Enzensberger, Christian 1977: Literatur und Interesse. München
Enzensberger, Christian 1981: Literatur und Interesse. Zweite, fortgeschriebene Fassung. Frankf. M.
Ein allgemeiner Gehalt von Literatur ist die Steigerung der Erlebtheit von Geschehnissen über alles wirklich Erlebbare hinaus. Das an der Literatur Genossene wird wirklicher als die Wirklichkeit, das Erdichtete intensiver als das Reale. „Nicht die beschriebenen Sachen werden in der literarischen Bearbeitung deutlicher, klarer, einfacher über- und durchschau-bar, sondern ihre E r l e b t h e i t wird über alles real Erlebbare gehoben, sie werden existenziell d u r c h g ä n g i g beziehbar gemacht, und nur in d i e s e r illusionären Qualität sind sie den wirklich erfahrenen überlegen“ (Enzensberger 1981, 111). „Dadurch, aber nur in dieser Hinsicht, werden sie w i r k l i c h e r als die Wirklichkeit: und so erklärt sich auch die merkwürdige und oft bezeugte Erfahrung, daß man das Erdichtete intensiver erleben kann als ein reales Geschehnis… Die Literatur verwandelt ihre Abbilder in existenziell überzeichnete (hypermimetische) Überabbilder“ (Enzensberger 1977, Bd. 1, 83). Die Erfahrungen in der Literatur „stimmen nicht, weil darin alles stimmt“ (Enzensberger 1981, 139). Die Realität: eine lachhafte Kopie unserer großen Romane – so Arno Schmidt. Gombrowicz zur reinen Poesie: „Zucker eignet sich zum Süßen des Kaffees, nicht aber dazu, mit dem Löffel vom Teller gegessen zu werden wie Grütze. An der reinen, in Versen geschriebenen Poesie quält mich das Übermaß; das Übermaß an Poesie, das Übermaß an poetischen Wörtern, das Übermaß an Metaphern, das Übermaß der Sublimierung, endlich das Übermaß der Kondensierung und der Säuberung jeglicher antipoetischer Elemente – Gedichte gleichen derart einem chemischen Produkt.“
Literatur kann Sinnlosigkeit nicht adäquat wiedergeben. „Sie hat dies zwar i n h a l t l i c h in der Moderne unentwegt versucht – frühe Beispiele sind der Chandos-Brief, Prufrock oder Malte Laurids Brigge – aber jedesmal haben sich darin durch f o r m a l e Sinnkonsistenz die poetische ‚Notwendigkeit’ und der ‚tiefere’ Sinn wieder eingenistet…“ (Enzensberger 1981, 71).
Die formale Struktur des Kunstwerks umfaßt, übergreift und subsumiert ihren sogenannten Inhalt qua Zusammenfügung der Elemente in „ihrem Sosein und in ihrer Anordnung sowie sie sind, und aufeinander, wie zu den anderen Elementen und aufs Ganze, bedeutungshaft bezogen – also wieder zu eben jener Struktur angeordnet, die ich in meiner eigenen Existenz dauernd vermisse.“ (Enzensberger 1977, 94). Kunst „holt sich mittels der Form eine Überprüfbarkeit zurück; aber nicht an der Erfahrungswirklichkeit, sondern immer nur innerhalb ihrer selbst“ (Enzensberger 1981, 289).
Es wird der jeweilige Stil identifiziert als nichtgewaltsam diese Stimmigkeit artikulierend, in der Literatur „eine in sich stimmige und kommensurable Schreibweise, deren einzelne Teile dauernd aufeinander bezogen und interpretierbar … sind“. Dem Leser gegenüber erscheint so in gelingender Kunst stets eine „Erfahrungstotalität, die berühmte ‚Welt’ des Gedichts oder Romans, nie als bloßer nur sich selbst meinender Ausschnitt… Literatur versetzt so ihren Leser in ein vermeintliches Verhältnis, das sonst nirgends vorkommt, nämlich in die des totalen Betrachters, der sich stimmig zur Welt verhält“ (Enzensberger 1977, 73).
Gegenüber einer dem Individuum trotz aller gedanklichen bis ideologischen Aufbereitung dennoch disparat, undurchschaubar und kontingent anmutenden Wirk¬lichkeit stiftet Kunstgenuß – Christian Enzensbergers Ästhetik (1977 bzw. 1981) zufolge – eine erlebbare sinnfällige oder doch zumindest bedeutungshafte Bezogenheit aller Teile des Kunstwerks untereinander sowie auf ihr Ganzes. Alle Details stehen in einem quasiursächlichen und quasifinalen teleologischen Verhältnis einsichtiger Notwendigkeit zuein¬ander. Der sich an die ästhetische Form heftende Sinn überschreibt die inhaltlich annoncierte »Problemdarstellung«. Die Kunstwerke mögen sinnlos erscheinen, ihr Sinn besteht in ihrer Abgeschlossenheit und Stimmigkeit. Ästhetische Produkte ermöglichen die Selbstwahrnehmung des Individuums als »reiches Subjekt«, kann es doch vorzugsweise an ihnen vieles unterscheiden und verbinden in seiner Kennerschaft und in seinem Gespür für den die jeweilige ästhetische »Einheit« arrangierenden Stil. Das Subjekt genießt das Zusammenspiel seiner Vermögen Einbildungskraft und Verstand. Es genießt weniger die »Botschaften« als die Funktion seiner durch die ästhetischen Objekte affizierten Vermögen. Im Genuß des ästhetischen Produkts konstellieren sich Sinne und Gedanken zu einem »Gewebe«, das mißverstanden wäre als Schleier, hinter dem sich die Wahrheit aufhält (Barthes 1974/94). Genossen wird das ständige »Flechten« in und mit der Polyvalenz der Symbole. Die »Sprachmusik« (ebd.) läßt sich durch keine Instanz und keine inhaltliche Referenz mehr weder erlauben noch verbieten und stützt sich allein auf ihr eigenes Erklingen. Nicht das Fehlen inhaltlicher Referenzen wird damit behauptet. Ihr Vorkommen findet sein Maß im Gelingen der ästhetischen Gestalt. Sie muß nicht als harmonisch vorgestellt werden. Gerade die zunächst erscheinende Kompli¬ziertheit fordert den ästhetischen Genuß heraus, durch alle Zerrissenheit hindurch doch noch so etwas wie eine Verdichtung zu (emp)finden - im »paradoxen Versuch«, »am Gebilde noch durch seinen Abbruch zu bauen« (Benjamin 1/87). Mit den in der ideologischen Synthetisierungsarbeit anfallenden Lücken, Brüchen und Verschiebungen gewinnen die ästhetische Produktion und der ästhetische Genuß ihren Stoff. Vom ästhetischen Standpunkt erscheint die Gewaltsamkeit der Ideologie als mutwilliger Irrwitz der Ratio, dem eine Verstandes-, Sinnes- und Einbildungskräfte integrierende Weise der Weltaneignung entgegenzutreten habe. Operiert die Ideologie schon mit dekontextualisierten Gedankenabstrakta, so findet sich dies in der ästhe¬tischen Sphäre kritisiert und gesteigert zugleich. Die in der ideologischen Perspektive störenden Widersprüche und Lücken verwandeln sich zu ästhetischen Gelegenheiten einer »Verfremdung der Dinge und der Kom¬plizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozeß ein Ziel in sich und muß verlängert werden« (Sklovskij 1966/14).
(Auszug aus Meinhard Creydt: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M. 2000, S. 330f.).
Der Leser hat es immer schon gewußt
Zwei Thesen für ein Streitgespräch / Von Christian Enzensberger
Eine Vorgeschichte. Nach zwanzig Jahren Literatur, gelesen, gelehrt, geschrieben, ein wachsendes Gefühl, schließlich die unabweisliche Feststellung: Du bist auf etwas hereingefallen, was du nicht bezeichnen kannst. Somit gezwungen zum Entschluß zu fragen: nicht was ich von der Literatur gern hätte, nicht was beim Lesen / Schreiben passieren soll, sondern was dabei passiert. Und daraus also jetzt diese “funktionale Ästhetik”, will sagen, eine Theorie darüber, wozu die Literatur dem Leser / Autor dient und wozu sie gesellschaftlich gut ist.
Der Ausgangspunkt abstrakt formuliert, denn im wirklichen Leben äußert er sich nur als Jammer, meistens schon verstummt. In herrschendem Bewußtsein, das heißt unserem, ist ständig anwesend, diffus oder akut, immer abrufbar, ein Sinndefizit. Seine formalen Kennzeichen sind ein disparates, unbegründbares Nach- und Nebeneinander von Erlebnissen und Handlungen, ihre Nichtbezogenheit aufeinander und auf ein Allgemeines, eine schlimme Beliebigkeit und Funktionsunsicherheit des eigenen Tuns, Bedeutungslosigkeit und Unsinnigkeit des Erleidens. Nicht weiter originell, eher schon ein Gemeinplatz. Kommt woher? Aus unserem kaputten gesellschaftlichen Verhältnis. Und dieses? Nicht nur aus dem Kapitalismus. Seine andere Quelle, ungern wahrgehabt, auch sie kapitalismusproduziert und -produzierend, liegt im täglich neu wahrgenommenen Eigeninteresse unser selbst, der blinden Nutznießung (mindestens) von Unterdrückung, der sinnzerstörenden und unbewußten Mittrampelei nach unten, auch (oft gerade) beim Anschein des Gegenteils.
Auf der anderen Seite ein Bereich, in dem diese Kennzeichen fehlen. Wenn dort sich einer beschäftigt, “frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen”, dann hat diese Handlung Notwendigkeit, Bezogenheit auf alle anderen Handlungen, die Pfropfreiser heißen etwas, sie „zu bringen” bedeutet. Wenn derselbe Eduard (ja, es sind die “Wahlverwandtschaften”) ein Feuerwerk veranstaltet, dann ist das seine Liebe zu Ottilie, wenn er ein Glas mit den Initialen E & O hochwirft, geht es natürlich nicht entzwei, und später natürlich doch, und sein Kind mit Charlotte hat die Gestalt vom Hauptmann und die Augen von Ottilie (siehe die “Pfropfreiser”). Ein starkes Stück. Aber so verhält sich das doch dort, alles ist bezogen, alles bedeutet, alles heißt, alles ist (wieder ein Gemeinplatz) interpretierbar: eine Sinnmaschine. Und dies wohlgemerkt nicht nur in der Traum-, Antizipations-, Wunsch-, sondern in aller Literatur: auch “Warten auf Godot” ist eine solche formale Sinnmaschine, auch “Die Gewehre der Frau Carrar”, auch der neuestens hochgejubelte arme Charlie Bukowski.
Einfacher Schluß. In der Literatur herrscht eine Struktur von Handeln und Erleben, die keine reale Entsprechung hat, die sich unsereins nur wünschen kann und eben auch wünscht: und so geht er hin und erlebt lesend, oder erfindet schreibend, das Gewünschte. Und was ist dabei aus dem geworden, was den Sinn kaputtmacht, aus dem vom Leser / Schreiber wahrgenommenen Interesse? Es ist entweder folgenlos, aber meistens ist es weg: unbeschwerter Künstler, oder aber der schmerzlich Verstehende, mutig sich Aussetzende, kritisch engagierte Verantwortungsvolle. Leider ist er gewöhnlich vor 11 Uhr früh noch nicht recht wach. Nun, wir sind alle Menschen.
Das heißt, Literatur ist in jedem Fall Wunscherfüllung bei gewahrtem Eigeninteresse, kann mittels dessen Wegzauberung immer genau eintreten ins (historisch wechselnde und rekonstruierbare) herrschende Sinndefizit, wird darum geschrieben, darum gelesen, darum interpretiert. Sie dient der Kompensation dessen, was uns gesellschaftlich fehlt, weil wir es täglich zerstören; und ist mithin komplementär zur Erfahrungswirklichkeit, ihr Anderes, und unanwendbar auf diese. Daraus folgt verschiedenes, darunter vermutlich am stärksten umstritten –
Zwei Thesen:
1. Die Literatur kann nicht „abbilden”, weder das “Wesen” für die Frömmler noch die “Wirklichkeit” für die Stubenhocker, noch sich selbst für die Strukturalisten, noch die “vorausweisenden Tendenzen” und die “gesellschaftliche Praxis” für Lukács, noch die “Wahrheit des unverdinglichten Subjekts” für Adorno: kann es nicht, weil sie es nicht will, oder bestenfalls vermeintlich. Was sie will, ist der Sinn zugleich mit dem Interesse, Der Fall ist aber unglaubhaft: und nur damit wir ihn trotzdem glauben können, muß sie “realistisch” und “wahrscheinlich” werden. Druckt also, als vorgefundenes Gedicht, die Fußballmannschaft nach: die reine, bescheidene Abbildung. Und was bekommt die, augenblicklich? Einen Sinn bekommt sie, der in etwa lauten könnte: Entfremdet ist der Mensch von heute, / Aber dafür kann er nichts. Tableau, lebhafter Beifall.
2. Die Literatur kann nichts “bewirken”, am wenigsten was sie am meisten hofft: daß wir endlich einmal aufstehn und was tun. Sie bleibt ja selber sitzen. Wenn sie Aufklärung sein will, kritische Information, Rekrutierung, Revolte: warum sucht sie sich dazu eine Struktur, die mein Sinndefizit sättigt statt schärft? Wenn soziales Lern- und Rollenspiel: warum bietet sie mir Rollen an, die sinnverfälscht und kostenlos sind? Wenn sie für die Unterdrückten sprechen will, warum sagt sie dann nichts gegen ihren Leser, mich – um vom Autor zu schweigen? Wenn sie mir mein Leiden geigen will, warum gibt sie ihm Sinn? Und dies alles, anders als die Theorie, unweigerlich, aus Kunstvorschrift? Weil wir das von ihr so haben wollen, und die Illusion von ihrer Wahrheitstreue und von ihrer “Wirkung” noch dazu. Ein Bedürfnis, seine Befriedigung. Das kommt ja öfters einmal vor: hier eben auch.
Der Leser hat es immer schon gewußt. Es hat bis jetzt nur nirgends gestanden. Jetzt steht es wo. Insofern eine neue Lage.