Beliebt ist es, Ungleichheiten in modernen westlichen Gesellschaften als Ungerechtigkeit anzusehen, an der jede(r) eigentlich Anstoß nehmen müsse. Wer so vorgeht, blendet die weit verbreiteten Auffassungen aus, die Ungleichheiten nicht als ungerecht erachten. Zudem ist vom gegenwärtig dominanten Bewusstsein auf die Frage „Bist Du für Gerechtigkeit?“ zwar gewiss kein „nein“ zu erwarten, wohl aber die Wertschätzung für viele andere Belange. Sie sorgen dafür, dass Gerechtigkeit nicht im Zentrum steht. Viele, die meinen, mit Gerechtigkeit über das zentrale Kriterium zur Beurteilung der Gesellschaft zu verfügen, legen sich keine Rechenschaft davon ab. Ihre Schlüsselattitüde läuft ins Leere.
(erschien in Telepolis am 20.6.2020 und in anderer Variante in: Streifzüge, Nr. 78, Wien)