(erschien in: Sozialismus. H. 1/2016, 43. Jg.)
1) Die Zeitdiagnose
2) Vier Motive für Gaulands Plädoyer für Familie, Tradition, Religion u. ä.
3) Kritischer Exkurs zur Werte- und Sozialintegration
4) Die Gauland zufolge notwendige Orientierung
5) Abgrenzung nach rechts
6) Gaulands Prognose
Gern wird gegenwärtig die AfD als Rassistenpartei und Teil des „dunklen Deutschlands“ (Gauck) tituliert. Fraglich bleibt, wie weit es trägt, wenn man seinen Gegner von politisch missliebigen extremen Konsequenzen her „dingfest“ macht und skandalisiert. Anders geht vor, wer die Argumente, aus denen so etwas wie ein „AfD-Diskurs“ sich zusammensetzt, genauer unter die Lupe nimmt und ihn in seinen immanenten „Stärken“ wahrzunehmen vermag. Um einen Beitrag dazu zu leisten, befasse ich mich mit einigen zentralen Aussagen von Alexander Gaulands Buch „Anleitung zum Konservativsein“. Es erschien 2002 in Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt). Die Zitate von Gauland weise ich mit der Abkürzung G aus.
1) Gaulands Zeitdiagnose zufolge geraten die Widerlager der Ökonomie (Politik, Religion, Familie u. a.) durch „Turbokapitalismus“ und „Globalisierung“ (G 96) ins Hintertreffen. Letztere drohe das „Gleichgewicht“ zwischen „Ordnung und Freiheit“ „zu zerstören“, das im Konzept der sozialen Marktwirtschaft enthalten sei (G 88). „Die Liberalen sehen dem zu und begrüßen es, Konservative wehren sich dagegen … . Unter diesem Blickwinkel ist Attac eher eine konservative als eine linke oder gar revolutionäre Organisation“ (Ebd.). Wer Modernisierung umstandslos bejahe, wiederhole „den Marx’schen Fehler, die Entfesselung der Produktivkräfte für das Gute an sich zu halten“ (Ebd.). Die Erosion der externen Bedingungen des Kapitalismus werde letztlich auch für ihn selbst zum Problem. Gauland greift hier das bereits von Schumpeter 1942 formulierte Argument auf, dass „die moderne Industriegesellschaft von Bedingungen abhängig ist, die sie nicht selbst schaffen kann und die auf vorindustriellen Werten und Traditionen beruhen“ (G 73).
2) Gauland begründet mit vier verschiedenen Argumenten, warum ihm Familie, Tradition, nationale Eigenart u. ä. wichtig sind.
Erstens „verkörpern“ Familie, Tradition, nationale Eigenart u. ä. „für den Konservativen einen Wert, dem kein Preis entspricht“ (G 88). Neben dem Eigenwert beeindrucken Gauland die psychischen und sozialintegrativen Positiveffekte von Religion, Familie, Tradition u. ä. „Die Moderne ist nur dann aushaltbar, wenn die Unbehaustheit des Wirtschaftssubjekts eine Ergänzung in der Geborgenheit von Kultur und Geschichte findet“ (G 87). Gauland bezieht sich auf das Unbehagen an der Konkurrenz, am Gegeneinander von Vertragspartnern, an der Brüchigkeit von Kooperation, an der Vereinzelung, an der Unzuverlässigkeit persönlicher Beziehungen. „Geborgenheit“ bieten allerdings auch die Paarbeziehung oder das Emotainment an.
In der Gesellschaft existieren Gauland zufolge zwei verschiedene Gruppen. Eine Minderheit, „die Funktionseliten“, könne „auch ohne Halt an vorindustriellen oder ökonomisch überlebten Strukturen leben“ (G 86). Anders die Mehrheit der Bevölkerung. Aus dem Gegensatz zwischen diesen beiden Gruppen sei „eine globalisierte Gesellschaft in der Gefahr, zu zerfallen und sich in Kultur- und Verteilungskämpfen aufzulösen“ (G 87). Kandidaten dafür, diese Gefahren aufzuhalten, müssten einiges leisten. Sie sollten „der Gesellschaft besonders in Krisenzeiten Halt geben, wirtschaftliche und soziale Defizite überspielen und den Verteilungskampf moderieren“ (G 80f.).
Drittens: Gauland zufolge sind „Familie, Heimat, Nationen … konservative Gegenwelten zur Ökonomie, die man erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe“ (G 69). In Bezug auf das Phänomen der entfesselten Ökonomie heißt es: „die Familie ist neben dem Heimatbegriff, der nationalen Identität, der Kunst und Religion das kräftigste Widerlager, sein stärkster Gegner“ (G 74).
Gauland sieht
- in den Bemühungen um die Sonntagsruhe die Religion als Gegenkraft gegen die Ökonomisierung (G 72),
- in der Familie einen Gegensatz „zu den modernen Kultbegriffen Flexibilität und Individualisierung“ (G 74),
- die religiöse Annahme „Der Mensch ist unverfügbar, ein Geschöpf Gottes und deshalb keine Reproduktionsmaschine“ (G 90f.) im Gegensatz zu „Embryonenverbrauch, Genmanipulation, Klonen von Lebewesen und Sterbehilfe“ (Ebd., 90).
Ein viertes Motiv von Gauland dafür, Familie, Heimat, Nation u. ä. wertzuschätzen, resultiert aus zusätzlichen Hintergrundannahmen. Gauland schreibt Familie und Religion eine Kraft zu, die er aus ihrer (von ihm angenommenen) Dauerhaftigkeit erschließt. „Der Widerstand gegen die Desintegration der Gesellschaft kommt nicht von den permissiv-zynischen Spaßeliten, sondern von jenen, die Religion und Traditionen nicht an der Garderobe zur rationalen Wirtschaftsgesellschaft abgeben können, die an jenen Institutionen festhalten wollen und wohl auch müssen, die in den letzten 1000 Jahren funktioniert haben“ (G 69).
Gauland sieht davon ab, dass sowohl die Familie als auch die christliche Religion im Jahre 1000 sich von ihrem Pendant im Jahr 2000 ums Ganze unterscheiden. In der christlichen Religion verschieben sich die Gewicht von der Droh- zur Frohbotschaft. Erst in der Neuzeit hat langsam ein christlicher Glaube an Relevanz gewonnen, demzufolge die Liebe Gottes zu den Individuen im Mittelpunkt steht und nicht ein strafender Gott, der einige wenige auserwählt und die übergroße Mehrheit der Verdammnis überantwortet.
Eine weitere Hintergrundannahme betrifft die Menschennatur. „Die Bewahrung von Traditionen ist deshalb ein Grundprinzip des Konservativismus, da der Mensch für ihn glücksbedürftig und schwach ist“ (G 81). Gauland belässt es nicht dabei, zwischen der hypermobilen Elite der Globalisierung bzw. ihren (relativen) Gewinnern und anderen Schichten zu unterscheiden. Der Mehrheit der Bevölkerung schreibt Gauland eine Schwäche zu, die nicht gesellschaftlichen Ursprungs sei. Gaulands Verhältnis zum Persönlichkeitsideal des Liberalismus ist ambivalent. „Die liberale Vision einer offenen Gesellschaft der Freien und Gleichen, einer Gesellschaft ohne Sinnzentrum, setzt moralisch und ethisch gefestigte Individuen voraus, die die historischen Halteseile religiöser und moralischer Tabus nicht mehr brauchen, um auch in Krisenzeiten ihr inneres Gleichgewicht, ihre Tugendhaftigkeit zu wahren. … Der ideale Bürger jener offenen Gesellschaften ohne substantielle Mitte, ohne eindeutig definierten ethnischen, moralischen, kulturellen oder religiösen Identitätskern ist der starke Renaissancemensch, Nietzsches Übermensch, der gut ertragen kann, dass Gott oder die Nation oder die Leitkultur tot sind“ (G 68). Ein solcher Persönlichkeitstypus bleibt minoritär. An den letzten zitierten Satz schließt Gauland mit der Formulierung an: „Doch Staat und Gesellschaft müssen mit den vielen Schwachen zurechtkommen, die Mitte und Halt brauchen, wenn sie überleben sollen“ (Ebd.). Gauland bewundert ein dem Liberalismus zugeschriebenes aristokratisches Moment bei gleichzeitigem Realismus in Bezug auf „diejenigen, die im materiellen Wettstreit hinten liegen, deren Stolz sich nicht aus dem materiellen Erfolg speisen lässt, die anderes brauchen, um Eigenwert und Identität zu entwickeln“, nämlich „Familie, Heimat und Nation“ (G 69). Gaulands Begründung für deren Notwendigkeit ist ambivalent. Zum einen geraten „liberal-demokratische Gesellschaften“ „in die Krise“, wenn ihnen eine solche „verbindliche Mitte“ fehle (G 68). Zum anderen führe nicht nur dies zur Krise, sondern auch der Mangel an Ausnahmetalenten oder die Schwäche der Bevölkerungsmehrheit.
Gegen diese Zusatzannahmen Gaulands lassen sich leicht Tore erzielen. Unverzichtbar bzw. immanent notwendig für seine Argumentation erscheinen diese Annahmen jedoch nicht.
3) Wer von der Sinnstiftung und Geborgenheit durch den christlichen Glauben in früheren Zeiten ausgeht wie Gauland und viele andere, sieht ab von der historischen Veränderung der eschatologischen Erwartung. Sie ist „im Mittelalter … immer mehr mit massiven Ängsten besetzt. Die Furcht, vor Gottes Gericht nicht bestehen zu können, die Furcht zu ewiger Verdammnis in die Hölle zu fahren, ist weit verbreitet“ (Schäufele 2006, 33). „Eine statistische Auswertung nordfranzösischer Predigten des späten Mittelalters ergab, dass Tod und Weltgericht, Hölle und Fegefeuer etwa dreißigmal häufiger behandelt wurden als Himmel und Paradies“ (Ebd., 34). Diese Furcht speist sich aus der „Überzeugung, dass die Zahl der im Endgericht Verdammten weit größer sein werde als die Zahl der Geretteten“ (Ebd.). Die mittelalterliche Theologie ergeht sich in Überlegungen zu der Zahl der Erwählten. „Die große Mehrheit der Menschen werde (Augustinus zufolge – Verf.) als eine ‚massa perditionis? der ewigen Verdammnis anheimfallen. Dementsprechend glaubte etwa auch Thomas von Aquino, dass nur der kleinere Teil der Menschen gerettet würde“ (Ebd., 33). Das vorherrschende Bild Gottes war das eines unnachsichtigen Richters. „Die Idee des Gottes der Liebe ist so revolutionär, dass es Jahrhunderte zu ihrer Durchsetzung bedurfte, dass man noch heute nicht alle Folgerungen daraus zieht und dass ein ununterbrochener Kampf notwendig sein wird, um sie wieder aufleben zu lassen“ (Duquesne 1998, 99).
Der bei Gauland und vielen anderen anzutreffende nostalgische Blick auf vormoderne Gemeinschaften ignoriert die in ihnen existierende individuelle Vorteilsnahme, den Neid und die Verdrängung leistungsschwacher und aus anderen Motiven ausgegrenzter Mitmenschen. Foster (1960, 174ff.) beschreibt die für frühere Dörfer typischen Strei¬tigkeiten. Sie entstehen vor dem Hintergrund der sich vergrößernden Kluft zwi¬schen Nahrungsmitteln und dem Bevölkerungswachs-tum. Weber-Kellermann (1987, 220ff., 265ff.) zeigt die alles andere als idylli¬schen Seiten des Umgangs mit Kindern, Ehefrau und Alten in der früheren Familie. Aus Jahrhunderten, die heute als Hochzeiten der traditionellen Familie gelten, kennen wir skeptische Auskünfte über sie. In Karl Philip Moritz? Roman „Anton Reiser“ (1785) heißt es: „Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebands. … Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden“ (Moritz 2001, 12f.). Und im 19. Jahrhundert heißt es: „Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältnis von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus“ (Nietzsche 7, 379). Insgesamt lebten „selbst in den Hochzeiten der Großfamilie lediglich 35% der Bevölkerung in eben diesen großen familiären Strukturen. Den überwiegenden Anteil machten Soldaten, Lehrerinnen (die, wie alle besitzlosen Stände, über Jahrhunderte hinweg nicht heiraten durften!), Alleinstehende, Dienstboten etc. aus“ (Mary 2008, 140). Die Liebe zum Kind war in Zeiten hoher Kindersterblichkeit und großer Kinderzahl etwas deutlich anderes als heute. Die vormoderne und die moderne Familie unterscheiden sich ums Ganze. Erst in der modernen Familie existieren Häuslichkeit, romantische Partnerwahl, Gattenliebe und Intimisierung der Eltern/Kind-Beziehung. Erst all dies ermöglicht die Emotionalisierung des familiären Lebens.
Die Bewunderer von Familien- und Sozialintegration sehen von dem Gegensatz zwischen beiden ab. Nach Lawrence Stone (1979, 170) bringt der nichtadlige vormoderne Mensch Wärme und intime Beziehungen zwischen einzelnen Menschen nur begrenzt auf, streut seine Affekte über Familie und Nachbarn der „buntgescheckten Gemeinschaft“ der vorindustriellen Zeit, misstraut Einzelnen, vertraut eher Gruppen. Die vorindustriellen „Menschen bewahren sich eine Menge frei verfügbarer Affektivität, die sich den Zufällen des Lebens entsprechend entlud“ (Aries 1980, 600). Der Bürger konzentriert stattdessen seine Affekte auf wenige Nahestehende, vertraut eher Einzelnen. Die Zwischenmenschlichkeit entsteht familiär als Zuwachs an emotionalen und intimen Beziehungen in einem Innenraum, während in der Außenwelt die Zahl der unpersönlichen Beziehungen steigt. Es scheint so, „dass Familiensinn und Sozialität nicht vereinbar waren und eins sich nur auf Kosten des anderen entwickeln konnte. … Es sieht ganz so aus, als habe die moderne Familie nach dem Niedergang der alten gesellschaftlichen Beziehungen deren Platz eingenommen, um den Menschen eine unerträgliche moralische Einsamkeit zu ersparen“ (Aries 1975, 558).
Konservative werfen Linken gern Utopismus vor. Dass Konservative ihre Wunschvorstellungen nicht in die Zukunft projizieren, stimmt wohl. Die Vergangenheit sei es, in der das Gute, Wahre und Schöne existiert habe.
Gaulands Wertschätzung der Sozial- und Werteintegration entspricht einer weit verbreiteten Argumentation.
((Die im Manuskript nun folgende Passage über die Gegenwart der „Sozial- und Werteintegration“ (nachdem von deren Vergangenheit die Rede war) wurde von der Redaktion weggelassen. Sie findet sich im Anschluss an den Artikel unten.))
Das Plädoyer für „gemeinsam geteilte soziale Werte und Normen“ sieht ab von der Spannung zwischen den inhaltlich verschiedenen Werten (z. B. Freiheit und Brüderlichkeit). Wer eine früher vorhandene große Werteintegration annimmt, übergeht den zu früheren Zeiten viel stärker ausgeprägten Unterschied zwischen den Werten der Gebildeten und der breiten Masse. „In vormodernen Gesellschaften war die Masse der Bevölkerung zum größten Teil weit vom unmittelbaren Einfluss des zentralen Wertsystems entfernt. Sie haben ihre eigenen Wertsysteme besessen, die gelegentlich und fragmentarisch mit dem zentralen Wertsystem in Verbindung traten. … In den modernen Gesellschaften (ist) das zentrale Wertsystem viel tiefer in die Herzen ihrer Mitglieder eingedrungen als das jemals in irgendeiner früheren Gesellschaft gelungen ist“ (Shils 1975, 10-12).
4) Gauland plädiert für die Stärkung von Tradition, Religion, Heimat, Familie u. ä., um die kapitalistische Modernisierung einzuhegen. Er formuliert diesen Gegensatz in verschiedenen Variationen. Eine schwache Version besteht darin, „durch konservative Widerlager zur Modernisierung den Kulturschock abzumildern und Gewöhnungsprozesse möglich zu machen.“ (G 85f.). Schon im nächsten Satz spricht sich Gauland für eine stärkere Version aus: „Da Belastungen durch Traditionsverschleiß zu den zwangsläufigen kulturellen Nebenfolgen des Fortschritts gehören, ist der schonende Umgang mit Traditionen die vornehmste konservative Aufgabe“ (G 86). „Der schonende Umgang mit Traditionen“ steht zur kapitalistischen Modernisierung in einem anderen Verhältnis als das Anliegen, „Kulturschocks abzumildern“ und „Gewöhnungsprozesse möglich zu machen“ (Ebd.). Gauland plädiert nun für ein Gleichgewicht zwischen der kapitalistischen Modernisierung und der Beachtung personaler Integrität. „Da unsere individuellen wie institutionellen Kapazitäten zur Verarbeitung von Innovationen begrenzt sind, ist eine Verlangsamung des innovativen Prozesses notwendig. Es muss ihm sein Automatismus genommen, er muss zivilisiert und gesellschaftlich integriert werden“ (Ebd.).
Gauland spricht sich im Fall der Familienpolitik und der Einwanderung für einen Verzicht auf ein Maximum kapitalistischer Modernisierung im Interesse eines gesellschaftlichen Optimums aus.
Auch in Bezug auf die Familienpolitik heißt es: Es „muss die Politik endlich dazu kommen, die Leistung in der ‚Familienphase? ähnlich zu honorieren wie die Erwerbstätigkeit, die dann auch ungeschmälert in die Rentenversicherung einginge“ (G 74). Gauland konkretisiert sein Gleichgewichtsdenken: „Nur wenn Familienpolitik künftig ebenso kraftvoll wie die der Familie widrigen Kräfte des Marktes agiert, hat sie eine Chance, die gesellschaftliche Basis jenes Wirtschaften zu bewahren, das Institutionen zerstört, Traditionen aufzehrt und Werte verbraucht, die es nicht ersetzen kann“ (Ebd., 74). Den Utopismus eines Denkens, das unter Voraussetzung und Affirmation des Kapitalismus seine Dynamik und Energie nutzen und ihn zügeln will, teilt Gauland mit vielen anderen – von „rechts“ bis „links“.
Bei anderen Politikfeldern verschiebt sich das Verhältnis zwischen kapitalistischer Modernisierung und Tradition, Heimat, Religion und Familie noch weiter zu dieser Seite. „Einwanderung“ habe „kulturelle Grenzen, die wichtiger sind als wirtschaftliche und sozialpolitische Notwendigkeiten“ (G 91). Eine ähnliche Schwerpunktverlagerung betrifft auch die Agrarpolitik i. w. S.: „Dass die industrielle Landwirtschaft nicht nur den Verbraucher schädigt, sondern auch Mitgeschöpfe einer sinnlosen Massentötung überantwortet, sind klassische konservative Positionen“ (G 91).
Gauland formuliert einen prinzipiellen Vorbehalt gegen alle Veränderungen. Ihm zufolge ist es „die konservative Position Burkes, die in die von Odo Marquardt formulierte Regel einmündet: ‚Wer verändern will, trägt die Beweislast, sonst bleibt alles beim alten?“ (G 90). Gauland zufolge gibt es so etwas wie ein Menschenrecht auf ungestörte Kontinuität. Von diesem Recht halten z. B. diejenigen nichts, die die ggw. Fluchtbewegung nach Deutschland aus dem Motiv begrüßen, mit den neuen Mitbürgern verändere sich das Land zum Positiven.
Gauland formuliert den gemeinsamen Nenner der verschiedenen Varianten von Konservatismus: „Konservativ sein heißt nicht, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren und alles zu tun, was man tun kann, konservativ sein heißt bewahren, verlangsamen, im Gleichgewicht halten und dem Zeitgeist widerstehen. Konservativ sein heißt, wie es Edmund Burke formulierte, den Sophisten, Ökonomisten und Rechenmeistern widersprechen, die die Schönheiten der Erde in Mark und Pfennig ummünzen. … Noch nie seit den Tagen von Burke und Tocqueville war es so notwendig, den Fortschritt zu thematisieren und seine Kosten gerecht zu bilanzieren“ (G 91).
Im Grunde teilt Gauland von konservativer Seite aus die Habermas?sche Perspektive, die „Lebenswelt“ gegen das ökonomische „System“ stark zu machen, nicht um es selbst zu verändern, sondern um ihm Schranken zu setzen. „Wir müssen nach neuen Kräften suchen, die das Boot im Gleichgewicht halten, die den Markt einhegen, die Ökonomie zivilisieren. Es gehört zu den Konstanten historischer Erfahrung, dass die Befriedigung ökonomischer Bedürfnisse für eine im Gleichgewicht befindliche Gesellschaft nicht ausreichend ist. Der neoliberale Traum funktioniert nur dann, wenn der Mensch keine metaökonomischen Bedürfnisse hat“ (G 68). „Konservative müssen auf dem Eigenwert des Politischen einem schrankenlosen Markt gegenüber beharren, müssen Staat und Gesellschaft gegen die Wirtschaft und eine unsoziale Individualisierung stärken“ (G 92).
5) Gauland grenzt sich 2002 nach rechts ab. Das „westliche Gleichgewichtsdenken“ biete „ausreichend Hilfe, sich der Herausforderung des Zerfalls durch die Entfesselung der Produktivkräfte und der ethischen Problematik einer konsumorientierten Leistungsgesellschaft zu stellen. Dazu bedarf es nicht der Wiedergängerei der ‚Konservativen Revolution?. Über den Umgang mit einer immer gefährdeten Freiheit und gesellschaftlichen Zersetzungsprozessen haben uns Burke und Tocqueville viel mehr gelehrt als die Mystiker einer rassistischen Volksgemeinschaft“ (G 95).
6) Gauland prognostiziert, „in allen Parteien“ sei „künftig“ der Streit zwischen
„zwei kulturellen Milieus“ zu erwarten, einem „liberal individualistischen, das sich für … jede Art von Selbstverwirklichung stark macht, und einem wertkonservativen, das auf einer verbindlichen Identität aus moralischen Prinzipien und abendländischen Traditionen besteht und wirtschaftlichen Notwendigkeiten wie wissenschaftlichen Erfolgen eher skeptisch gegenübersteht“ (G 95f.). „Dabei kann es zu neuen Bündnissen zwischen linken Antikapitalisten und rechten europäischen Fundamentalisten kommen, denn Globalisierung und Turbokapitalismus sind beiden suspekt
und das alte Rechts-Links-Schema nicht länger die Wasserscheide zwischen den Lagern“ (G 96).
Zeigen ließ sich in diesem Artikel: Gauland bringt Argumente vor, die auch außerhalb des rechten Spektrums vertreten werden. Dies festzustellen heißt weder Gaulands Denken zu verteidigen noch die von ihm herangezogenen Argumente als „eigentlich rechts“ zu identifizieren. Rechtes Denken ist vielmehr als Mischung und Auswahl, Vereinseitigung und Radikalisierung von Argumenten zu begreifen, die selbst nicht „rechts“ zu sein brauchen. Wer das Denken der AfD begreifen möchte, wird sich für diese Übergänge interessieren.
Literatur:
Aries, Philippe 1975: Geschichte der Kindheit. München
Aries, Philippe 1980: Geschichte des Todes. München
Bruyn, Günter de 1995: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankf. M.
Duquesne, Jacques 1998: Jesus, was für ein Mensch. Ostfildern
Foster, George M. 1960: Interpersonal Relations in Peasant Society. In: Human Organization
Heitmeyer, Wilhelm 1989: „Jugend auf dem Weg nach rechts?“ In: Arbeitshefte – Zeitschrift der Juso-Hochschulgruppen Nr. 84
Heitmeyer, Wilhelm 1992: Interview. In: Freitag 18.12.1992
Heitmeyer, Wilhelm 1992a: Interview. In: Die Zeit, Nr. 43
Heitmeyer, Wilhelm 1993: Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursachen von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralyse. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 2/3
Heitmeyer, Wilhelm 1997: Gibt es eine Radikalisierung des Integrationsproblems? In: Ders. (Hg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankf. M.
Hondrich, Karl Otto 2001: Der Neue Mensch. Frankf. M.
Mary, Michael 2009: Werte im Schafspelz. Bergisch Gladbach
Moritz, Karl Philipp 2001: Anton Reiser. Stuttgart
Nietzsche, Friedrich: Kommentierte Studienausgabe, hg. v. Colli/Montinari München 1980ff.
Richter, Horst Eberhard 1969: Eltern, Kind und Neurose. Reinbek bei Hamburg
Richter, Horst Eberhard 1972: Patient Familie. Reinbek bei Hamburg
Schäufele, Wolf-Friedrich 2006: Der „Pessimismus“ des Mittelalters. Mainz
Shils, Edward 1975: Center and Periphery. Chicago
Stone, Lawrence 1979: The family, sex and marriage in England 1500-1800. New York
Weber-Kellermann, Ingeborg 1987: Landleben im 19. Jahrhundert. München
Die Gegenwart der „Sozial- und Werteintegration“
(Diese Passage fehlt in der Fassung, die die Zeitschrift veröffentlichte.)
Bei Heitmeyer heißt es bspw.: „Je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtslose Durchsetzung“ (Heitmeyer 1992, vgl. a. Heitmeyer 1993, 4). Diese These bekommt nur den individuellen Egoismus in den Blick und nicht den kollektiven Egoismus von Familien und Clans mit seiner Scheidung zwischen Binnen- und Außenmoral.
Für Befürworter der Sozialintegration gilt die behauptete „Auflösung selbstverständlicher sozialer Zugehörigkeiten“, „wie sie z. B. eine Trennung der Eltern mit sich bringt“ (Heitmeyer 1992a), als prominentes Beispiel für die „Erosion sozialisationsrelevanter Kernbereiche“ (Heitmeyer 1989, 59). Beklagt wird ein Werteverlust in Bezug auf die Geltung von Ehe und Familie. Diese Redeweise ist ebenso populär wie problematisch. Es mag schon sein, dass die von Vertretern der Sozial- und Werteintegration diagnostizierte und beklagte „Orientierungsunsicherheit“ in Bezug auf Ehe und Familie auch insofern zugenommen hat, als Ehen sich leichter scheiden lassen. Ehe und Familie werden aber nicht durch Werte (eben: die Werte der Ehe und Familie) zusammengehalten. Mit der Zahl der Ehescheidungen wird noch nicht zum Thema, wie es in der Ehe aussieht. Unter der Oberfläche des gemeinsamen Festhaltens an der Form der Ehe können Streit und Hader, Neid und Revanchefouls sowie Selbstbehauptung an falscher Stelle spuken. Doppelmoral und Heuchelei gehen damit einher. Anhänger der Sozial- und Werteintegration machen sich Sorgen ob der „Verunsicherung durch die Auflösung selbstverständlicher soziale Zugehörigkeiten“. Nicht zum Problem wird ihnen die Verunsicherung, die entsteht, wenn der Schein der heilen Familie mit unheimlichen Familiengeheimnissen koexistiert.
Wer die Familie als intakt ansieht, solange sie sich nicht auflöst, sieht davon ab, wie es den Mitgliedern der vermeintlich intakten Familie in ihr ergeht. Günter de Bruyn (1995, 70) schreibt in seinen Jugenderinnerungen: „Ich hatte nicht gelernt, über die Brutalität der Welt, die als selbstverständlich galt, zu klagen, da niemand in der Familie, aus Angst, den anderen damit zu belasten, das tat. So morastig die Wege draußen auch waren, schrieb man nach Hause nur von trockenen Straßen; mit den Wunden, die einem geschlagen wurden, hatte man selber fertig zu werden; zu Hause war man lieb zueinander, aber nicht plump vertraut; auf jede Hilfe konnte man hoffen, ohne viel erklären zu müssen; man achtete immer einander und war allein.“
Weit verbreitet sind im 20. Jahrhundert
- „symptomneurotische Familien“, in denen gemeinsame Probleme dadurch bewältigt werden, dass sie an einem „Sorgenkind“ oder „Sündenbock“ verhandelt werden,
- „familiäre Charakterneurosen“. Die angstneurotische Familie „spielt“ zusammen „Sanatorium“, die paranoide Familie inszeniert eine Atmosphäre der „Festung“ (Richter 1972).
Kinder müssen in der modernen Familie häufig für Selbstheilungsversuche der Eltern herhalten. Das Kind dient dann als Ersatz für eine andere Person (für einen Elternteil, für den Gatten oder für ein Geschwister) oder für einen Aspekt des eigenen Selbst der jeweiligen Elternfigur oder wird zum Abbild oder zum Substitut des idealen Selbst oder der negativen Identität (Richter 1969, 81).
Befürworter der Werteintegration beklagen „den Umstand, dass es in modernen Gesellschaften keinen integrativen Fixpunkt mehr gibt“ (Heitmeyer 1997, 32), als sei dies früher besser gewesen. Dies lässt sich auf zwei Weisen verstehen. Zum einen im Kontext der „’fundamentalistischen’ Grundhaltung, die auf die Wiedereroberung der Gesellschaft für die alten Werte und Tugenden setzt“. Diese Variante „geht, insbesondere in religiöser Verkleidung, oftmals gerade mit Gewalt einher!“ (Ebd., 33). Gerade „eine extreme Normenhomogenität kann ebenso desintegrierende Folgen haben wie eine Werte- und Normendiffusion“, insofern sie zu „Konformitätsdruck und Ausgrenzung der nicht Dazugehörigen“ führt (Ebd., 36). Gesucht wird also nach einem „integrativen Fixpunkt“ ohne diese Probleme.
„Die Bedeutsamkeit gemeinsam geteilter sozialer Werte und Normen liegt darin begründet, dass es keinen sozialen Zusammenhang geben kann, wenn kein Mindestmaß an Übereinstimmung und Ähnlichkeit verfügbar ist“ (Heitmeyer 1997, 36). Angesichts des nun derart defensiv verstandenen Anforderungsprofils für die Werteintegration in modernen Gesellschaften bleibt unverständlich, warum Heitmeyer deren faktische Abwesenheit behauptet. Die Frage, mit der sich die These von der Auflösung dieses Mindesmaßes an normativer Übereinstimmung auf ihre Richtigkeit prüfen ließe, lautet: „Was wollen Rechte und Linke, Arme und Reiche, Ossis und Wessis gemeinsam hierzulande nicht haben? Sie wollen nicht so viele Gewalt wie in Amerika, nicht so viele Streiks wie in Frankreich, nicht so viele Regierungswechsel wie in Italien, nicht soviel Mafia wie in Russland, nicht soviel Nationalismus wie auf dem Balkan, nicht soviel Hingabe an die Firma wie in Japan, nicht so viele Stockschläge wie in Singapur, nicht so viele heilige Kühe wie in Indien, nicht so viele Schleier wie im Iran, nicht soviel Militär wie in Israel“ (Hondrich 2001, 43). Skeptischen Bürgern in der modernen Gesellschaft fällt es leichter, ex negativo zu sagen, was ihre Werte sind. Den zentralen Wert der Verfassung, die Menschenwürde, definiert auch das Verfassungsrecht ausgehend von ihren Verletzungstatbeständen.
(Die Redaktion bestand nicht nur darauf, diese Passage herauszukürzen, sondern lehnte es auch ab,wenigstens die folgenden zwei Sätze einzufügen.)
Es fehlt hier der Platz, die Idealisierungen und Ausblendungen zu analysieren, die mit dem Plädoyer für Werteintegration, mit der Verknüpfung von Sozial- und Werteintegration sowie mit der Diagnose des Verfalls beider einhergehen (vgl. dazu Creydt 1994). Die Theorien von Gauland und von Wilhelm Heitmeyer stimmen in diesen drei Punkten überein.
Creydt, Meinhard 1994: „Individualisierung“ als Ursache rassistischer Gewalt? Zu Heitmeyers Diagnose des Verfalls von Werten und Sozialintegration. In: Das Argument H. 205.))