Giacomo Corneos Konzept des „Aktienmarktsozialismus”
(erschien in: telepolis 19.7.2015)
Der Berliner Professor für Volkswirtschaftslehre Giacomo Corneo legt mit „Bessere Welt?“ (2014) eine Übersicht über verschiedene Vorschläge vor, die eine Alternative zum Kapitalismus beabsichtigen. Er versammelt auf gut lesbare Weise die großenteils „klassischen“ Bedenken u. a. gegen Gütergemeinschaft, Kropotkins anarchistischen Kommunismus, die Planwirtschaft der Gesellschaften sowjetischen Typs und des jugoslawischen „Selbstverwaltungssozialismus“. In Absetzung von diesen Modellen formuliert Corneo sein eigenes, den „Aktienmarktsozialismus“. Auf dem Klappentext des Bandes heißt es: „Ein zukunftsweisendes Buch nicht nur für Globalisierungskritiker, sondern für alle, die Zweifel an der Marktwirtschaft haben, aber noch nicht wissen, wie eine ernstzunehmende Alternative aussehen könnte.“
In seiner Beurteilung von verschiedenen Vorschlägen von Alternativen zum Kapitalismus bildet für Corneo die Frage, ob sie den gleichen Wohlstand wie der Kapitalismus hervorbringen, ein zentrales Prüfkriterium. Systeme, die zur Reduktion von Wohlstand führen, hätten keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Corneo fragt in seiner (modellplatonischen) Konzentration auf Strukturmodelle nicht, inwiefern schon ökologische Imperative (der Erhaltung von menschenfreundlichen Lebensbedingungen auf der Erde) zu massiven Veränderungen des in den westlichen Ländern üblichen Wohlstandsmodelles und der Lebensweise führen werden.
Corneo tritt zwar für das „gute Leben“ ein. Er meint damit Freundschaft und anderes, das sich in Geld nicht ausdrücken lasse. Er macht damit das neben und unabhängig von der Wirtschaft Existierende stark. Eine Autonomie des Subjekts wird unterstellt. So lässt sich eine Distanz zur Wirtschaft behaupten, die zugleich nicht angetastet wird, weil sie im Kern als unabänderlich gilt. Die Subjektivität der Individuen gilt in dieser Herangehensweise faktisch als eine innere Substanz, die von den äußeren Lebensbedingungen nur am Rand berührt wird. „Unter dem Deckmantel einer Anklage gegen das Geld rechtfertigen sie den Reichtum, indem sie ihn zu einem bloßen Akzidens der menschlichen Verhältnisse erklären, deren Kern ein moralischer oder metaphysischer sein soll“ (Lefebvre 1977, Bd.1, 158). Diese Herangehensweise erinnert an die Position, die Seele sei vom Körper unbeeinflusst und das individuelle „Sein“ vom „Haben“. So z. B. Papst Benedikt XVI. am 6.10. 2008 auf der Weltbischofssynode in Rom: „Am Zusammenbruch großer Banken sehen wir, dass das Geld verschwindet, nichts ist. Wer nur auf Sichtbares setzt, baut auf Sand. Nur das Wort Gottes ist eine solide Wirklichkeit“ (zit. n. Berliner Zeitung 7.10.08, S. 2).
Immer wieder betont Corneo, man müsse mit den Menschen auskommen, so wie sie heute sind. Er wendet sich zu Recht gegen eine Politik, die den Menschen von oben herab andere Motivationen aufdrückt. Das Votum gegen die „Diktatur über die Bedürfnisse“ (Agnes Heller, Ferenc Feher 1979) ist gewiss richtig, versperrt aber bei Corneo das Nachdenken über die Notwendigkeit einer Veränderung der in der Bevölkerung vorherrschenden Präferenzen.
Corneo nimmt die tatsächlich stattfindenden Veränderungen von Mentalitäten nicht ernst, die die Auffassung von dem betreffen, was als Wohlstand gilt. Es macht schon einen Unterschied zu früheren Jahrzehnten, dass das durchschnittliche Alter des privaten Neuwagenkäufers in Deutschland 2013 bei 52,2 Jahren liegt (www.marketingartikel-magazin.de Eintrag vom 11.2.2014). Eine relevante Minderheit der Bevölkerung reduziert aus ökologischen Gründen und aus Motiven eines „postmaterialistischen“ Lebensstils den Konsum. Zum Problem und zur Frage wird, ob der Anstieg des Einkommens, sofern er denn überhaupt stattfindet, zu einem Leben führt, das unsere Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen entfaltet, uns also beziehungsreicher und lebendiger macht. In der Bevölkerung finden Diskussionen über Fernflüge, über den Import von Schnittblumen aus Übersee, über spritfressende SUVs u. ä. statt. Im Unterschied zu sowohl der Profitwirtschaft als auch dem „Ich-kann-doch-machen-was-ich will“-Individualismus erwächst aus dem Bewusstsein für die Nachhaltigkeitsproblematik die Aufmerksamkeit für andere Koordinaten bzw. eine andere Rechnungsweise. Bspw. entsteht angesichts des vom Bundesumweltamt für umweltverträglich erklärten CO2-Verbrauch von 2,5 Tonnen pro Kopf und Jahr ein neuer Blick auf Fernflüge. Wenn bereits ein Flug von Zürich nach New York und zurück pro Passagier fast drei Tonnen CO2 verursacht, dann stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Flugreise unter anderen Gesichtspunkten als Preis/Leistungs-Kalkulationen. Diese zwei Flüge lassen sich auch ins Verhältnis setzen zur Menge von Kohlendioxid, der pro durchschnittlichem Einwohner der Bundesrepublik Deutschland jährlich durch das Heizen entsteht (1,71 Tonnen). In Teilen der Bevölkerung entsteht eine Aufmerksamkeit dafür, dass das Sich-Ausleihen von Gütern im Unterschied zu ihrem individuellem Erwerb den konkreten Nutzen, den der einzelne von diesen Gütern hat, nicht (oder nur minimal) schmälert, das Konsumbudget entlastet, weniger Arbeitsleistung erfordert, den „Zeitwohlstand“ erhöht und menschenfreundlichen ökologischen Lebensbedingungen gut tut.
Dissidenz entwickelt sich gegenüber einer auf hohe Einkommen und Status abzielenden Arbeitshaltung infolge ihrer für die Entwicklung der Persönlichkeit ungünstigen Effekte Dissidenz. Etliche Bücher von früheren Mitgliedern der wirtschaftlichen „Leistungseliten“ (Daniel Goedevert, Karl-Ludwig Schweisfurth u.a.), in denen sie über ihre „Umkehr“ zu sinnvollerer Tätigkeit und einem entspannteren Leben berichten, sind dafür ein Beispiel. (Für andere Beispiele vgl. a. Creydt 2014, 67, 80, 82, 90f.) In der Bevölkerung sind es nicht wenige, die sich die Frage stellen, „ob sich der ganze Stress noch lohnt, ob wir den Wettbewerb nicht zu weit getrieben haben und ein weniger hektisches Leben nicht lebenswerter wäre, auch wenn wir dann vielleicht etwas weniger Konsumwohlstand hätten“ (Thielemann 2010, 228). Selbst bis in „Die Zeit“ (26/2005) reicht die Unterscheidung zwischen Leben und Überleben. Camille de Toledo formuliert dort eine Kritik an der „kapitalistischen Hässlichkeit.“ Die Gesichter der Manager, Agenten und Pressesprecher der kapitalistischen Akkumulation seien durch die „Leidenschaft der Besessenen“ geprägt. „Ihr Treiben, ihr Getue, ihre Grimassen erregen unser Mitleid“ (Ebd.). Ihrer Geschäftigkeit sieht man die „ganze Nichtigkeit, die ganze Dummheit, die ganze Leere der heutigen Zeit“ an (Ebd.). Die Wahrnehmung der kapitalistischen Akkumulation als „abstoßend hässlich“ – diese „von Generation zu Generation, von der Vorschule bis zur Universität beharrlich wiederholte Botschaft könnte uns am Ende vielleicht vom makabren Programm des Akkumulierens abbringen. Nach einigen Jahrzehnten würden sich so viele angewidert von der abscheulichen Ökonomie des Sparens, des Eigentums, der Flughäfen, der Duty-free-Shops, der Großstadtgeländewagen abwenden, dass nichts anderes übrig bliebe als eine Umgestaltung unserer Tauschprinzipien. … Handel und Ware würden vom Thron herabsteigen und in die zweite Reihe zurücktreten. Das Radebrechen der Kommunikation würde einem freundlichen, klugen Gespräch weichen“ (Ebd.). Die innere Stimme würde einem sagen: „Sieh doch, wie die Sorge um den Markt, den Profit, das kapitalistische Überleben dich hässlich und fett macht!“ (Ebd.). Der demonstrative und distinktive Konsum der Reichen und Möchtegernreichen erweist sich häufig als menschlich problematisch. Eine diesbezügliche Sensibilität bemerkt ohne Neid und Ressentiment „das Unechte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (dass andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühl der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen – eure Wohnungen, Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen- und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selbst gebend“ (Nietzsche I, 845).
Eine relevante Minderheit versteht unter Wohlstand eine von quantitativen Größen zwar nicht unabhängige, aber bestimmte gesellschaftliche Strukturen voraussetzende bzw. erfordernde Lebensqualität. Die schon ökologisch not-wendige Ressourceneffizienz und ein sich von Prestige- und Kompensationskonsum absetzender Lebensstil konvergieren: „Das gute Teil verdrängt den vielen Schrott. … Luxus würde dann eher zu suchen sein in der Art, nicht in der Menge der Güter, in der freien Verfügung über die eigene Lebenszeit, in den vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation und zu Beziehungen mit anderen Menschen … und auch in der Chance, Ruhe zu genießen“, so der spätere grüne Hamburger Senator (für Stadtentwicklung) (Maier 1996, 44). Im Rahmen dieser Entwicklung könnte „in einer bestimmten soziokulturellen Schichtlage (und zwar einer, die gerade dem kulturellen Anspruch nach eine gehobene ist) eine Kultur des ‚guten Lebens’ sich neu etablieren, die sich mit Autorität gegen die Exzesse der Luxusschichten geltend machte und den Sog minderte, der von diesen auf die kleinen Konsumbürger ausgeht“ (Fleischer 1987, 53). Es besteht also kein Grund dafür, aus der Ablehnung erzieherischer Bevormundung heraus eine substanzielle gesellschaftliche Transformation ohne die Veränderung von Bedürfnissen, Präferenzen und Mentalitäten denken zu müssen.
Den Pelz waschen, ohne ihn nasszumachen, den Kapitalismus durch die Haustür hinauszukomplimentieren, ihn aber durch die Verandatür sogleich wieder ins Haus hereinzubitten: Corneos ökonomische Reformperspektive beinhaltet diese Ambivalenz. Ein öffentlicher „Bundesaktionär“ soll sukzessive die Aktien der Unternehmen aufkaufen. In diesem „Aktienmarktsozialismus“ „fließen“ „die Unternehmensgewinne nicht einer kleinen Minderheit von Reichen, sondern über den Staatshaushalt allen Bürgern zu. Denkbar wäre auch, die Gewinne dafür zu nutzen, jedem Bürger regelmäßig eine soziale Dividende auszuschütten. Das würde insbesondere die Lage der Geringverdiener verbessern. Sie verfügten über ein von ihrer Arbeitskraft unabhängiges Einkommen und hätten dadurch eine bessere Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt“ (Corneo 2014a). Corneo grenzt sein Modell des „Aktienmarktsozialismus“ von einer staatlich gelenkten Wirtschaft ab. „Staatsunternehmen (sind) mit zwei Problemen behaftet. Zum einen besteht die Gefahr, dass sich die Regierenden in die Geschäfte einmischen, dass sie die Unternehmen etwa an notwendigen Entlassungen hindern. Dieser Gefahr begegne ich in meinem Modell mit einer Institution, die ich Bundesaktionär nenne. So unabhängig wie die Bundesbank früher über die Preisstabilität wachte, achtet der Bundesaktionär darauf, dass die Unternehmen langfristig eine möglichst hohe Rendite abwerfen. Er wählt durch seine Vertreter in den Aufsichtsräten die Topmanager aus, wirkt an ihren Verträgen mit und gibt ihnen Ratschläge, was die Strategie angeht. Geführt wird er nicht von Parteipolitikern, sondern von Fachleuten. Das zweite Problem kreist um die Frage, wie man die Topmanager von Staatsunternehmen dazu bewegt, eine Maximierung des Gewinns anzustreben“ (Ebd.).
Corneo (2014, 15-23) nennt drei „Anklagepunkte“ gegen den Kapitalismus: Verschwendung, Ungerechtigkeit und Entfremdung. Bei den Punkten Verschwendung und Entfremdung ist unklar, wie Corneo (bei allem Plädoyer für Mitbestimmung der Arbeitnehmer) mit seiner Orientierung an der „Maximierung des Gewinns“ diese negativen Effekte des Kapitalismus einhegen oder gar überwinden will. Die Orientierung der kapitalistischen Betriebe am Mehrwert unterscheidet sich von einer Wirtschaft, in der der Unternehmensgewinn ein Kriterium der Arbeitsorganisation, der Arbeitsmittel sowie der Arbeitsinhalte darstellt. Ein Kriterium unter anderen. Die anderen Kriterien sind in einer nachkapitalistischen Gesellschaft: Entfaltung der Sinne und Fähigkeiten in der Arbeit, sinnvolle Produkte, Nachhaltigkeit, Partizipation der Arbeitenden an der Entscheidung über die Arbeit, Teilnahme der Arbeitenden an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Entscheidung über die Inhalte des Reichtums. Corneos „Aktienmarktsozialismus“ setzt positiv auf die Dividenden und Kursgewinne der Aktienunternehmen. Ihre Herkunft ist ihm keine Frage wert. Das Geld ist es jedenfalls nicht, das „arbeitet“ und damit die auf dem Aktienmarkt erzielbaren Rendite hervorbringt. Aktienkurse können sich kurz- und mittelfristig von der Verwertung des Kapitals durch die mehrwertproduzierende Arbeit von Arbeitskräften entkoppeln. Dauerhaft ist dies nicht möglich. Zu den weit verbreiteten Vorstellungen von der vermeintlichen Macht des Finanzkapitals über die sog. „Realwirtschaft“ finden sich bei Roth (2009), Sandleben, Schäfer (2013) sowie Krumbein u. a. (2014) lesenswerte Argumentationen. Mögen sie in manchem selbst analytisch nicht ausreichen, eines leisten sie: nachhaltige Einsprüche gegen die Beschränkung oder Zentrierung von Kapitalismuskritik auf die Kritik des Finanzkapitals. Genau diese Engführung findet sich auch bei Corneo: „Mein Ziel ist, die Vorzüge des Kapitalismus, nämlich Markt und Privatinitiative bei den Klein- und mittelständischen Unternehmen, auf der einen Seite zu erhalten. Und auf der anderen, die Macht der Geldelite zu beschneiden. Die kontrollieren die Großunternehmen, daraus entwickelt sich ein übermäßiger politischer Einfluss“ (Berliner Zeitung 6.11.2014).
Die Vermehrung des abstrakten Reichtums wird im Kapitalismus dadurch praktiziert, dass das Kapital Arbeitskräfte anstellt, sie zum Wert ihrer Arbeitskraft bezahlt und länger arbeiten lässt, als dies erforderlich wäre, um den Wert ihrer Arbeitskraft zu erwirtschaften. Die Gleichheit des Äquivalententausches ist nicht durch den Mehrwert gestört, den der Arbeitende produziert und der dem Kapitalist zufällt. „Der Gebrauchswert der Arbeitskraft, die Arbeit selbst, gehört ebenso wenig ihrem Verkäufer, wie der Gebrauchswert des verkauften Öls dem Ölhändler. … Der Umstand, dass die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, dass daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tags schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (Marx: Das Kapital. MEW 23, 208). Eine am Wert der „Gerechtigkeit“ orientierte Kapitalismuskritik ist oft mit einem Diskurs verschwistert, in dem das Wissen vom Kapitalismus gering ist und zu seinen Lasten Erörterungen von gerechten bzw. ungerechten Proportionen sich ausbreiten. Insofern ist beim Maßstab „Gerechtigkeit“ bzw. bei der Kritik an Ungerechtigkeiten Vorsicht geboten. Es handelt sich häufig um trojanische Pferde (vgl. Creydt 2005).
Corneos Perspektive orientiert sich an zentralen Maßstäben des Kapitalismus: dem Wohlstand des Geldeinkommens und der profitablen Kapitalverwertung. Bei allem Gegensatz zur SED meint Corneo wie sie, eine Alternative zum Kapitalismus müsse ihn einholen und überholen. Der Corneo’sche „Bundesaktionär“ soll dadurch überzeugen, dass er profitabler wirtschaftet als im gegenwärtigen Kapitalismus üblich. „Ich plädiere für ein Experiment. Von einigen wenigen Großunternehmen und Banken wird 51 Prozent des Kapitals verstaatlicht und in die Verwaltung des noch zu gründenden Bundesaktionärs überführt. Dann schauen wir, welcher Sektor der rentablere ist: der marktsozialistische oder der kapitalistische. Liefert der Bundesaktionär nicht die marktübliche Rendite, schaffen wir ihn wieder ab. Ist er aber den kapitalistischen Unternehmen überlegen, bauen wir das Wirtschaftssystem allmählich um“ (Corneo 2014a). Die mit „Verschwendung“ und „Entfremdung“ sehr allgemein beschreibbaren Folgen und Voraussetzungen der profitablen Verwertung des Kapitals halten Corneo nicht vom Votum für möglichst profitable Kapitalverwertung ab. Das ähnelt einem Votum für Atomkraftwerke ohne Radioaktivität.
Corneo teilt die bislang mehrheitsfähige Auffassung, der Kapitalismus sei ein effizienter Mechanismus zur Erzielung hohen Wohlstands. In seinem „Aktienmarktsozialismus“ verhält sich die Gesellschaft wie ein Aktionär zum Kapital. Seine Aufmerksamkeit gilt den Renditen. Die im Kapitalismus übliche Form des Wohlstands und seiner Bemessung (Bruttosozialprodukt, Einkommenshöhe, Kapitalrendite) wird ihm nicht zum Problem. Dabei erhöht sich das Bruttosozialprodukt auch durch schädliche und überflüssige Arbeiten und Dienstleistungen (vgl. Creydt 2014a). Die Vermehrung von Absatzchancen durch verkaufbare Güter im Unterschied zu gemeinsamem oder öffentlichem Konsum, das Desinteresse von Warenanbietern an problemvermeidender Vorsorge aus Interesse an kompensatorischen Angeboten, die den jeweiligen Mangel voraussetzen, sowie die massiven Ausmaße des künstlichen Verschleißes – diese drei Formen, in denen sich der Wohlstand im Kapitalismus auf recht spezielle Weise entwickelt, spielen bei Corneo keine Rolle.
Im von Corneo akzeptierten volkswirtschaftlichen Wohlstandsbegriff kommen die Schädigungen menschenfreundicher ökologischer Bedingungen nicht vor. Wie will man schon bspw. dem Verschwinden einer Tierart einen Preis zurechnen, um dessen Kosten anzugeben? Preise sind unterkomplexe und eindimensionale Informationskonzentrate. In der Sprache der Preise lassen sich viele Qualitäten nur sehr eingeschränkt ausdrücken.
Die friedliche Koexistenz von Schäden verursachenden Unternehmen und kompensatorischen Reparaturmaßnahmen steigert das Bruttosozialprodukt. Die Verschleißproduktion kostet die Verbraucher im Jahr 2013 100 Mrd. Euro. Diesen Betrag hätten Konsumenten durch den Wegfall von Produkten einsparen können, in die vorzeitiger Verschleiß eingebaut ist (vgl. Süddeutsche.de, 20.3.2013, vgl. Kreiß 2014). Zugleich erhöht die Verschleißproduktion denjenigen Wohlstand, den die Volkswirtschaftslehre als Wohlstand bezeichnet.
Auch für die Bauwirtschaft gilt: „Wir steigern das Bruttosozialprodukt.“ Was die Bauten mit den Menschen „machen“ kommt in der Sprache der Preise nur sehr bedingt vor. Ebensowenig in der Profitorientierung des Immobilienkapitals. In der Stadtbauwelt bringen viele Gebäude „depressive Elemente in permanenter Weise in den Alltag“ ein (Mitscherlich). Der Architekt und Philosoph Georg Franck beschreibt die Wirkungen weiter Bereiche der gegenwärtigen Stadtbauwelt („zusammengewürfelte Zwischenstädte, Vororte und Gewerbegebiete“) auf die Menschen prägnant: „Da unterscheidet die Bauweise häufig nicht zwischen den Behausungen für Menschen und Müllcontainer. … Wer hier aufwächst, kommt mit dieser Situation am besten zurecht, indem er abstumpft und eben nicht darauf achtet, wo er ist und wo er sein will“ (Franck 2009, 41, 44).
Zur kapitalistischen Form des Reichtums gehört, dass die Lebensqualität in der Arbeit und die Arbeit als Medium der Entfaltung von Sinnen und Fähigkeiten, Reflexionsvermögen und Sozialbeziehungen kein maßgeblicher Bestandteil dessen ist, was als Wohlstand gilt. Befragungen von Arbeitnehmern geben Aufschluss über deren Erwartungen an die Arbeit. An erster Stelle stehen dabei Bedürfnisse, die Arbeit solle interessant, sinnvoll und verantwortungsvoll sein. Die Befragungen ergeben, dass die Arbeitenden in Bezug auf diese Arbeitsmotivationen „relativ weite Abstände zwischen Soll und Ist wahrnehmen“ (Klages 2004, 30). Aus dieser Differenz resultiert eine eher geringe bis mäßige Identifikation der Arbeitenden mit ihrem Unternehmen. Das renommierte Gallup-Institut beziffert die finanziellen Schäden auf jährlich 120 Mrd. Euro, die durch mangelnde Motivation der Arbeitenden entstehen, insofern dieser Mangel zu Fehltagen, Fluktuation und schlechter Produktivität führt.
„Humanpotential“ ist anders als „Human Capital“ nicht instrumentell aktivierbar. Klages bezeichnet „die alltägliche Verschwendung von Humanpotenzial“ als Phänomen, angesichts dessen von „Institutionenversagen“ zu sprechen sei (Klages 2002, 82). Die in Unternehmen feststellbaren Bemühungen, per materiellen Anreizen, Motivationstraining, Firmenkultur u. ä. Leistung und Kreativität der Mitarbeiter zu steigern, verfehlen mit ihrem technokratischen, ködernden und bestenfalls verführenden Zugriff die Tiefendimensionen menschlicher Bereitschafts- und Fähigkeitspotentiale (vgl. a. Klages 2002, 123ff., 139f.). Zugrunde liegen oft „sehr schlicht anmutende Vorstellungen über Input-Output Beziehungen“ oder „Äquivalenzvorstellungen übervereinfachender Art“, „wo Bemühungen unternommen werden, das Leistungsverhalten mit Hilfe materieller Leistungsanreize zu aktivieren“ (Klages 2002, 139). Eigenmotivation lässt sich nur in sehr engen Grenzen nutzen, wenn „die Notwendigkeit außer Acht gelassen“ werden muss, „auf Menschen mit Selbstentfaltungsbedürfnissen und -interessen in angemessener Weise einzugehen, um ihr Potenzial zu erschließen“ (Ebd., 128). Die Sorge, zu qualifizierte „Mitarbeiter“ und zu autonome Arbeitsgruppen könnten für die Unternehmensführung zum Problem werden, bildet eine Grenze, die der selbstorganisierten Gestaltung des Arbeitsprozesses im Kapitalismus gesetzt ist (vgl. Creydt 2014, 35f., 114-116, 276f.).
In Bezug auf die Lebensqualität sind last not least die Sozialbeziehungen zentral. Der Wohlstandsbegriff, den die Volkswirtschaftslehre vertritt, ist untrennbar mit einer „ungeselligen Gesellschaft“ (Kant) verknüpft. Er blendet souverän die negativen Folgen von Privateigentum, Konkurrenz, Arbeitslosigkeit und krisenhaften Verwerfungen (bzw. schon der Angst und Sorge vor ihnen) auf das Mit- und Füreinander der Menschen aus.
Der (auch) von Corneos unbefragt verwendete kapitalismusimmanente Wohlstandsbegriffs sieht ab von den negativen Effekten des kapitalistischen Reichtums auf den Reichtum der Natur, der menschlich geschaffenen Gegenstandswelt, der Arbeit und der Sozialbeziehungen. Das im Kapitalismus produzierte Bruttosozialprodukt steigt, die Einkommen und die Kapitalrendite erhöhen sich, auch wenn all diese Qualitäten leiden. Ihr Reichtum ist nicht identisch mit dem kapitalistischen Reichtum. Kritik kommt von unterscheiden. Corneos Beanstandung des Kapitalismus kommt ohne diese Unterscheidung aus. Corneos Beanstandung des Kapitalismus baut auf seiner Affirmation dieses grundlegenden Konstruktionsfehlers des Kapitalismus auf. Corneos Begriff von „gutem Leben“ bezieht sich nicht auf die Arbeitsinhalte, das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur, die Stadtbauwelt und die gesellschaftlich dominierenden Formen der Sozialbeziehungen. „Sowohl Goethe wie Marx nennen ein tätiges Leben der Menschen, das deren Vermögen leiblich, seelisch und geistig ausbildet und etwas für sie selbst und andere bewirkt, Lebenstätigkeit. … Lebenstätigkeit meint bei beiden, dass wir unsere Anlagen ausbilden, indem wir an der Welt mit uns tätig sind, also in einer wohl reflektierenden, immer neu zu gewinnenden Verbindung von sinnenhafter Wahrnehmung, von Wissen, das in Begegnungen reift, und bewusster Tätigkeit“ (zur Lippe 2012, 145, 143). Die für die nachkapitalistische Gesellschaft charakteristische Lebensweise, ihr Gefüge der verschiedenen „Lebenstätigkeiten“ und deren Wechselbeziehungen, die Dimensionen ihrer Entfaltung sowie die dafür notwendige Gestaltung und Strukturiertheit der Gesellschaft mache ich andernorts zum Thema (Creydt 2014, 136-369).
Corneo äußert Vorbehalte gegen Verschwendung, Ungerechtigkeit und Entfremdung. Er warnt davor, ohne entscheidende Veränderungen befänden wir uns in 20 Jahren auf einem so schlechten Sozialstaatsniveau wie in den USA. Er wendet sich gegen die „Tabuisierung“ der „Systemfrage“. „Wer sie stellt, gilt schnell als unseriös. Ich finde diese Tabuisierung intellektuell feige und politisch kontraproduktiv“ (Corneo 2014a). Mit all dem und mit seinem Votum für „Aktienmarktsozialismus“ befindet sich Corneo am linken Rand der Volkswirtschaftslehre. Das sagt aber vor allem etwas über den Zustand dieser universitären Disziplin aus.
Literatur:
Corneo, Giacomo 2014: Bessere Welt? Hat der Kapitalismus ausgedient? Eine Reise durch alternative Wirtschaftssysteme. Berlin
Corneo, Giacomo 2014a: Börse plus Sozialismus. Interview mit Corneo. In: brandeins H. 7
Creydt, Meinhard 2005: Das Elend der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als normatives Pendant sozialen Elends. In: Streifzüge Nr. 34. Wien Vgl. www.meinhard-creydt.de
Creydt, Meinhard 2014: Wie der Kapitalismus unnötig werden kann. Münster (Inhaltsverzeichnis und Vorwort unter www.meinhard-creydt.de)
Creydt, Meinhard 2014a: Der Überfluss an Unnötigem und Schädlichem. Problematische Arbeitsinhalte und Gebrauchswertangebote im gegenwärtigen Kapitalismus. In: Telepolis 30.8.2014
Fleischer, Helmut 1987: Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins. Frankfurt M
Franck, Georg 2009: Abweisende Neubauten. Interview in Psychologie Heute, H. 10
Klages, Helmut 2002: Der blockierte Mensch. Frankf. M.
Klages, Helmut 2004: Wie marode sind die Deutschen? Ein empirischer Beitrag zur Mentalitätsdebatte. FÖV Discussion Papers 13. Speyer
Kreiß, Christian 2014: Geplanter Verschleiß. Berlin
Krumbein, Wolfgang; Fricke, Julian; Hellmer, Fritz; Oelschlägel, Hauke 2014: Finanzmarktkapitalismus? Zur Kritik einer gängigen Kriseninterpretation und Zeitdiagnose. Marburg
Lefebvre, Henri 1977: Kritik des Alltagslebens. Kronberg Ts. (Drei Bände in einem Band.)
Lippe, Rudolf zur 2012: Plurale Ökonomie. Streitschrift für Maß, Reichtum und Fülle. Freiburg i. Br.
Maier, Willfried 1996: Modernisierungskritische Modernisierer? In: Kommune, H. 4
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Ed. Schlechta. Darmstadt 1997
Roth, Rainer 2009: Finanz- und Wirtschaftskrise: SIE kriegen den Karren nicht flott. Frankf. M.
Sandleben, Guenther; Schäfer, Jakob 2013: Apologie von links. Zur Kritik gängiger linker Krisentheorien. Köln
Thielemann, Ulrich 2010: System Error. Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt. Bonn