Meinhard Creydt
Fünf Autoren aus Berlin-Schöneberg (Prütz, Schilwa u. a.) haben ein Papier vorgelegt: „Neue antikapitalistische Organisation? Na endlich!“1 Ihm war eine Veranstaltung am 22.6.11 in Berlin gewidmet. 2 A n dieser Initiative lässt sich einiges lernen über die für viele „radikale Linke“ charakteristische Herangehensweise und ihre Probleme. Vom Extrem fallen Licht und Schatten auf seine undeutlicheren Vorstufen.
Ausgangspunkt des Papiers ist die Fehleinschätzung oder der für linke Stammtische charakteristische Evergreen, „der“ Kapitalismus befinde sich in einer „tief greifenden Legitimationskrise“, die „sich nicht mehr so leicht einfangen lässt.“3 Angesichts dieser (für günstig befundenen) Situation (entlaufene Legitimationskrise) appelliert das Schöneberger Quintett an den guten Willen. Radikale Linke aller Konfessionen vereinigt Euch! In anderen Ländern gäbe es doch dafür schon Ansätze. Warum dann nicht auch in D.land? Das ökumenische Wunschbild: Die vielen besonderen Kleinorganisationen mögen sich in eine zu schaffende neue Organisation auflösen und tapfer der Versuchung und dem für sie charakteristischen Trieb widerstehen, das größere Publikum der neuen Organisation („entristisch“) als Rekrutierungsfeld für die Stärkung des jeweils eigenen Kaders zu nutzen.4 Die kleinen linken Organisationen kennen Gründe für ihre jeweilige Sonderexistenz oder Daseinsberechtigung. Unsere Einheitsstifter aber zeigen sich über diese Gründe erhaben. Sie „lösen“ Probleme, indem sie von ihnen absehen. Das Scheitern bisheriger Sammelbecken (zuletzt: „Netzwerk linke Opposition“) ist ihnen kein Anlass für Reflexion. Stattdessen unbekümmertes Fortsetzungsverhalten. Die zweite Adressatengruppe des Projekts: Unorganisierte, die zu einer Organisation dazu stoßen würden, wenn sie die Zirkelgröße übersteige. „Denn natürlich gibt es links der LINKEN … eben auch Zehntausende ‚Normalos’, die grundsätzlich ‚durch’ sind mit dem Kapitalismus und sich trotzdem (oder deswegen!) von der hauptsächlich parlamentarischen Geschäftigkeit der LINKEN nicht wirklich angezogen fühlen. Diesem Spektrum sollten wir ein attraktives Angebot machen.“ Ein „revolutionärer Attraktionspol“ soll installiert werden. „Ein Start mit z. B. 600 Leuten wäre kein wirklicher Schritt vorwärts im Vergleich zum Bestehenden, denn es gibt so was wie die ‚Magie der (großen) Zahlen’. 1000 ernsthaft Interessierte/Beteiligte bis Mitte/Ende diesen Jahres sind ein anspruchsvolles, aber realistisches Ziel“, so unsere fünf Strategen. Die Spannungen in der Linkspartei würden zunehmen. Und was so ein Linksparteiaussteiger sei – die dritte Adressatengruppe –, der brauche doch eine Adresse, an die er sich wenden könne. Das Ziel: Ein Zirkel, der das Zirkelwesen überwindet. Der solle dann der Linkspartei „Einheitsfront von oben“ anbieten. Soweit die Fantasien aus dem Schöneberger Ratskeller. Wir möchten nicht wissen, wovon unsere umtriebigen Projektemacher wohl erst n a c h t s träumen.
Eine andere Logik des Herangehens an das wichtigmeierisch „Organisationsfrage“ Genannte wäre mit folgender Frage umrissen: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass sich bestimmte Kerne von sozialer Opposition und nachhaltigem linken Engagement in relevanten gesellschaftlichen Bereichen bilden? Es reicht nicht, dass die Idee zur Wirklichkeit drängt. Zu fragen ist, wie die Wirklichkeit zur Idee drängt. Und die Wirklichkeit hat ihre eigene Bewegung. Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als Programme. Natürlich muss es sich um wirkliche Bewegung handeln. Sonst wäre man beim bloßen Erfolgsargument angelangt, bei dem die Quantität die Qualität definiert. Der Umkehrschluss aber …
Wie wenig es im Papier des Schöneberger Quintetts um diese materialistische5Herangehensweise geht, lässt sich ihren Bemerkungen zum Kommunistischen Bund aus den 70er Jahren und zu Lutte Ouvriere in Frankreich entnehmen. Der KB – von vielen „die sympathischste K-Gruppe“ genannt – hatte in den siebziger Jahren 3, 4 Jahre lang soviel Vertrauensleute und Betriebsräte allein in Hamburg wie alle anderen Linken links der DKP in der ganzen BRD. Die französische Organisation Lutte Ouvriere war Jahrzehnte lang die Organisation links der KPs in Europa, die am meisten Leute in Betrieben aufwies. Beide Organisationen sind hier nur von exemplarischem Interesse und werden nur insofern zum Thema, als Prütz&Schilwa sie mit abseitigen anekdotischen Details bekritteln. Man könnte auch kleinere Beispiele nennen, z. B. linke Betriebsgruppen. Auch sie sind ja nicht einfach aus der Agitation durch freischwebende Geister entstanden und sie halten sich nicht dadurch, dass diese in Betriebe hinein“intervenieren“, also Werbung machen für ihre Inhalte. Prütz/Schilwa verlieren symptomatischerweise zur Praxis von KB und Lutte Ouvriere kein Wort. Mir geht es nicht darum, sie zu affirmieren oder zu idealisieren.6 Unter anderem aber an solchen Organisationen ließe sich etwas lernen für die Beantwortung der Frage: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit des Entstehens, der Stabilisierung und des Wachsens von politische Formationen sozialer Kritik, die nicht – oder wenigstens nicht hauptseitig – von außen „intervenieren“?
Die zentrale Frage für radikale Praxis ist, was, wenn überhaupt, die „Bildungs-, Formungs- und Durchsetzungskräfte“ einer neuen Gesellschaft sind, die in der gegenwärtigen Gesellschaft entstehen (Fleischer 1982, 26). Das Materialistische der diesbezüglichen Analyse – die im Papier von Prütz, Schilwa u. a. symptomatischerweise kein Thema ist – betrifft die „Deutung aus den ‚wirklichen Kräften’ des gesellschaftlichen Lebensprozesses der Menschen, zentral aus den gesellschaftlichen Beziehungspotenzen, die sich im aktiven, zugreifenden oder hinnehmenden ‚Eingehen in Verhältnisse’ des Herrschens bzw. Gehorchens und sonstigen Kooperierens, in Verhältnisse des eigenbestimmten bzw. fremdbestimmten Agierens, des Agierens in engeren oder in erweiterten Umkreisen auswirken. Für das Ensemble solcher Potenzen und Kompetenzen lässt sich … der bei Marx angesetzte Titelbegriff ‚Produktivkräfte’ weiterverwenden“ (Ebd.). Für Fleischer beinhalten die Produktivkräfte nicht nur den technischen Fortschritt, sondern auch „die produktiven Energien, Qualifikationen und Betätigungsansprüche maßgebender Produzentengruppen“ (Fleischer 1987a, 29).
Im Unterschied zu vielen Linken, die ihre Adressaten mit abzuwehrenden Gefahren und zu erreichenden Zielen agitieren, ist davon auszugehen, „dass sich ein derartiges Kräfte-Aufgebot nicht gut normativ oder postulatorisch, auf vorgestellte große und größte ‚Aufgaben’ und ‚Erfordernisse’ hin, auf den Plan rufen lässt. (Viele versuchen das heute geradezu inbrünstig, durch die Beschwörung von Notwendigkeiten und zumal Gefahren das Heilende und Rettenden zu mobilisieren – das ist jedoch nur eine ideologische Aushilfe für etwas, was noch keine reelle Geschäftsgrundlage hat.).“ Das geschichtsmaterialistisch einschlägige Kriterium „lautet für mich in diesem Punkt, dass die ‚Inhaber’ höherer Produktivkräfte schon selbst ein Empfinden dafür bekommen, wo etwas mit den bestehenden Verhältnissen kollidiert“ (Fleischer 1982, 30). „Wenn überhaupt etwas über die kapitalistische Produktionsverhältnisse positiv hinausweist, dann muss dies als Element im Produktionsverhalten, wenigstens als ein erklärtes Interesse und als eine reelle Fähigkeit irgendwelcher relevanter Produzenten schon innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse lebendig sein und Wirkungen zeitigen. Sonst wäre eine soziale Revolution gar nicht ihrem sozialen Gehalt nach zu identifizieren“ (Ebd., 31). „Produktion“ ist hier aufzufassen im Sinne eines erweiterten Arbeitsbegriffes, der auch die Arbeit im Gesundheitswesen, in der Erziehung u. a. mit einschließt.7
Viele Linke treten an ihre Adressaten von außen und diffus heran („an Alle!“), mit allerhand Forderungen und Zielen, ohne zu wissen, auf welche positiven Kräfte im Bestehenden sie sich überhaupt beziehen und was die Voraussetzungen und Logiken von d e r e n Entwicklung sind. Linke wähnen sich oft dafür zuständig, die Bewegung zu erschaffen, herbeizuagitieren oder zu „modeln“, statt sich als „immer weiter treibender Teil“ oder als praktisch (und nicht verbalradikal) entschiedenster „Ausdruck“ „einer unter uns vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“ aufzufassen. Dafür wäre allerdings der Überschuss an gutem Willen, normativistischem und postulatorischem Eifer abzulegen und „Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate“ der Bewegungen auszubilden (Kommunistisches Manifest). Diese Problematik ist bei unseren Projektemachern symptomatischerweise kein Thema.
Statt über das Wollen und Können pflegen viele Linke sich normativistisch über das Sollen und Müssen zu ergehen, „solange nicht ausgemacht ist, wer aus eigenstem Antrieb etwas in Gang bringen wird“ (Fleischer 1982a, 349f.). Das „normative Gestikulieren mit den Erfordernissen und Aufgaben höherer und höchster Ordnung“ stellt nur dann einen Beitrag zur Freisetzung der Eigenantriebe dar, wenn die „leere rhetorische Geste“ und die „inkompetente, unreife oder neurotische Politik“ überwunden werden (ebd.). Die von Ansprüchen und Vorsätzen absorbierte Aufmerksamkeit ist zu überführen in eine Vergegenwärtigung der „Maßbestimmungen, Verknüpfungs- und Dissoziierungsweisen von selbstbestimmter und fremdbestimmter Tätigkeit, von Solidaritätsfähigkeit und Interessenpartikularität“ (Fleischer 1977, 193). Es geht um die „Analytik und Metrik sozialer Verbindungs- und Trennungsenergien in ihrer jeweiligen Feldverteilung“ (Fleischer 1980, 418). Das Terrain, auf dem die Musik spielt, eröffnet sich, wenn auf die „praktischen Akte der Verstärkung und Verbreitung gesellschaftlicher Handlungspotentiale“ gesehen wird. Wir haben es zu tun mit „Wachstumsdimensionen von Fähigkeiten, mit anteiligen Verschiebungen in ihren Kompositionsverhältnissen und mit der Zunahme von Handlungs-Reichweiten: Wie steht es jeweils um die relative Erweiterung von Potenzen der Selbsttätigkeit, um die Ausweitung ihres Dimensionsreichtums und des Aktionsradius, in dem sie eine Integration herbeizuführen vermögen“? (Fleischer 1978, 57).
Die Unterstützung der so umschriebenen Kräfte8 in ihrer Entwicklung bildet das Zentrum einer entsprechenden politischen Praxis. In ihr geht es um die Konsolidierung und den kontinuierlichen Ausbau von Netzwerken alternativer widerständiger Praxis in gesellschaftlich zentralen Bereichen – und nicht um strohfeuerhafte „Kampagnen“ und „Interventionen“, die heute hier und morgen andernorts quasi touristische Abstecher in die soziale Realität veranstalten. Noch eine „Kampagne“, noch ein „Bündnis“, noch eine Demo der Politikanten organisieren – da sind sie im Element i h r e r Geschäftigkeit. Demgegenüber geht es um die Ausbildung von Milieus, die sich zu einer neuen gegenhegemonialen gesellschaftspolitischen Kultur vernetzen können. Dafür muss man (und frau) in den sozialen Bereichen sein, in denen solche Milieus entstehen können, oder zu ihnen Zugang haben. Es ist niemand als Individuum moralisch vorzuwerfen, dass er in keinem relevanten sozialen Bereich (Betriebe, Forschungseinrichtungen, Schulwesen, Gesundheitswesen u. a.) verankert und geerdet ist. Bei vielen linken Propaganda- oder Kampagnengruppen scheint es sich jedoch so zu verhalten, dass sie aus der Not eine Tugend machen. So nützlich manche ihrer Tätigkeiten sein mögen, so sind sie doch oft sozial zu dechiffrieren als Betätigung „freischwebender“ Individuen, die in keinem relevanten sozialen Bereich (Betriebe, Forschungseinrichtungen, Schulwesen, Gesundheitswesen u. a.) zu Hause sind oder zu ihm Zugang haben. Die i h n e n mögliche Freizeit- oder Feierabendpraxis lässt sich nicht voluntaristisch übersteigen.9Ein Problem sehen sie in ihrer von den Auseinandersetzungen in der Arbeit getrennten Freizeitpolitik nicht.10 Weil sie so ganz mit sich eins sind, erscheint ihnen i h r Zugang zur Welt grenzen- und alternativlos. Kritisch gegenüber allerhand Phänomenen in der Welt bleiben sie unkritisch gegenüber sich selbst.
Es kann nicht darum gehen, wie Prütz u. a. vorschlagen, mit einem Katalog von „unverhandelbaren Punkten“ Gruppen zu sichten: Wie halten es die Kandidaten z. B. mit der „Einheitsfront-Methode“ – also einem der fünf „unverhandelbaren Punkte“ der Initiative? Der Nutzen des Papiers von Prütz u. a. ist die Radikalisierung von in der Linken weit verbreiteten Fehlern zur realsatirischen Kenntlichkeit. Positive praktische Impulse werden von der Schöneberger Initiative nicht ausgehen. Einer linken Politik, die der Wirklichkeit gewachsen ist, geht es darum, aus der Praxis von Gruppen und den mit ihr verbundenen Fragen Möglichkeiten der Kooperation auszuloten („fragend gehen wir voran“). Fragen wären dann: Woran arbeiten sie? Was sind ihre Stärken? Was kann man von ihnen lernen? Wo können sie von anderen etwas lernen? Eine solche Herangehensweise unterscheidet sich von der Wortgläubigkeit und Schriftgelehrsamkeit von Vereinswarten, die im Bekenntnis zu Formeln („unverhandelbare Punkt“) die Einheit suchen und damit die notorischen „Linienkämpfe“ gerade erst herausfordern.11 Materialistisch wäre es demgegenüber, nicht nach dem Willen zur ideologischen Einheit, sondern nach dem Zusammenhang der Tätigkeiten der verschiedenen Gruppen zu fragen. In der Praxis gibt es Ursachen für reale Divergenzen. Getrennt und jenseits von ihnen bilden aber oft schon der enge Horizont der ideologischen Perspektive und ihre Unaufgeschlossenheit für die materialistische Vergegenwärtigung der Gegenwart einen eigenen Nährboden, auf dem Linienkämpfe und Streitereien über Fragen prächtig gedeihen, die sich nur in der Praxis lösen lassen. Der Horizont des ideologischen Bewusstseins ist zu eng, als dass die Fragen der Praxis in ihm hinreichend verhandelt werden können. Der Horizont der Prinzipien, abstrakten Kriterien und Ziele begünstigt „Entweder-Oder“-Entscheidungen an falsch gestellten Fragen.12 Demgegenüber bildet ‚Praxis-Materialismus’ den gemeinsamen Nenner für Denkbemühungen, die die Aufmerksamkeit verlagern von der Unmittelbarkeit der „Bewusstseins- und Gedankenformen, in der alles Wirkliche sich uns darstellt, auf die Handlungsinhalte im Kontext der Lebenstätigkeit, in die alle ideellen Gehalte eingelagert sind“ (Fleischer 1977, 176). Das Vernünftige ist dann „nur als ein Wirkliches fassbar; die Kritik ist nicht mehr ein Konfrontieren der Wirklichkeit mit einer Idee, sondern einer Wirklichkeit mit einer anderen“ (Fleischer 1993, 266). Erst die so beschriebene praxismaterialistische Herangehensweise (vgl. Creydt 2007) ermöglicht es, das Denken „vom subsumtiven Gehorsam“ dadurch zu unterscheiden, dass es „das Vorgesetzte, die Frage nicht so beantworten muss, wie es aufgestellt wurde, sondern gegebenenfalls zurückweisen kann. Das heißt widersprechen: nicht, wie man es hören wollte, ‚Ja’ oder ‚Nein’ sagen, sondern: ‚Die Frage ist falsch gestellt’“ (Jäger 1999, 131f.).
PS.: Die Frage nach den g e i s t i g e n Bildungsmomenten13, die Intellektuelle immerhin beisteuern k ö n n t e n, möchte frau anlässlich des Papiers unserer Schöneberger Autoren lieber nicht vertiefen. Es ist an Bekenntnissen, Wunschzetteln und Radikalauern reich, an Analyse und Durchdenken von Problemen provozierend arm. Die Einlassungen zum Geschlechterverhältnis14 (auf dem Stand von „Triple Opression“ und „Hausarbeitsdebatte“ von 1972 …) bilden nur e i n prägnantesBeispiel für das umgekehrt proportionale Verhältnis zwischen Selbstbewusstsein und Bewusstsein.
Literatur:
Creydt, Meinhard 1999: ‚Arbeit’ als Perspektive. In: Weg und Ziel 2/99, Wien.
Ders. 1999a: Probleme nichtsubalterner Basispolitik. In: Grün-Links-Alternatives Netzwerk Ruhrgebiet (Hg.): ‚Grün-links-alternative Perspektiven für NRW ?!’ Dortmund 1999 und in: Andere Zeiten 6/99 (Vortrag auf dem Arbeitstreffen ‘Grün-links-alternative Perspektiven für NRW’ am 30.10.99 in Bochum)
Ders. 2001: Zur Kritik feministischer Wirklichkeitskonstruktionen. In: Hintergrund H. 1/2001, Jg. 14, Osnabrück
Ders. 2007: Warum eigentlich Materialismus? Helmut Fleischers praxisanalytisches Materialismuskonzept. In: Grundrisse, H. 22. Wien
Ders. 2008: Kritik an den Wissenschaften und den Inhalten professioneller Tätigkeiten. In: Utopie kreativ
Ders. 2009: Ungleiche Lasten, die Frauen u n d Männern durch das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis aufgebürdet werden. (Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien in: Novo H. 100, Mai 2009)
((Meine Texte finden sich auch auf www.meinhard-creydt.de))
Fleischer, Helmut 1977: Warum eigentlich Materialismus? In: Jaeggi, Urs; Honneth, Axel (Hg.): Theorien des historischen Materialismus. Frankf. M.
Ders. 1978: Denkformen in Sachen Sozialismus. In: Wolter, U (Hg.): Sozialismusdebatte. Berlin
Ders. 1980: Über die normative Kraft im Wirklichen. In: Jaeggi, Urs; Honneth, Axel (Hg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Frankf. M.
Ders. 1982: Begreifen der Praxis. In: Grauer, Michael; Schmied- Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.): Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis. Kasseler Philos. Schriften Bd. 7. Kassel
Ders. 1982a: Geschichte ohne Heilsgewissheit. In: Heinemann, Gottfried; Schmied-Kowarzik, W. (Hg.): Sabotage des Schicksals (FS U. Sonnemann). Tübingen
Ders. 1987: Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewusstseins. Frankf. M.
Ders. 1987a: Der lange Abschied der populistischen Linken. In: Kommune H.2
Ders. 1993: Epochenphänomen Marxismus. Hannover
Jäger, Michael 1999: Probleme und Perspektiven der Berliner Republik. Münster
Nachtwey, Oliver 2010: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus r e v i s i t e d. In: Karina Becker u. a. (Hg.): Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Frankf. M.
Reich, Wilhelm 1971: Die Massenpsychologie des Faschismus. Frankf. M.
Sandleben, Guenther (2011): Finanzmarktkrise – Mythos und Wirklichkeit. Wie die ganz reale Wirtschaft die Krise kriegt. Norderstedt
Meinhard Creydt
Linksradikalauernde Heimatvertriebene auf der Suche nach ihrem Plätzchen im Paralleluniversum
1) Der Aufruf von Prütz und Schilwa für ein neues Sammelbecken ist ein zusammengestoppelter und undurchdachter Text, ohne Analyse, ohne auch nur e i n e neue Idee, zusammengehalten von einem unernsthaften Ton und einer Rhetorik, als gelte es, Jugendliche zum Aufräumen ihres Zimmers zu bewegen. „Arschhoch“ lautet dann auch der Name ihres blogs.
2) Prütz und Schilwa als Vertreter einer falschen und gescheiterten Politiksimulation (zuletzt in BASG, WASG, PDS, Schilwa auch noch in der SAV) sollten erstmal ihre Fehler aufarbeiten und nicht unbekümmert neuen Unsinn treiben nach der Devise: Was schert mich mein Geschwätz von gestern. Zur von Prütz und Schilwa betriebenen kontraproduktiven WASGkandidatur in Berlin 2006 vgl. den Anhang. WASG Berlin und BASG Berlin waren kurz darauf ein Scherbenhaufen. Unseren Strategen geht es eher um ihre Geschäftigkeit als darum, sich von ihrem desolaten Wirken, das sie ansprüchelnd Politik nennen, Rechenschaft abzulegen.
3) Die Zielgruppe, die sie mit ihrem neuen Sammelbecken erreichen könnten, sind naive Gemüter und politikante Gschaftlhuber&Wichtigtuer. (So ist es denn auch kein Zufall, dass der einzige bisher öffentlich aufgetretene Verteidiger des neuesten Prützprojekts außerhalb von Berlin-Schöneberg, Frank Braun, sich vorstellt als Vertreter einer politischen … „Konsultativgemeinschaft“.)
4) Eine prägnante Situation, in der deutlich wurde, mit wem man es zu tun hat, war Michael Prütz’ Auftritt bei einer Veranstaltung ‚Linke in der PDS’ am 18.6.2002 im alten ND-Gebäude am F.Mehring-Platz in Berlin. Sein jahrzehntelanger Politfreund, Harald Wolf, sollte Wirtschaftssenator werden. Prütz berichtete bräsig und voller Stolz über seine Nähe zur Prominenz, wie er „noch vor zwei Monaten mit Harald zwei Flaschen Wein getrunken“ habe. „Dass Harald Senator wird, das kann ich nicht verstehen.“ Genau das ist die Logik von Prütz und den Seinen: Das Nicht-Verstehen gilt ihnen als Urteil. Sie begreifen nicht die innere Logik eines bestimmten Politikmodells (in diesem Fall die des auf den parlamentarischen Betrieb setzenden Berufspolitikers Harald Wolf). Unsere enttäuschten Liebhaber skandalisieren dann als „Verrat“, was die konsequente Fortsetzung dieser Politik ist, nur i h n e n aber als nicht verträglich mit der Idealisierung gilt, die s i e sich von dieser Politik zurecht gelegt haben.
5) Vom allerneuesten Prützprojekt (Berliner Szenekundige stöhnen: „Bitte nicht schon wieder!“) ist bestenfalls die Fortsetzung von Kampagnenpolitik und das Hüpfen von einem Thema zum nächsten zu erwarten. Interventionismus eben im Unterschied zu einer kontinuierlichen Arbeit i n zentralen gesellschaftlichen Bereichen. Zur Logik dieser zwei verschiedenen Politiktypen vgl. Creydt: „Voluntarismus und Materialismus in der Linken“. Kein Wunder, dass Prütz, Schilwa und Braun dazu nix einfällt.
6) „Seit 1992 ist meine politische Heimat die PDS“ (Prütz auf der Website der PDS-Berlin 2001). Wer ein Heimatvertriebener ist, der braucht einen Vertriebenenverband.
7) Die Ressentiments von Uniabsolventen wie Prütz und Schilwa gegen theoretische Arbeit und ihre pseudosouverän artikulierte Unfähigkeit, sich mit der vorliegenden Kritik an ihrem vollmundigen Agieren auseinanderzusetzen, zeigen, worum es ihnen geht: Praktizismus und Gesinnungsgeklüngele. Linksradikales Schlesiertreffen. Also Neuauflage dessen, wofür sie auch die letzten Jahre standen. Sie wollen vor sich hinsülzen wie am Stammtisch, reden genauso privat in der Öffentlichkeit (s. ihre Sprüchesammlung) und erleben Kritik als Störung des Standpunkts, auf dem sie stehen bleiben und sich einrichten wollen.
Fazit:
Dass notorische Politmacker ihr Plätzchen im Paralleluniversum suchen, ist alles andere als „neu“. „Antikapitalistisch“ geht nicht ohne Analyse und begriffliche Arbeit. Und „Organisation“? Ein Verein, in dem Prütz, Schilwa und ähnliche Spezialisten das Wort führen, der hält nicht lange.
Anhang: Zur Berliner WASG-Kandidatur 2006
„Der Glaube, man könne momentan auf der partei- und wahlpolitischen Ebene der Senatspolitik der PDS erfolgreich entgegentreten, droht in politischer Bedeutungslosigkeit zu
enden und wird das Gegenteil des Gewollten hervorrufen.
Was hat die WASG mit einer eigenständigen Kandidatur ihren potentiellen Wählern denn zu bieten? An eine Änderung der Senatspolitik durch den Einzug einiger ihrer Parlamentarier
kann doch nicht einmal die WASG selbst ernsthaft glauben. Der Austausch des SPD/PDS-Senats durch eine große oder sonstige Koalition wird auch zu keiner Veränderung
der Abbau- und Sparmaßnahmen führen. Und welche Perspektive hat eine eigenständige Berliner WASG mit einer möglichen Parlamentsfraktion, wenn sie doch in spätestens
anderthalb Jahren nach den Äußerungen aller Kontrahenten in der Gründung der gemeinsamen Partei auf Bundesebene aufgehen soll? …
Die WASG Berlin hat sich … bei ihrer Auseinandersetzung mit der Senatspolitik von einem Votum der Wähler abhängig gemacht. Sollten sie ihr angestrebtes Wahlziel (5 Prozent plus X) verfehlen, so stehen sie ohne ‚Truppen’ da. Die Gegenseite wird dies als ihren Erfolg verbuchen. …
Über ein außerparlamentarisches Standbein wird die WASG, sollte sie die 5-Prozent-Hürde nehmen, nicht verfügen. Zusammengehalten wird sie von der Ablehnung der PDS-Politik im Senat, eine gemeinsame politische Grundlage darüber hinaus ist unter den verschiednen Strömungen innerhalb der Berliner WASG-Mehrheit nicht auszumachen.
Um der Senatspolitik – und damit auch der Linkspartei. PDS – in Berlin wirksam entgegenzutreten, bedarf es des außerparlamentarischen und betrieblichen Widerstandes.
Die Opfer bzw. Betroffenen der Senatspolitik müssen sich selber einmischen. Für uns bleibt die Unterstützung auch kleiner Ansätze in diese Richtung – über die Grenzen parteipolitischer
Zugehörigkeit und persönlicher Überzeugungen hinaus – die wichtigste praktische Aufgabe. Die Diskussionen über die dabei gemachten Erfahrungen tragen mehr zur Herausbildung von politischem Bewusstsein bei, als die Debatten auf der wahl- und parteipolitischen Ebene. Die
werden, so ist zu befürchten, von den Befürwortern der Senatskoalition in der Linkspartei.PDS benutzt, um sich der Kritiker ihrer Regierungsbeteiligung zu entledigen“ (‚Arbeiterpolitik’, 47. Jg., 2006, H. 1, S. 11).
Oskar Negt zur Orientierung von Linken auf Wahlkämpfe: „Sie verschlingen viel Energien und bezeichnen eher einen Austausch von Legitimationen als einen politischen Produktionsprozess“ (Negt 1980). Es geht aber um die „Schaffung von Infrastrukturen“, um Beziehungsnetze, in denen Lernprozesse erst möglich sind. „Für die Schaffung dieser Infrastrukturen wäre jedoch ein politischer Produktionsprozess erforderlich, nicht der Schlagabtausch von Ideen. Zwar ist der ideologische Kampf nicht unwichtig für die Gewinnung von Unentschlossenen, aber erfolgreich ist er nur zu führen unter Bedingungen relativ fester Basisstrukturen“ (Ebd.).
1Vgl. trend onlinezeitung 3/2011.
2 Die wochenlang angekündigte Veranstaltung zeigte mit ihren 30 Teilnehmern eine erwartbare Zusammensetzung: Ein gutes Drittel Anhänger trotzkistischer oder anderer politischer Gruppen. Abwesenheit von erfahrenen Kollegen, die in sozialen Auseinandersetzungen einen vorwärtstreibenden Beitrag leisten, und von schon länger politisch tätigen Linken.
3 Dabei sprechen doch auch viele Linke penetrant von einer Krise des Finanzmarktkapitalismus und unterscheiden diesen beflissen von der „kapitalistischen Realwirtschaft“. Vgl. zur Kritik daran jüngst Sandleben 2011. In der Bevölkerung kann von einer nicht mehr zu reparierenden Legitimationskrise nicht die Rede sein. „Bei einer globalen Umfrage im Auftrag der BBC in 23 Ländern sprachen sich (2009 – Verf.) 23 % der Befragten für ein grundsätzlich anderes System aus, in Deutschland waren es nur acht Prozent. Mehr als 75 % halten in Deutschland den Kapitalismus zwar für grundsätzlich regulierungsbedürftig, aber auch … reformierbar“ (Nachtwey 2010, 373). Der Umfrage „ARD-Deutschlandtrend“ vom März 2010 zufolge denken über 50 %, dass die Krise von denen mit verursacht wurde, die den Sozialstaat ausnützen. Über 60 % sind der Auffassung, in Deutschland werden zu viele schwache Gruppen mitversorgt.
4 „Ein Bewusstsein, das eine Sache auftut, macht vielmehr die Erfahrung, dass die anderen, wie die Fliegen zu frisch aufgestellter Milch herbeieilen und sich dabei geschäftig wissen wollen, – und sie an ihm, dass es ihm ebenso nicht um die Sache als Gegenstand, sondern als um die seinige zu tun ist“ (Hegel 3, 310).
5„Materialismus“ bezieht sich in diesem Text auf etwas anderes als „Dialektischer Materialismus“ oder „Erst kommt das Essen, dann die Moral.“ Vgl. dazu auch Creydt 2007.
6 Allerdings ist z. B. der LO-Text von 1985 „Unsere Politik in der trotzkistischen Bewegung“
(vgl. http://www.sozialistische-arbeiterstimme.org/IMG/pdf/Unsere_Politik_in_der_trotzkistischen_Bewegung.pdf) eine für die in diesem Artikel behandelten Fragen lesenswerte Argumentation.
7 Vgl. Creydt 1999. Wilhelm Reich hat eine politische Orientierung auf eine im engen Sinne verstandene Arbeiterklasse bereits 1933 kritisiert. „Der auf die Industriearbeiterschaft politisch-ideologisch eingeschränkte Begriff der ‚Arbeiterklasse’ hat den Industriearbeiter vom Techniker und Erzieher entfernt und die Vertreter verschiedener lebensnotwendiger Arbeitsprozesse einander feindlich gegenüberstellt. Diese Ideologie hatte es sogar zuwege gebracht, die Ärzteschaft und Lehrerschaft etwa als ‚Knechte der Bourgeoisie’ dem ‚revolutionären Proletariat’ unterzuordnen“ (Reich 1971, 374).
8 Für konkretere Überlegungen, um welche Kräfte es sich handeln könnte, vgl. Creydt 1999, 1999a, 2008.
9 Eines Tages traf ich den türkischen Hausmeister des Mietshauses, in dem ich damals wohnte, beim Fegen der Treppe und bemerkte seinen genervten Gesichtsausdruck. Auf die Frage, was los sei, bekam ich zur Antwort: „Immer diese Hundehaare.“ Auf meinen ebenso wohlgemeinten wie naiven Einfall, doch einmal mit dem Hundebesitzer im 4. Stock zu sprechen, war die Reaktion: „Was soll Hund schon machen?!“
10 „Revolutionär im Beruf statt Berufsrevolutionär“ hieß in den 70er Jahren die gegen die K-Gruppen gerichtete Maxime der „Arbeitsfeldpraxis“ (Sozialistisches Büro).
11 „Das Übel gedeiht hinter dem Ideal am besten“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit). Der Teufel steckt im Detail. Problematisch, weil umstritten und entscheidend, sind weniger die ersten Prinzipien als die „Inhalts- und Maßbestimmungen, die Reichweitenbestimmungen von Verbindlichkeiten, die ‚im Prinzip’ unstrittig sind und wo nur ein ‚Aber…’ auf dem Fuß folgt. … ‚Du sollst nicht töten’ – aber es gibt Konstellationen, in denen du es nicht nur darfst, sondern sogar sollst“ (Fleischer 1987, 113).
12Man(n) erinnere sich an die früher üblichen Verhandlungen zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. In ihnen ging es darum, sich angesichts konstruierter Dilemma-Situationen zu verhalten: „Du befindest Dich auf einem Spaziergang mit Deiner Freundin im Wald. Plötzlich kommen zwei Angreifer auf Euch zu. Einem entfällt seine Waffe. Benutzt Du sie nun, um …, oder nicht?!? Befolgst Du nun das P r i n z i p der Gewaltfreiheit oder?!? Wie könntest Du es mit Deinem Gewissen vereinbaren, dass Durch Dein Unterlassen Deine Freundin vor Deinen Augen zu Schaden kommt?“ Die öffentliche Debatte bspw. um die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg verlief auf Seiten der Befürworter weitgehend in der Logik einer solchen KDV-Verhandlung.
13 „Diese Leute müssen, um der proletarischen Bewegung zu nützen, auch wirkliche Bildungselemente mitbringen“ (MEW 34, 406).
14Vgl. zu diesem Thema Creydt 2001, 2009.