(erschienen: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik. Jg. 39, H. 2, 2017)
Im Gespräch mit…
Die Gespräche bringen kurz die wissenschaftliche Biographie interessanter Philosophen mit ihren Hauptarbeitsgebieten in Verbindung. Sie greifen ein zentrales Thema heraus und spitzen dies auf seine aktuelle Bildungsbedeutsamkeit hin zu. Durch Nachfragen wird dieses Thema dann möglichst knapp und deutlich erklärt und beleuchtet. Die Fragen stellte Volker Steenblock.
Karl Marx hat im Zusammenhang mit der Kultur von den „Nebelbildungen im Gehirn“ gesprochen, diese erscheinen als „Überbau“ letztinstanzlich von einer sozio-ökonomischen „Basis“ abhängig, „das Ideelle“ ist „nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ (MEW 23, 27).
Mit der räumlichen Überbau-Metapher und der Redeweise von Materiellen und Ideellem hat sich Marx in seiner Selbstkommentierung keinen Gefallen getan. Seine Kapitalismustheorie ist nicht nur ökonomisch und ökonomiekritisch. Sie analysiert auch die Auffassungen just des Alltagsbewusstsein, das die kapitalistische Wirtschaft als unumgänglich akzeptiert oder begrüßt („Wir steigern das Bruttosozialprodukt.“). Trotz der Vorherrschaft affirmativer Urteile über die kapitalistische Wirtschaftsweise bleibt eine Ahnung von dem mit ihr einhergehenden beschädigten bzw. ungelebten Leben. Die Betroffenen bewältigen sie in den Sphären der Moral, der Kultur, der Religion und Philosophie gleichsam verschoben und imaginär. Allerdings wollen die sonntäglichen Sphären menschlicher Autonomie vom Alltag alsbald wenig wissen und erheben sich über ihn. Die verschiedenen Spielarten der Kultur verarbeiten das ihr zugrundeliegende problematische Bewusstsein weiter, sublimieren es und verselbständigen sich auf seiner Grundlage ihm gegenüber scheinbar. Diesen Prozess treibt ein Drang des affirmativen Bewusstsein an. Es sucht nach (s)einer Gegenwart, in der keine heteronomen Sachzwänge das Einverständnis trüben. Es versteht sich allererst dann als frei, wenn es meint, im anderen bei sich sein zu können. Kultur gilt ihm als Autonomiesphäre par excellence. Mir geht es nicht nur um Kulturanalyse im Kontext dieser mehrstufigen Erfahrungsverarbeitung. Auch das Verhältnis zwischen Alltag und Kultur wird zum Thema. Der kapitalismus- sowie modernespezifisch verursachte Mangel an Entfaltung von Sinnen, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen im Alltag bleibt unbegriffen. Auf dieser Grundlage wird die kulturelle Überkompensation dieses Mangels angeboten und nachgefragt. Im Alltagsleben dominieren instrumentelle und funktionale Aufmerksamkeiten sowie die verschleißende Verausgabung. Demgegenüber kultivieren kulturelle Sondersphären getrennt vom Alltag Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen treibhausartig. Die Injektion von kleinen Dosen dieser Kultur in den Alltag ändert so viel an ihm wie das Musikhören per Kopfhörer am Eingepferchtsein in den überfüllen Öffentlichen Personen„nah“verkehr. „Kultur nach dem Kapitalismus“ macht die Entwicklung sozial sinnvoller und zugleich die Individuen erfüllender Sinne und Fähigkeiten und Reflexionsvermögen zum Maßstab ihres Gelingens. Statt Bruttosozialprodukt also … Psychosozialprodukt.
In den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“, Vorarbeiten zum „Kapital“, schreibt Marx an einer Stelle (MEW 42, S. 395), die Sie zitieren: „…daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alle dem, wo geschloßne Gestalt, Form, und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornirten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt läßt“. Marx spricht die Moderne also bereits an und Sie selbst wollen eine Analyse der Gegenwart als Kapitalismus- und Modernetheorie betreiben. Woher gewinnen Sie diese Modernetheorie und welche Rolle spielt sie in Ihren Überlegungen?
Mir geht es in diesem Zusammenhang allein um ein Moment der Moderne, die objektive Zivilisation. „Moderne“ heißt für sie: Freisetzung von naturwissenschaftlichen, technischen, organisatorischen und administrativen Logiken aus ihrer Einbettung in soziale, religiöse und kulturelle „Welten“. Leistung, Effizienz und Kalkulierbarkeit lassen sich dann optimieren. Die damit verbundenen positiven Effekten sind beachtlich. Zugleich ist es ein für die Mentalitäten und die Gestaltung der Gesellschaft problematischer Entwicklungspfad, den die moderne Gesellschaft einschlägt – mit ihrem Naturverständnis und ihrer Technik, mit der Zweck-Mittel-Rationalität, mit der hohen Arbeitsteilung und mit den Eigenlogiken ausdifferenzierter Gesellschaftsbereiche (wie z. B. dem Schulwesen), mit weiträumiger Vernetzung und modernen Märkten. Viele Sozialwissenschaftler subsumieren den Kapitalismus der Moderne. Umgekehrt kennen viele Kapitalismuskritiker nur (oder immerhin) Probleme des Kapitalismus oder den Kapitalismus als Problem. Demgegenüber geht es mir um die Unterschiede zwischen modernespezifischen und kapitalismusspezifischen Strukturen und Problemen sowie um die Zusammenhänge zwischen kapitalistischem Wirtschaften und der modernen objektiven Zivilisation. Gewiss übergreift die kapitalistische Ökonomie gegenwärtig die modernen Gesellschaftsstrukturen. Insofern bleibt es notwendig zu fragen, inwieweit es sich bei als modernespezifisch erscheinenden Problemen um kapitalismusspezifische Problem in pseudonymer Gestalt handelt. Erst die Überwindung kapitalistischer Strukturen ermöglicht die gesellschaftliche Arbeit an der Einhegung problematischer moderner Strukturen. Aber selbst nach einer Überwindung kapitalistischer Logiken hätte „die Gesellschaft“ mit modernespezifischen Problemen zu tun. Bei vielen Linken fehlte und fehlt es an Problembewusstsein dafür.
Sie leben als Soziologe und Psychologe in Berlin und haben aktuell ein Buch geschrieben, das den interessanten Titel trägt: „Wie der Kapitalismus unnötig werden kann“ (1) …
Wir finden eine breite Entmutigung und „Desillusionierung“ in Bezug auf eine umfassende Gesellschaftsveränderung vor. Mein Band bietet erstens ein Positivszenario jener sozialen Kräfte, die in der gegenwärtigen Gesellschaft entstehen und dazu beitragen können, das kapitalistische Geschäfts- und Erwerbsleben zu überwinden. Es existieren mehr Ansätze, als der weit verbreitete depressive Blick wahrzunehmen vermag. Zweitens analysiere ich die für die nachkapitalistische Gesellschaft notwendigen Gesellschaftsstrukturen. Ohne diese beiden Leistungen bleibt Gesellschaftskritik zahn- und perspektivlos. Zum Problem wird nicht nur die Übermacht, sondern auch die Daseinsberechtigung der kapitalistischen Strukturen und bürgerlichen Lebensweise. Sie lassen sich langfristig nicht voluntaristisch außer Kraft setzen. Sie können nur unnötig werden. Das Thema meines Bandes ist die dafür erforderliche komplex gegliederte Vergesellschaftung bzw. soziale Synthesis. Im Unterschied zur Naivität von Weltverbesserern analysiere ich die Probleme, die sich einer an ‚Praxis’ orientierten Gesellschaft mit ihrem Stoffwechsel mit der Natur, ihrem innergesellschaftlichen Stoffwechsel sowie mit ihrer Selbstgestaltung und Selbstregulation stellen.
Mein Band plädiert für eine paradigmatische Umorientierung: Mit dem Leitbild eines im Sinne von ‚Praxis? verstandenen guten Lebens lässt sich vergegenwärtigen, wie sich die menschlichen Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen in bzw. an sieben verschiedenen Momenten entwickeln. Es handelt sich um das Arbeiten, die Gegenstände i. w. S. (z. B. die Stadtbauwelt), die Sozialbeziehungen, die Objektivität der Technologien, Organisationen und Infrastrukturen, die gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen, das individuelle Selbstverhältnis und die Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder. Die Wechselbeziehungen und Rückkopplungen in diesem Siebeneck kommen in den Blick. Das Gelingen von ‚Praxis’ als Zielgut der nachkapitalistischen Gesellschaft wirkt zentrifugal gegenüber der Ausdifferenzierung von Paralleluniversen. Nicht länger dominieren solch unterkomplexe Informationskonzentrate wie Preise. Die Bilanzen von Unternehmen und Organisationen messen ihr Ge- oder Misslingen vorrangig an qualitativen Indikatoren. Für den Inhalt des individuellen und gesellschaftlichen, des subjektiven und objektiven Reichtums werden Maßverhältnisse zentral. Sie beziehen sich auf die verschiedenen, im Sinne von ‚Praxis’ jeweils konkret bestimmbaren Einheiten von Qualität und Quantität.
(1) Meinhard Creydt, Wie der Kapitalismus unnötig werden kann, Westfälisches Dampfboot: Münster 2014.