Über die Qualität eines Wesens ergibt der für es wesentliche Gegenstand oder sein Lebenselement Aufschluss. Beim Fisch ist es das Wasser, beim Präriehörnchen die Prärie und beim bewegungsorientierten Linken die Bewegung. Dementsprechend war auf der vom „Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West“ organisierten Veranstaltung vom 14.2. „Kommender Aufstand in Europa, Dauerflaute in Deutschland?“ im Berliner Haus der Demokratie von allerhand Bewegungen die Rede. Nun teilt sich die Bewegungslinke (bei allen Überschneidungen zwischen den drei Fraktionen) in jene, die über Bewegungen reden, in jene, die an ihnen teilnehmen, und in jene, die in Bewegungen diese voranbringen in Richtung einer Überwindung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Von auf diese letzte Frage bezogenen Erfahrungen und Wissen war auf der Veranstaltung am Valentinstag wenig zu erfahren. Statt eine Bewegung zu analysieren und sich auf e i n Thema zu konzentrieren, wurden allerhand unbegriffene Bewegungen miteinander lose in Verbindung gebracht, verglichen, „eingeschätzt“ und beschwatzt. Die Entropie steigerte sich noch dadurch, dass auch Publikationen zu den Bewegungen in die Themensuppe einbezogen wurden, so Hessels Manifest und das Buch „Der kommende Aufstand“. Vom Volksentscheid über die Wasserverträge in Berlin bis zur ehrfürchtig bewunderten „ägytischen Revolution“, von militanten Streiks französischer Arbeiter bis zur (Selbst-)Organisation von papierlosen Immigranten ließ sich alles mit allem verbinden. Man fühlte sich an Musils Beschreibung erinnert über Menschen in einem Salongespräch, die deshalb „in nichts ganz unrecht hatten, weil ihre Begriffe so unscharf waren wie Gestalten in einer Waschküche. … Man konnte von keiner ihrer Ideen eine Weile sprechen, ohne unversehens schon in die nächste zu geraten“ (Musil). Kein Wunder, dass dann im Publikum sich noch jeder Profilneurotiker zu abseitigsten Hinweisen eingeladen fühlte. Alle konnten sich wieder einmal frei aussprechen und bereits darin fand die Veranstaltung i h r Gelingen.
Mir geht es im Folgenden weniger um eine auf den Abend bezogene Auseinandersetzung als um einige über den Anlass der Veranstaltung hinausreichende, aber in ihr deutlich hervortretende typische Probleme in der Herangehensweise an soziale Bewegungen.
Zwar hat der bewegungsorientierte Linke dem parteiorientierten Linken die Begeisterung für das ungeregelte und eigendynamische Knospen und Wachsen von Bewegungen voraus und die Ahnung um negative Effekte von Organisationsbürokratien, Parlamentarismus usw. Zugleich bildet die Ehrfurcht vor dem mit fast religiösem Abstand verehrten Wesen ‚Bewegung’ die Grenze der in der Veranstaltung präsenten Bewegungsfaszination.
Dazu passt, dass notwendige Fragen ausblieben. Unaufgegriffen blieb der Hinweis von Roland Roth, dass viele heutige soziale Bewegungen für etwas kämpfen, das wir eigentlich schon mal hatten oder von dem wir dachten, wir hätten es schon gewonnen: Den Bahnhof über der Erde, der sog. Ausstieg aus der Kernkraft, ein öffentliches Wasserunternehmen. Soziale Bewegungen zeigten sich „eigentümlich ohnmächtig; wir trauen uns nicht mehr zu.“ Es gäbe kaum „progressive Utopie in Abwehrbewegungen“.
In Bezug auf die am Abend genannten Beispiele lässt sich im Telegrammstil ihrer Aufladung mit eigenen Hoffnungen widersprechen: Wenn „die“ Ägypter ihren Präsident wegjagen und dafür viel Einsatzbereitschaft, Ausdauer und Opfer zeigen, wenn französische Arbeiter ihre von Schließung bedrohte Fabrik besetzen, Bosse einsperren und die Präfektur demolieren, wenn Immigranten sich gegen ihre Ausgrenzung zusammenschließen und wehren – dann gibt es dafür anerkennenswerte Motive und der Widerstandsgeist und die Selbstorganisationspotentiale sind beachtlich. Im Unterschied zur Apathie der Individuen und zu starrflexiblen gesellschaftlichen Zuständen bewegt sich hier „etwas“. Eine ganz andere Angelegenheit ist die Frage, worin die Perspektive und der Beitrag solcher Prozesse für eine Infragestellung oder gar Überwindung kapitalistischer Verhältnisse bestehen. Wenn Ägypter ihren autokratischen Präsidenten wegdemonstrieren, dann nötigt ihr Widerstand gegen die Repression Respekt ab. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie halbwegs „normale“ Regierungsformen anstreben – also mehrheitlich bestenfalls in ihren Wünschen irgendwo zwischen moderat-islamischer Regierungspartei (Türkei) und europäischen Vorbildern schwanken. Wenn „illegale“ Immigranten sich gegen ihren Ausschluss zur Wehr setzen, dann doch deshalb, weil sie „normale“ Bürger des Einwanderungslandes sein wollen, mit Arbeitserlaubnis, Krankenversicherung, „normalen“ Löhnen und weniger Erpressungsmöglichkeiten durch den Arbeit“geber“. Wenn Arbeiter dagegen protestieren, dass ihnen die bisher gewohnte Möglichkeit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, entzogen wird, dann ändert auch die militante Form dieses Protestes nichts daran, dass das Ziel ist, wenigstens zu den vormaligen Bedingungen weiter nachgefragte Arbeitskraft bleiben zu können. „Die Selbstverteidigung ist die Antwort auf die Infragestellung der sozialen Integration. Doch eine Zukunft entsteht daraus nur, wenn die Betroffenen sich mehr zutrauen als die illusorische Wiederherstellung des ‚gesicherten’ Lohnarbeitsdaseins. Aus der Selbstverteidigung müssen kollektive Vorstellungen entstehen, die auf eine soziale Transformation zielen“ (Hajek 2007, 144).
Um diese realen Perspektiven der Bewegungen ging es am 14.2. wenig. Das Was&Woher, das Warum&Wozu von Bewegungen war kaum Thema. Vielmehr galten allerhand Bewegungen als Anzeichen oder Vorboten „der Bewegung“. Hauptsache Kampf! Die Bewegungen wurden weniger als das wahrgenommen, was sie sind, sondern eher als Symbole eines ebenso abstrakten wie in Großbuchstaben geschriebenen Wesens („Bewegung“), das in allen einzelnen seiner Manifestationen gottgleich nur unvollkommen oder gleichnishaft zu erscheinen vermag. Die illusionsfördernde Distanz zum unbestimmt gelassenen Objekt der eigenen Hoffnungen gründet im Willen, sich die Hoffnung nicht nehmen zu lassen. Irgendwie bewege sich allerhand (von Kairo bis zum Berliner Wasservolksentscheid), es entstehe etwas und dann könne ja vielleicht und hoffentlich auch mehr entstehen und wachsen. Man selbst ist jdf. dabei, drückt die Daumen und fasst die meist im ehrfürchtigen Kommentar verbleibende Anteilnahme als ebenso bescheidenen wie ehrenwerten Beitrag und als Ausweis dafür, mit dem Fortschritt des Guten in Verbindung zu stehen.
In Bezug auf das rebellische Frankreich blieb ungefragt, ob die ebenso periodischen wie gewitterhaften Entladungen von Konflikten – bei gleichzeitigem Nichtvorankommen eines nachhaltigen und belastbaren antikapitalistischen und den Kapitalismus überwindenden Netzwerks – nicht eine Art Rollendistanz bildet. „Zum Rollenbegriff kommt es überall dort, wo Handlungsabläufe und Situationseinschätzungen mit dem Bewusstsein verbunden sind, es könnte auch anders gehen, aber zugleich dies Bewusstsein nicht zu einem Handeln findet, das Änderung der als Fessel empfundenen sozialen Verhältnisse herbeiführen könnte, sondern reflexiv bleibt und die Distanz zwischen Handelndem und Handlung, zwischen Person und sozialer Lage, Spontaneität und institutioneller Ordnung zum Prinzip fixiert“ (Furth). Die französische Sorte der „bewegten“ Rollendistanz, so ließe sich ebenso versuchsweise wie thesenhaft zugespitzt formulieren, geht über die normale Rollendistanz hinaus, insofern sie sozusagen auch mal am Werktag den Sonntag praktizieren möchte. Der bewegte französische citoyen scheint es sich schuldig zu sein, sich einen Freiraum zu schaffen und ab und an ganz praktisch revoltär eine Atmosphäre des Abstandes zum normalen Leben zu bewerkstelligen. Nicht nur an Karneval. Und später können die Beteiligten, ihre Kinder und aufgeregte Kommentatoren von der nostalgischen Erinnerung an solche Ereignisse zehren. Man hat wie Asterix und die Seinen es dem Gegner gezeigt. Und das zu demonstrieren, das war dann jeweils – und immer wieder – der „eigentliche“ Erfolg.
Dass von dieser französischen Variante der Rollendistanz auf der Veranstaltung am Valentinstag keine Rede war, verwundert um so mehr, als just dieses Phänomen im Buch „Der kommende Aufstand“ angesprochen wird: „In Frankreich setzt man Himmel und Hölle in Bewegung, um in der Hierarchie aufzusteigen, aber privat rühmt man sich, keinen Finger krumm zu machen. Man bleibt bis zehn Uhr abends bei der Arbeit, wenn man überlastet ist, aber man hat nie Skrupel gehabt, hier und da Büromaterial zu klauen oder in den Betriebslagern Ersatzteile mitgehen zu lassen, die man bei Gelegenheit weiterverkauft. … Arbeit zu haben ist eine Ehre und Arbeiten ein Beweis für Unterwürfigkeit. … Man liebt mit Abscheu und man verabscheut mit Liebe. Und jeder weiß, welche Verblüffung und welche Verzweiflung den Hysteriker befallen, wenn er sein Opfer, seinen Meister verliert. Meistens erholt er sich davon nicht wieder“ (S. 25).
Aus der Kritik an Bewegungen folgt nicht, jene Erfahrungen und Prozesse der kollektiven Assoziation und Selbstermächtigung zu unterschätzen, die sich u. U. in Kämpfen ereignen und über deren unmittelbaren Zwecke hinausgehen. In einem Bericht über die 1973/74 monatelang besetzte Uhrenfabrik LIP in Frankreich hieß es: „Jeder hat etwas zu sagen, tritt aus der Menge heraus. Es herrscht eine Atmosphäre inniger Solidarität. Man trifft sich in den Fluren, in den Hallen, wechselt einige Worte; früher hat man sich das nicht getraut. Man beginnt, einander kennenzulernen. Man ist im selben Auto zum Flugblattverteilen gefahren. … Ich liebe dieses Klima der Zuneigung. Sie ist überall spürbar. Es gibt keine Schranken mehr zwischen den Leuten vom Verkauf, von der Härterei, aus den Büros, den Forschungsabteilungen, der Endfertigung. Wir kämpfen für die gleiche Sache. Man beginnt, einander zu beachten“ (Piton 1976, 32f.). „Das Aktionskomitee ist ein außerordentliches Diskussionsforum, wo alle zu Wort kommen können, alles vorgebracht werden kann. Scheinbar unbedeutende Dinge entpuppen sich als bereichernde Einsichten. Wir sprechen über das Verhalten im Kampf. .. Ich bin oft erstaunt gewesen über die große Phantasie der Leute. Einige, die ich für engstirnig und egoistisch hielt, erwiesen sich als großherzig und einfallsreich. Unter uns herrschte Freundlichkeit. Man muss duldsam sein, damit jeder sich ungehemmt ausdrücken kann.“ (Ebd., 34). „Wir haben in diesem Kampf erfahren, dass jeder ungeahnte Fähigkeiten entwickeln kann, wenn er nicht unterdrückt wird durch eine zusammenhanglose, aufgesplitterte Arbeitsweise“ (Ebd., 137, 271. Zu ‚Lip’ vgl. a. Wittenberg 1974). Die Frage ist, inwiefern Erfahrungen aus solchen Ausnahmesituationen insulär verbleiben und die Beteiligten später daran anknüpfen können. In einem Bericht über einen erfolgreichen Arbeitskampf heißt es, man habe erfahren können, „wie handfest eine gesamte Belegschaft – selbst die Kranken sind zu einer außerordentlichen Betriebsversammelung ins Werk gekommen – widerstehen kann. Dann herrscht für ein halbes Jahr, oder für noch eine längere Zeit, im Werk eine Atmosphäre, die von einer ganz anderen Situation geprägt ist als das normale Arbeitsleben. Ich sage jetzt mal, diese Depression der Konkurrenz tritt im und nach einem gemeinsamen Widerstand in den Hintergrund“ (Aus der Geschichte lernen, S. 38. Protokoll einer Veranstaltung 3.-4.Oktober 2009 in Berlin. Herausgegeben vom Arbeitskreis Forum Betrieb, Gewerkschaften und soziale Bewegungen – forumberlin@web.de. Es handelt sich um eine sehr lesenswerte Broschüre, die Erfahrungen aus den Septemberstreiks 1969, aus der Auseinandersetzung auf der Klöckner-Hütte Bremen 1969 und aus dem Streik bei Ford/Köln 1973 schildert und diskutiert.).
Das Überraschende und Raumeröffnende von Prozessen der kollektiven Assoziation und Selbstermächtigung wahrzunehmen, für die die beschriebenen Erfahrungen des LIP-Kampfes beispielhaft stehen, ist das eine. Etwas anderes ist es, Kämpfe allein als Anfang aufzufassen und als Einstieg in eine zu begrüßende Entwicklung. Faktisch sind Kämpfe oft mit Abbrüchen, Versanden und Niederlagen verbunden. Und es gibt keine List der Vernunft, die die Kämpfe notwendigerweise über die zunächst vorhandenen Ziele hinaustreibt und hoffnungsvolle Erfahrungen ermöglicht.
Die zunächst positive Erfahrung, die herrschenden Zustände wenigstens kurzzeitig zu stören oder gar in mehr oder weniger ausgedehnten Bereichen partiell außer Kraft zu setzen, erscheint oft im nachhinein als schöner Tagtraum, auf den das ihn dementierende dicke Ende folgt. Dies galt selbst und gerade für das in Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg sicher weitestgehende Beispiel kollektiver emanzipatorischer Assoziation und Selbstermächtigung – den französischen Mai 68. Gerade wer sich die Frage stellt, wie sich in Bewegungen die in ihnen bestenfalls enthaltenen Momente der kollektiven Assoziation und Selbstermächtigung ausweiten und verstetigen lassen, kommt nicht an der Frage nach den vielfältigen Ursachen für Niederlagen vorbei und muss sich deren demoralisierende Folgen vergegenwärtigen. Erschöpfung, Bitterkeit, gegenseitige Beschuldigungen und Spaltungen, Verwirrung und Desorientierung resultieren bei den Beteiligten a u c h aus der Schwierigkeit zu verstehen, warum erst so viel möglich zu sein schien und dann auf einmal nicht mehr. Die romantische Begeisterung für die frühlingshaften Anfänge hilft da wenig. Der Herbst erst bringt die Ernte.
Schön wäre es gewesen, auf der Veranstaltung etwas darüber zu erfahren, wie sich die französischen ‚Sud’-Gewerkschaften entwickelt haben. ‚Sud’ ist die Abkürzung für solidaire(s), unitaire(s), démocratique(s) – solidarisch, einheitlich, demokratisch. Es handelt sich bei diesen Gewerkschaften um „Interessenverbände von Lohnabhängigen, die sich nicht auf ihre Rolle als Lohnabhängige reduzieren (lassen) oder zurückziehen, sondern die sich als gesellschaftliche Produzenten begreifen, als Produzenten, die sich dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeit, den Bedürfnissen ihrer Konsumenten oder Nutzer verpflichtet fühlen. Nicht im Sinne einer ‚Kundenorientierung’, die nur an zahlungsfähigen Käufern interessiert ist, sondern im Sinne des Nutzens für eine größtmögliche Zahl von Menschen, gerade auch der ärmsten und bedürftigsten, im Interesse ihrer individuellen Entwicklung und sozialen Gleichachtung“ (Imhof 2002). Im Unterschied zu traditionellen Gewerkschaften konzentrieren sich die Sud-Gewerkschaften weder allein auf den Preis der Arbeitskraft und die Bedingungen ihrer Nutzung noch überlassen sie das Verhältnis der Arbeiten zu den Kunden den Unternehmen. „Der traditionelle Syndikalismus betrachtet das Kapitalverhältnis als seine Existenzbedingung und die Gesellschaft als etwas ihm Äußerliches, als abstrakt-übergeordneten Zusammenhang, in dem man halt lebt. Er stellt Ansprüche an die Gesellschaft, repräsentiert durch den Staat, aber er denkt nicht daran, im Namen der Gesellschaft Ansprüche an die eigene Arbeit zu stellen. Der Typ Syndikalismus, den die Sud-Gewerkschaften repräsentieren, betrachtet umgekehrt die Gesellschaft als praktischen Zusammenhang der Menschen, in dem die Lohnabhängigen nicht nur Objekte, sondern zugleich tätige Subjekte, gesellschaftliche Produzenten sind und in dieser Eigenschaft das Kapitalverhältnis und die es schützende Politik als Hindernis, als ‚Ballast’ (Gramsci) erleben“ (Imhof 2002). Der lesenswerte Artikel von Werner Imhof über die sud-Gewerkschaften erschien in: express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit und ist im Netz zu finden unter:
E i n für den Übergang von Bewegungen zu einer anti- bzw. nachkapitalistischen Perspektive wesentliches, auf der Veranstaltung aber komplett ausgespartes Moment besteht in einem kohärenten und realitätsnahen Strukturmodell anderen Wirtschaftens. Die Kritik gegenwärtiger “Sachzwänge” bleibt blockiert, wenn letztere zwar vielleicht als bedauerlich, aber unumgänglich gelten und die ökonomische Eigenlogik als unüberwindbar angesehen wird. Lediglich deren negativste Effekte sollen dann abgemildert werden – so ja auch letztlich der praktische Horizont der „Linkspartei“. Umso interessanter ist eine dies durchkreuzende, hierzulande aber fast unbekannte angelsächsische Diskussion über Partizipatorische Planung und die Sozialisierung des Marktes (vgl. Creydt 2001). „Wenn Leute für sozialistische Politik gewonnen werden sollen, werden sie imstande sein müssen vorauszusehen, was Sozialismus sein könnte. … Ein Grund der gegenwärtigen Schwäche der europäischen Linken ist ihr Unvermögen, in ausreichendem Detail zu spezifizieren, was ihre alternative Vision beinhaltet und wie sie mit den mannigfaltigen Komplexitäten des sozialen Lebens in modernen Gesellschaften umgeht.” (Breitenbach et. al. 1990, IX)
Der Mangel an alternativen Konzepten für moderne Gesellschaften wird von vielen Linken viel zu wenig als Problem wahrgenommen. „Teil des Problems ist der Verlust von glaubwürdigen Mobilisierungsparolen, der Vision von einer besseren Zukunft, von gesellschaftlichen Utopien. Die Herstellung von Solidarität ist zwar teilweise eine Frage organisatorischer Fähigkeiten, aber ähnlich grundlegend ist diese auch Teil des Kampfes um Ideen. Die Krise des klassischen Gewerkschaftsgedankens drückt sich nicht nur in offensichtlichen Formen von abnehmender organisatorische Stärke und Effizienz aus, sondern ebenso in der Erschöpfung der traditionellen sozialen Diskurse und der Unfähigkeit, auf neue ideologische Herausforderungen angemessen zu antworten“ (Hyman 2001, 173). Überlegungen zum Thema „Sozialismus heute – Notwendige Essentials einer nachkapitalistischen Gesellschaft“ finden sich im gleichnamigen Artikel auf meiner Internetseite www.meinhard-creydt.de.
Letztendlich blieb es auf der Veranstaltung bei einer niveaugleichen Gegenposition zum Pessimismus. Ihm gelten „schnellmürrische Urteile über das Zerbrechlichste schon für Erfolge der Kritik“ (Sloterdijk). Pessimismus u n d Optimismus lassen sich in Bezug auf Bewegungen nicht ein auf eine genaue Bestimmung der Widersprüche, der Gelegenheitsstruktur, der Potenziale, der Eigendynamik von Bewegungen sowie der Schranken und Grenzen, die den Bewegungen durch Bewusstseins- und Subjektivitätsformen und Ressourcen gesetzt sind, und der Gegenkräfte sowie des Absorptionspotentials von Rechtsstaat und Parlamentarismus. Starke Tendenzen eines selbstgenügsamen Wunschdenkens sozusagen als Aufmunterung in den Mühen des Alltags waren auf der Veranstaltung zu spüren. „Ein vager Wunsch hat den Vorteil, dass er als Erwartung, als Hoffnung bestehen bleibt, die beim Transit durch die Schlafstädte, wo das Provisorium zum Dauerhaften wird, den Kopf hochhalten hilft. Dieser vage Wunsch, der eine Brücke über die Gegenwart schlägt, will nichts von dem Nein wissen, das die Wirklichkeit ihm entgegensetzt“ (Errata – Zeitschrift für kritische Sozialität). „Jeder war so ausschließlich mit seinen Hoffnungen beschäftigt, dass ihm nichts, was ihnen widersprach, jemals wahr eindeutig und spürbar genug erschien“ (Ben Johnson).
Von den vielfältigen Formen und Logiken der Absorption, der sich Bewegungen durch die parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat ausgesetzt sehen, sprach auf dem Podium (Roland Roth, Willi Hajek, Bernd Gehrke und Lutz Schulenburg) einzig Lutz Schulenburg mit Hinweisen auf die Grünen und auf die Legitimation von „Stuttgart 21“ durch das demokratische Verfahren. Demgegenüber ergingen sich viele RednerInnen in der Klage über die Verlotterung der Herrschenden, die selbst rechtsstaatlich-demokratischen Normen nicht genügen würden. Zudem plädierten fast alle dafür, die in der bürgerlichen Demokratie immer schon angelegten Ideale gegen die realen Zustände zu wenden. Wie auch sonst in der Linken war auf der Veranstaltung die säuberliche Trennung zwischen der schlechten Realität und den guten Werten beliebt. Trotz der nahe liegenden Einwände: „’Die allgemeine Roheit ist heute unerträglich. Aber weil sie es ist, muss auch die Güte falsch sein! Die beiden hängen ja nicht wie auf einer Waage zusammen, wo ein Zuviel auf der einen Seite einem Zuwenig auf der andern gleich ist, sondern hängen zusammen wie zwei Teile eines Körpers, die miteinander krank und gesund ist. Nicht ist also irriger’, fuhr er fort ‚als sich einzubilden, wie es allgemein geschieht, dass an dem Überhandnehmen böser Gesinnung ein Mangel an guter schuld sei: im Gegenteil, das Böse wächst offenbar durch das Wachsen einer falschen Güte’“ (Musil).
Die in die bürgerlichen Ideale investierten Hoffnungen lagen den RednerInnen zu sehr am Herz, als dass sie desillusionierende Analysen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zur Kenntnis nehmen wollten. Solche Analysen zeigen den Beitrag dieser Werte und der Menschenrechte zur Affirmation der bestehenden modernen bürgerlichen Gesellschaft und zur Verstrickung in sie. Ich füge den diesbezüglichen Abschnitt einer Demokratiekritik (in: Streifzüge H. 41, 2007, H. 42 2008) im Anhang an. Zur Gerechtigkeit vgl. meinen Artikel: Das Elend der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als normatives Pendant sozialen Elends. (in: Streifzüge 34, 2005, Wien). Willi Hajeks Hinweis, soziale Bewegungen müssten sich neue soziale Formen schaffen (im Unterschied zu klassischen Gewerkschaften und Parteien), wurde nicht weitergedacht zur Frage, inwiefern demokratische Standards zwar gewiss nicht unterschritten, wohl aber in Bezug auf eine Neuvergesellschaftung progressiv überstiegen werden müssen. Einstiegshalber ließe sich Benjamin Barbers Buch „Starke Demokratie – Über die Teilhabe am Politischen“ (Hamburg 1994) zur Kenntnis nehmen.
Gewiss: Kein Opernkritiker muss selbst auf die Bühne steigen und die Arien besser schmettern. Um aber dem Bedürfnis nach „Positivem“ entgegenzukommen, möchte ich auf eigene Überlegungen zur Beförderung sozialer Bewegungen in Richtung der Infragestellung und Überwindung kapitalistischer Verhältnisse hinweisen:
Probleme nichtsubalterner Basispolitik. (In: Grün-Links-Alternatives Netzwerk Ruhrgebiet (Hg.):’Grün-links-alternative Perspektiven für NRW ?!’ Dortmund 1999 und in: Andere Zeiten 6/99). Vgl. den Artikel zur Selbstkritik professioneller Tätigkeiten in: Utopie Kreativ, H. Juni 2008. Vgl. zum Doppelcharakter moderner kapitalistischer Gesellschaft und zum Verhältnis zwischen Form und Ereignis: M. Creydt, Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M. 2000, S.216-36.
Die angeführten Artikel finden sich auf der Netzseite www.meinhard-creydt.de.
Literatur:
Breitenbach, Hans/ Burden, Tom/ Coates, David, 1990: Features of a Viable Socialism. New York
Creydt, Meinhard 2001: Partizipatorische Planung und Sozialisierung des Marktes. Aktuelle Modelle in der angelsächsischen Diskussion. In: Widerspruch (Zürich), Bd. 40, 2001. Andere Varianten in: Marxistische Blätter 3/2001, Volksstimme Nr. 45/2000, Berliner Debatte Initial Nr.3/ 2001
Hajek, Willi 2007: Selbstverteidigung, Selbstermächtigung, Selbstbestimmung – Deutsch-französische Einblicke. In: Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus. Berlin
Hyman, Richard 2001: Understanding European Trade Unionism. Between Market, Class & Society. London
Piton, Monique 1976: Anders leben. Chronik eines Arbeitskampfes: LIP Besancon. Frankf.M
Wittenberg, David 1974: LIP – Neue Kampfformen und Öffentlichkeit. In: Ästhetik und Kommunikation, Bd. 15/16
Anhang:
M. Creydt: Die Grenzen der Demokratie. In: Streifzüge H. 42, Wien, 2008
§19
Die Grund- und Menschenrechte zentrieren sich um den Schutz des Individuums, beinhalten Abwehrrechte gegenüber Übergriffen und formulieren die berechtigte Sorge, dass die lebensweltlichen Belange der Individuen unter die Räder der systemischen Eigendynamiken und -interessen (von Kapitalen, Organisationen, Institutionen) kommen und dass die unabhängig von den Individuen in Techniken und Organisationen verkörperte objektive Kultur die subjektive erdrückt. Zugleich finden die Grund- und Menschenrechte in der Perspektive des vereinzelten Einzelnen ihre Grenze. Fokussiert auf die Verletzlichkeit des Individuums kann nur unendlich ein Abwehrkampf geführt werden. Die meisten Verfechter der Grund- und Menschenrechte affirmieren die Scheidung zwischen einer von den Menschen nicht selbst substanziell gestaltbaren Sphäre der Organisationen, Institutionen und Systeme und deren nur äußerlicher Einschränkung durch lebensweltliche Belange. Insofern die konstitutiven Bedingungen der Möglichkeiten der Verletzungen der Individuen der Bearbeitung entzogen sind, missrät Menschen- und Grundrechtepolitik zu einer Art „aktiven Resignation“ (Narr 1984) und zur schlecht unendlichen, weil reaktiven Aufgabe.
Die Konzentration auf die Verletzlichkeit der Individuen lässt diese nicht in ihrer sozialen Assoziation (s. Abschnitt 20) als mögliche Gestalter ihres gesellschaftlichen Lebensprozesses erscheinen und macht Grund- und Menschenrechte zu einer Art Armenrecht der vereinzelten Einzelnen. „Infolge der individualistisch-asozialen Verkürzung der Menschenrechte kommen die politisch-sozialen Teilnahme- und Handlungsrechte allenfalls zweitrangig hinzu“ (Narr 1984,92). Der im Mitleiden mit Unglücksfällen in letzter Zeit prominent gewordene Kult um die Verletzlichkeit und das Opfer knüpft an der Passivität an und artikuliert Ansprüche weniger in Bezug auf das, was das jeweilige Individuum getan hat. Was ihm angetan wurde, was ihm als Objekt widerfuhr – dies ist vielmehr der Dreh- und Angelpunkt einer Kultur, die sich ostentativ abgeklärt gibt, was alle Ansprüche an aktives gesellschaftlich gestaltendes Handeln angeht (vgl. Furedi 1997).
§ 20
Das den Grund- und Menschenrechten immanente Leitbild des autonomen Subjekts findet seine Grenze an dessen innerer Verknüpfung mit dem herrschenden Zurechnungsmodus für Geschäfts- und Privatsubjekte (von Erfolg, Schuld, Versagen), der Selbstbestimmung, -verantwortung und -bezichtigung amalgamiert. Die eben auch Selbstabschließung (homo clausus) und Selbstherrlichkeit beinhaltende Ichautonomie stellt die soziale Assoziation infrage, die für eine gesellschaftliche Gestaltung von Gesellschaft notwendig wäre. Ichautonomie beinhaltet eben auch das Leitbild eigener Vollkommenheit im Unterschied zu sozialer Bezogenheit und Ergänzungsbedürftigkeit, die Praxis des Einzelkämpfers und Kleinproduzenten, die Transformation von Gestaltungsbedürftigem und -fähigem in individuell Aneigenbares und Manipulierbares und schließlich die selbstwertdienliche Verformung von Selbst- und Fremdwahrnehmung (Selbstüberhöhung, Abwertung anderer). Das Leitbild der individuellen Unabhängigkeit schiebt sich gesellschaftlich vor die Aufmerksamkeit für die institutionelle Unterfütterung von intersubjektiver Verlässlichkeit und kollektiver Lernfähigkeit. Gegenüber dem im linksliberalen Milieu hegemonialen Leitbild des autonomen, ichstarken Ich möchte ich hier kurz die Perspektive einer partizipatorischen, auf Kooperation, Sozialität (vgl. dazu auch die Zeitschrift Errata) und Assoziation ausgerichteten Gesellschaftsgestaltung durch die Mitglieder der Gesellschaft km Telegrammstil konturieren. Es geht um die Überwindung einer gesellschaftlichen Dreiecks-Konstellation, die sich zusammensetzt aus Vereinzelung, aus Etatismus und aus durch die Gesellschaft nicht gestaltbaren, selbstbezüglich-eigendynamisch verselbständigten Prozessen. Perspektivweisend ist demgegenüber der tätige Bezug der Menschen, die gemeinsam das Gemeinsame gestalten und einander die jeweiligen sozialisatorisch erworbenen und sich an spezifische soziale Positionen und Lagen ankristallisierenden blinden Flecken kooperativ-hilfreich-unterstützend ‚rückmelden’.
Sich zusammen mit anderen verwirklichen wollen, weil man/frau auch nur so (nicht nur faktisch, sondern substantiell) dazu in der Lage sind, bedeutet keine (‚basisdemokratische’) Unmittelbarkeitsfiktion, sondern die Bezogenheit der Menschen aufeinander in der gemeinsamen Gestaltung der sie vermittelnden objektiven Mitten (der Arbeiten, der Gegenstandswelt, der Organisationen, Institutionen und sozialen Strukturen). Weniger die moralische Mobilmachung des Subjekts ist das Problem, als vielmehr das Unterfangen, die Strukturen zu gestalten, in denen wir leben (s. Abs. 2, 3). Erst im dafür notwendigen Umbau sozialer Systeme stellt sich auch die Frage nach der Verringerung verdinglichter und verdinglichender Sozialbeziehungen. Es geht darum, ein Syndrom vielfältig miteinander verwobener Phänomene unnotwendig werden zu lassen: den Besitzindividualismus, die individuelle Vorteilsnahme zu Lasten anderer, die Konkurrenz, den Spezialistendünkel und Ressortegoismus, die Distinktion, den Narzissmus der kleinsten Differenz, den Egozentrismus und die neurotische Selbstbehauptungsguerilla. „Nur die Überwindung des Ich, die eine Überwindung sowohl der Ichlosigkeit als auch der Ichhaftigkeit ist, stellt uns in die Ichfreiheit … . Ichfreiheit ist Freisein vom Ich, ist nicht Ich-Verlust oder -Verzicht, ist nicht Ich-Mord, sondern Ich-Überwindung” (Gebser 1973, 677). Zu überwinden ist mit der „Realutopie eines größeren Ich“ der ‚homo privatus’, der „eines wesentlichen, sinngebenden Elements seines Daseins beraubt ist, wenn er am Schicksal eines größeren Ganzen keinerlei aktiven, mitgestaltenden Anteil nehmen kann” (Vilmar, Runge 1986, 104). Es geht um ein „allgemeines Leben“ (Hegel Bd. 7, § 258, 260f., 308, vgl. a. Theunissen 1981), um „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (Hegel 3, 145), um die „Produktion der Verkehrsform selber“ (Marx).
Das Leitbild des autonomen Individuums übergeht den konstitutiven „Entwicklungsverzug des kollektiven Bewusstseins einer ganzen Gesellschaft” (Kilian 1971, 7). Um ihn aufzuheben, ist „eine prozessgerechte Selbststeuerung der individuellen und kollektiven Entwicklung” nowendig (ebd., 21). „Das egozentrische Weltbild ist angesichts der Amplifikation des gesellschaftlichen Feldes tatsächlich zum Weltbild eines ‚unterentwickelten’ Bewusstseins abgesunken, welches angesichts seines Mangels an integrativer Kompetenz und systemtranszendierender Potenz eher als das herrschende ‚Unbewusstsein’ denn als das herrschende ‘Bewusstsein’ der Gegenwart bezeichnet werden sollte” (ebd., 171). Die „zeitgenössischen Generationen leben inmitten einer kollektiven Identitätskrise, ohne dass die betroffenen Menschen die positive Aussicht auf eine sich neu bildende kollektive Identität und auf einen Zuwachs an kollektiver ‚Menschlichkeit’ wahrnehmen können” (ebd. 22). Auch wenn Adorno an die Ruine des idealisierten und emphatisch vorgestellten frühbürgerlichen Subjekts fixiert bleibt, findet sich in der ‚Kritischen Theorie’, wenn auch marginal, die Ahnung vom emanzipatorischen Begriff des Gattungswesens. Adorno spricht vom Missverhältnis zwischen der Kraft des Einzelnen und den Kräften, über die er technisch gebietet, das so lange unumgänglich sei, wie die „individualistische Organisationsform der Gesellschaft kollektive Verhaltensweisen ausschließt, die vielleicht subjektiv dem Stand der objektiv-technischen Produktivkräfte gewachsen wären“ (1958, 145). „Die Emanzipation des Individuums ist keine Emanzipation von der Gesellschaft, sondern die Erlösung der Gesellschaft von der Atomisierung“ (Horkheimer 1974, 130).
§ 21
Wer Menschenrechte auf soziale Rechte ausweiten möchte, sieht sich vor Schwierigkeiten gestellt, die im prinzipiellen Unterschied zwischen beiden gründen. Die Einfachheit der menschenrechtlichen Imperative, etwas zu schützen, das als vor- und überstaatlich existierend erscheint (Leben, Bewusstsein, Gewissen, Denken, Willen und Initiative des Menschen) und als unverfügbar gilt, geht verloren, wenn das zu Schützende erst hergestellt werden soll. Die Verwirklichung sozialer Grundrechte ist in ganz anderem Umfang als die der Schutz- und Abwehrrechte von finanziellen Mitteln abhängig. Ein grundsätzliches Votum für soziale Rechte ergibt keine Antwort auf die unter der Voraussetzung von knappen finanziellen Mitteln notwendig entstehende Frage nach der Gewichtung, in der die verschiedenen sozialen Rechte befriedigt werden sollen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht spricht von der „Weite und Unbestimmtheit“ des Sozialstaatsgrundsatzes. Ihm lasse sich „kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft“ (BVerfGE 82, 60 (80)). Zudem stehen soziale Grundrechte im Gegensatz zum Grundrecht auf Eigentum, freie Berufswahl, Gewerbefreiheit. Das ‚Recht auf Arbeit’ ist insofern gewährleistet, als niemand einen anderen davon abhalten kann, eine Arbeit aufzunehmen, jeder darf seine Arbeitskraft verkaufen. Vom Recht auf Arbeit ist zu unterscheiden das Recht auf Beschäftigung, das erst die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes beinhalten würde. Der Staat in der kapitalistischen Moderne unterscheidet sich vom Staat im sog. Realen Sozialismus, insofern einzig letzterer ökonomisches Subjekt der Gesellschaft zu sein beansprucht.
§ 22
Bekommen Menschenrechte aus der ihnen eigenen Begrenzung heraus sozialökonomische Verhältnisse nicht in den Blick, so liegt es nahe, den Grund für die Verletzung der Menschenrechte im ‚Bösen’ zu verorten. Menschenrechte eignen sich dann als höherer Rechtstitel und unanfechtbare Berufungsinstanz für Interventionen gegen dieses seiner sozialen Konstitution enthobene Böse. Menschenrechte und Demokratie gelten dann als „Dämme gegen die Selbstzerstörung” (Krockow 1987). Demut und Dünkel verweben sich. Die vermeintlich von Bescheidwissen herrührende Bescheidenheit, ja nicht ‚überansprüchig’ an die Frage der Veränderung von Gesellschaft heranzugehen, immunisiert auch gegen Kritik. Gegenüber der linkstraditionalen Gefahr der Unterschätzung der Menschenrechte „besteht heute allerdings fast die umgekehrte Gefahr. Menschenrechte und Demokratie werden geradezu als Sozialismus-Ersatz entdeckt. Die kapitalistische Weltökonomie wird mehr oder weniger knurrig als Prämisse hingenommen, die ‚realistisch’ nicht mehr in Frage gestellt werden könne” (Narr, Roth 1996, 302).
Die Menschenrechte weisen nicht allein das Moment des Schutzes der Menschen auf. Indem sie die Individuen voreinander, vor dem Staat, vor ihrer Intoleranz, vor dem Missbrauch der Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit schützen – all dies erscheint als ineinander übersetzbar –, unterstellen Menschenrechte diese Gefahren und schreiben sie zugleich fest, erscheint doch gestaltungspessimistisch die womöglich gesellschaftsverändernde Bearbeitung der Gefahren als Vertreibung des Teufels durch den totalitären Beelzebub. Die einzige Chance bestehe unter Voraussetzung der Gefahren in ihrer Abmilderung und Minderung. Steven Lukes schreibt in diesem Sinne, „dass die Menschenrechte eine Reihe existenzieller Tatsachen, die conditio humana betreffend, voraussetzen, etwa dass die Menschen stets mit der Böswilligkeit und Grausamkeit anderer zu rechnen haben, dass Ressourcen immer knapp sein werden, dass der Mensch den eigenen Interessen und denen seiner Nächsten stets den Vorrang geben wird, dass die Rationalität bei der Verfolgung kollektiver und individueller Ziele immer unvollkommen sein wird und dass niemals eine zwanglose Übereinstimmung hinsichtlich des Lebens und seines Sinns bestehen wird” (Lukes 1996, 40).
Der Realismus kippt um in eine Festschreibung der beklagten Tatsachen, er verzehrt seine Energie in der Kritik an den ‚Illusionen’ jener, die diese Zustände vermeintlich nicht ‚wahrhaben’ mögen, da sie sich mit ihnen nicht ‚abfinden’ wollen. Die demokratischen Verfassungen erscheinen als „Ketten, die sich die Menschen in gesunden Augenblicken selbst anlegen, damit sie in Tagen der Raserei nicht von eigener Hand sterben” (John Potter Stockton in Debatten über das Ku-Klux-Klan-Gesetz von 1871, zitiert nach Shute, Hurley 1996, 220). Unterstellt ist also eine recht labile geistig-moralische Konstitution, an der (und an deren sozialen konstitutiven Kontexten) nun selbst nicht gearbeitet wird, sondern die vielmehr vorauszusetzen ist und gegen die man sich mit Notmaßnahmen zu schützen hat. Das Bekenntnis zur Schwachheit, Endlichkeit und Unvollkommenheit der Menschen setzt sich nicht ins Verhältnis zur Erinnerung an die jeder Selbstvergesellschaftung entgegengesetzten Effekte der Dogmen von Sündenfall und Erbsünde. Der Gestaltungspessimismus verwickelt sich in den Widerspruch, das Bestehende gegen utopische Überforderungen zu verteidigen, dabei aber Argumente aufzubieten aus dem Umkreis einer pessimistischen Anthropologie oder einer skeptischen Geisteshaltung. „An die Freiheitsfähigkeit der Menschen wird immer weniger geglaubt” (Finckh u.a. 1997, 139). So wird im ‚Grundrechtereport’ ein der Beachtung der Menschenrechte abträgliches Moment genannt, ohne zugleich zu thematisieren, dass dieser die ‚menschliche Schwäche’ betreffende Vorbehalt zum Motivgrund der Menschenrechte (oder zumindest vieler ihrer Verfechter) zu gehören scheint.
Kommender Aufstand in Europa, Dauerflaute in Deutschland?
Tiqqun, Stephan Hessel und Sarrazin als Phänomene von Krisenbewältigung
Diskussionsveranstaltung des AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West
Während die kapitalistische Krise in anderen Staaten Europas soziale Kämpfe und Revolten von Island bis Griechenland auslöste und uns heute zu Zeugen der demokratischen Revolution vor der Haustür Europas macht, scheint die politische Situation in Deutschland stabil. In Frankreich erreichen Texte von Tiqqun oder Stephan Hessel zu Aufstand und Revolution inzwischen eine breite Öffentlichkeit, in Deutschland wurde das rassistische Pamphlet eines Sarrazin zum Bestseller. Doch ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland damit schon hinreichend charakterisiert? Bringen neue und alte Protestbewegungen nicht auch in Deutschland eine tiefe Krise der politischen Legitimation und Repräsentation zum Ausdruck?
Wie also steht es um die deutschen Protestbewegungen, welchen Stellenwert haben sie für die politische Stabilität des deutschen Kapitalismus? Werden sie abflachen oder sich radikalisieren? Und schließlich: Welchen Stellenwert haben die Texte von Tiqqun oder Stephan Hessel in unserem Nachbarland überhaupt?
Darüber diskutieren wir mit:
Willi Hajek (TIE Germany.org – Netzwerk Europäischer BasisgewerkschafterInnen)
Roland Roth (Komitee für Grundrechte und Demokratie, erforscht als Hochschullehrer die Neuen Sozialen Bewegungen)
Lutz Schulenburg (Nautilus Verlag Hamburg, deutscher Herausgeber von “Das unsichtbare Komitee: Der kommende Aufstand”)
Moderation: Bernd Gehrke (AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West)
Zeit und Ort:
14. Februar 2011, 19.00 Uhr
Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4
(MetroTram 3/4 vom Alex)
Die Veranstaltung wird von der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte sowie vom Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung mit Mitteln der Lottostiftung des Landes Berlin gefördert