft notorische Mißverhältnis zwischen luxuriösen Verausgabung von Sinn(en) und Denkkraft einerseits, dem Mangel an Konzentration auf notwendendes Obligates andererseits, führt mich zu einem restriktiven Vorgehen, das mir der Problemdiagnose realer Grenzen eher angemessen zu sein scheint. Auf eine selbstreflexive Aufmerksamkeit für den Theoriehabitus läuft meine Arbeit auch durch ihre These zu, daß viele entweder praktisch oder theoretisch tonangebende Akteure die nicht gemeisterten Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung ausblenden, indem sie entweder in der Unterwerfung unter die Verhältnisse sie sich (»realistisch«) imaginär als »ihre« aneignen oder in subjektiven und kulturellen Verausgabungen überspielen. Insofern erinnert das manifeste gesellschaftliche Bewußtsein an den Neurotiker, der nicht einfach nur Probleme »hat«, sondern zudem das Meta-Problem, die Bearbeitung der Probleme nicht als Perspektive wahrzunehmen und wahr zu machen, und der durch verschiedenstes Agieren praktisch diese Bearbeitung vertagt und versäumt.