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Sie sind voneinander unabhängig, ergänzen einander, flankieren und stabilisieren sich gegenseitig. Sie besetzen bestimmte Terrains und konstellieren damit Anschlußzwänge und zeichnen andernorts dann nurmehr mögliche Denkbewegungen vor. Sie steuern, wie nach Ursachen und Hintergründen gefragt bzw. nicht gefragt wird und welche Zwecke bzw. Selbstdarstellungen der Akteure im Vordergrund stehen. Die Interpretationsfolien präjudizieren implizit, welcher Typus und welche Modelle von Handlungen perspektivweisend überhaupt in den Blick kommen, auf welche Instrumentarien zurückzugreifen und welche Zeithorizonte zu unterlegen sind. Die Argumentationsmuster filtern, welche Kritik am Krieg auf Gehör rechnen kann und wie die ‘anerkannten’ Bedenken Einwände absorbieren und die Hauptsache als mehr oder weniger akzeptabel ‘durchgehen’ lassen, ohne daß sich noch irgendjemand als unkritisch vorkommen müsste. Nicht einzelne Argumente gilt es also zu ‘widerlegen’, vielmehr die argumentativen Kräftefelder herauszuarbeiten, innerhalb derer die Argumente erst ‘Sinn machen’. Inhaltlich handelt es sich hier um die Hegemonie eines moralischen Diskurses, die Ausblendung bzw. Delegitimierung der Rede über sozialökonomische Verhältnisse, die Vorherrschaft einer pragmatistischen Nothilfeorientierung, die Fixierung auf staatliche Realpolitik und ein Menschenrechtsverständnis, demzufolge nach dem ‘Verlust der gesellschaftlichen Utopie’ Menschenrechte ‘Dämme gegen die Selbstzerstörung’ und den ultimativen Horizont der Thematisierung von Gesellschaft darstellen. Die Kritik ist insbesonders deshalb notwendig, weil die Interpretationsfolien über den unmittelbaren Anlaß des Kosovokrieges hinaus leider auch für die Zukunft Gültigkeit behalten dürften. Es geht darum, das Denken »vom subsumtiven Gehorsam« dadurch zu unterscheiden, daß es »das Vorgesetzte, die Frage nicht so beantworten muß, wie es aufgestellt wurde, sondern gegebenenfalls zurückweisen kann. Das heißt widersprechen: nicht, wie man es hören wollte, ‘Ja’ oder ‘Nein’ sagen, sondern: ‘Die Frage ist falsch gestellt« (Jäger 1999/131f.).

Moralische Kriegslegitimationen

Mangelndes Wissen bzw. Harmlosigkeit gegenüber den Zwecken, die die NATO insgesamt bzw. die einzelnen Regierungen mit dem Kosovokrieg verfolgt haben, sowie mangelnde Aufmerksamkeit für die direkten oder indirekten Beiträge der führenden NATO-Staaten zur Konflikteskalierung in Jugoslawien seit Ende der 80er Jahre (vgl. exzellent Gowan 1999) führen zur Akzeptanz der moralischen Rechtfertigung des NATO-Krieges. Zumindest wurde die Diskussion weitgehend in ihrem Horizont ausgetragen, es kam zur entsprechenden Problemverfremdung. Die derart konstituierte Einigkeit zwischen vielen Bedenkenträgern gegenüber dem Krieg und seinen Protagonisten betraf den für moralisch erachteten ‘eigentlichen’ Kriegszweck. Differenzen ergaben sich dann erst bei der Manöverkritik in der Frage der Umsetzung des Zweckes. Ein zentrales Problem der Moral stellt die Scheidung zwischen allgemein anerkannten Grundwerten (»Grundwerte sind Dachverbände«, H. Fleischer) und deren inhaltlich in fast jede Richtung möglichen Respezifizierung dar, so daß fast kein Handeln seine moralische Nobilitierung entbehren muß. Der Streit über das moralische richtige Handeln ist unendlich, die Annahme eines ‘moralischen Dilemmas’ aber versöhnt auch wieder mit dem sich ‘anders’ Entscheidenden.
Durch die Anerkennung des ehrenwerten Zwecks und durch die Affirmation der ‘Problembeschreibung’, nach der die NATO auf ein ‘Problem’ reagiert (statt es mit verursacht zu haben), hindern sich viele Kriegskritiker daran, zu Kriegsgegnern zu werden. Sie geraten mit regierungsbeteiligtem ‘Wir’-Denken dazu, viele Prämissen des Schlusses bereitwillig teilen zu müssen, während sie lediglich davor zurückschrecken, die dazu passende Schlußfolgerung zu ziehen. Diese argumentative Zwitterstellung ‘hemmt’ die Kritik am Krieg. Das erinnert an Kriegsdienstverweigerer. Sie sind ja gehalten, in der Begründung ihrer Kriegsdienstverweigerung Argumente über die Gründe, Zwecke und die Logik des Militäreinsatzes auszusparen. Stattdessen sollen sie ein Urteil über sich vorbringen: Mit ‘Ich kann das nicht’ wird die Absage ans Militär enggeführt auf die Gewährung einer Ausnahme und auf den Antrag, selbst von dem Wehrdienst, der weiter bestehen bleibt, aufgrund spezieller persönlicher Gewissensgründe ausgespart zu bleiben.

Die Kritik an der ‘Unverhältnismäßigkeit’ der Kriegsführung läßt sich ein auf die Immanenz des Kriegshandwerks. Wer damit argumentiert, die Bombardierung jugoslawischer Industrieanlagen sei militärisch nicht notwendig gewesen, lädt die Gegenseite ein, ihren Sachverstand geltend zu machen, und mobilisiert die Illusion eines ohne ‘unnötige’ Opfer führbaren Krieges gegen seine Realität. Noch nicht einmal die kriegerische Wirklichkeit kann dann den unverdrossenen Glauben an die eigentlich gute Staatsvernunft (inklusive Militär) ent-täuschen. Ein solcher Idealismus interpretiert die Realität als ‘Versagen der Politik’, der er ‘eigentlich’ weiterhin viel Gutes zutraut. Nur soll bitte der anerkannte Kriegszweck nicht durch die beklagenswerten Wirkungen jener Mittel in Mißkredit geraten, die für ihn eingesetzt werden.
Zur moralischen Idealisierung der Kriegsbeteiligung der ‘eigenen’ Nation gehört auch die Aufspaltung des Geschehens in »menschenverachtende Gewalt« und »Terror« (der Serben) und »friedenserhaltende, -schaffende oder -erzwingende Einsätze« (der NATO-Truppen) gewissermaßen als Verbrechensbekämpfung. Krieg wird geführt, indem seine Auftraggeber hierzulande das Wort ‘Krieg’ für ihr Zerstörungswerk nicht gelten lassen wollen.
Nicht einmal die mannigfaltigen einschlägigen Erfahrungen mit der Politik der USA in der sog. 3. Welt sensibilisieren dafür, ihre Zwecke zu ergründen. Daß die Interessen und Zwecke nicht b e kannt wären, scheint nicht das Problem zu sein. Habermas kann an herausgehobener Stelle, in einem dreiseitigen Leitartikel der ‘Zeit’ (29.4.99), mit folgender Position auf Einverständnis rechnen: »Aber weder das den USA zugeschriebene Motiv der Sicherung und Erweiterung von Einflußsphären noch das der Nato zugeschriebene Motiv der Rollenfindung, nicht einmal das der ‘Festung Europa’ zugeschriebene Motiv der vorbeugenden Abwehr von Einwanderungswellen erklären den Entschluß zu einem so schwer wiegenden, riskanten und kostspieligen Eingriff« (S. 6). Habermas appelliert an den Horizont eines mit knappen Mitteln haushaltenden Familienoberhaupts bzw. an den Horizont eines sicherheitsbewußten Kleinanlegers und an einen politischen Idealismus, der bei schwerwiegenden politischen Entscheidungen kurz- oder langfristigen Interessen stets die Rolle eines nachgeordneten Kriteriums zuweist. Es habe unter Wilson und Roosevelt für den Kriegseintritt »eben auch die Orientierung an Idealen« gegeben und eine »normativ orientierte Machtpolitik«. »Dem verdanken wir, die 1945 besiegte Nation, daß wir zugleich befreit worden sind« (S.7).
Die Vorherrschaft eines moralischen Diskurses arbeitet die Ausblendung bzw. Delegitimierung sozialökonomischer Analyse zu. Sie wird weder für die Herrschafts- und internationalen ‘Raumordnungs’strategien der NATO bzw. ihrer einzelnen Regierungen für angebracht noch in bezug auf Jugoslawien für relevant gehalten. Weil Kosovo nicht unmittelbar ökonomisch so interessant sei wie Kuwait, so hört man, müsse ‘die alte Imperialismusthese’ in bezug auf die US-Politik als unangemessen gelten. Mangelndes Wissen über die historischen sozialökonomischen Hintergründe der Entwicklung in Jugoslawien (wachsende Kluft zwischen den verschiedenen Regionen) und über seine Rolle in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen (u.a. IWF-Schockprogramm Ende der 80er und dessen Verweigerung durch Serbien in Verlängerung der alten, und sei es auch nur imaginären, Unabhängigkeit eines ‘blockfreien’ Landes) korrespondiert mit einer dem Alltagsverstand vertrauten anthropologisierenden, psychologisierenden und kulturalisierenden Interpretation. Ihr zufolge wird die kollektive Fehlentwicklung (’der Balkan’ - schon immer ein ‘Pulverfass’) diagnostiziert und festgeschrieben (’Die werden sich noch in 100 Jahren streiten wie vor 100 Jahren - bei der Mentalität …’). Demgegenüber muß »die von Nationalisten seit einigen Jahren verbreitete Vorstellung, die jugoslawischen Völker hätten jahrzehntlang nur in mühsam unterdrücktem Haß miteinander gelebt, ins Reich der Legenden verwiesen werden. Es gab nach 1945 (anders als in der Zwischenkriegszeit) durchaus ein jugoslawisches Selbstbewußtsein, und es gab eine Zeit, in der es möglich war, sich sowohl als Slowene, Kroate, Serbe etc. wie als Jugoslawe zu fühlen, ohne daß das Bekenntnis zum Jugoslawentum als ein Verrat an der jeweiligen Nation gewertet wurde (so wie ein US-Bürger sich sowohl als Ire wie als Amerikaner empfinden kann« (Sundhaussen 1992/27).

Einen Resonanzboden findet die Kriegsbefürwortung im Unverständnis, das in einem Großteil der Bevölkerung verbreitet ist gegenüber den wirtschaftlich schlechteren Bedingungen andernorts. Unter Unkenntnis der Gründe für die Verteilung der Stärken und Schwächen in der internationalen Konkurrenz wird die Konkurrenz wie hierzulande auch auswärts als Ausweis der Leistungsfähigkeit der Teilnehmer in der Konkurrenz genommen und ein dauerndes Zurückbleiben als Beleg für Unfähigkeit gewertet. Natürlich gab es demgegenüber immer eine zwar vehemente, oft aber wenig treffsichere moralisierende Kritik am Elend in der sog. 3. Welt (zur Kritik an ihr vgl. u.a. Bommes/Scherr 1994, Creydt 1994). Die Unhaltbarkeit der oft vertretenen Position ‘Unser Reichtum resultiert aus deren Ausbeutung’ hat in den letzten Jahren eine Gegenreaktion hervorgerufen. Nun finden auch in progressiven Kreisen Stimmen mehr Gehör, die sich für die 3. Welt so etwas wie ein Patronat der ‘aufgeklärten’ und ‘entwickelteren’ Nationen vorstellen. Wenn dann ein Land wie Jugoslawien (nach dem Verständnis vieler Zeitgenossen) sich vermeintlich schuldhaft selbst in Richtung 3. Welt entwickelt, gilt diese Patronatsperspektive gleich umso mehr. Wenn die ‘Innensteuerung’ ‘versagt’, erscheint ‘Außensteuerung’ plausibel.
Die Patronatsperspektive steigert sich zur Affirmation der Strafe. Nach früherer Volkstümelei vieler Linken ist jetzt eine Massenfeindlichkeit chic. Nach der Vorliebe für’s Antiautoritäre werden jetzt Strafphantasien gegenüber ‘dem Pöbel’ laut. So ließen ‘Antinationale’ 1994 den Chef der britischen Bomberverbände im 2. Weltkrieg hochleben und verbreiteten Parolen wie ‘Do it again Bomber Harris’. Auf der Linie dieser Herangehensweise lag auch die Unterstützung des Krieges gegen den Irak 1991 in der ‘Konkret’.

Die Vorstellung, die NATO-Aktion sei ebenso alternativenlos gewesen (in bezug auf die Vertreibung) wie die Entwicklung in ihrem Vorfeld, diese Vorstellung speist sich aus drei Quellen: Mangelndes Wissen über die sozialen Gründe der Entwicklung in Jugoslawien bzw. mangelnde Aufmerksamkeit für sie (a), mangelnde Kenntnis der direkten oder indirekten Beiträge der führenden NATO-Staaten zur Konflikteskalierung in Jugoslawien seit Ende der 80er Jahre (b) sowie Unklarheit über zivile und soziale gesamtgesellschaftliche Alternativen (c), die eben nicht nur Vor-Ort-Arbeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen betreffen.
‘Was war denn anderes möglich?’ Wer so fragt, müßte fragen nach den Notwendigkeiten, die die Möglichkeiten begrenzen, und hätte sich Rechenschaft darüber abzulegen, was er für möglich hält und aus welchen Gründen, welche Annahmen über die unmöglich abänderbaren ‘Notwendigkeiten’ (als Gegenbegriff zum Möglichen) eingehen. All dies wird meist nicht getan, so daß die Frage, was denn anderes möglich sei, zur Antwort führt, daß das, was ist, schon notwendig und alternativenlos sei. Wer fragt, was denn anderes möglich sei, müßte klären, was er unter ‘anderes’ versteht. Indem das ‘Andere’, von dem es meist nur eine Vorstellung und keinen Begriff gibt, nicht auf seine Voraussetzungen befragt wird, bleibt es eine luftige Abstraktion, die der wirklichkeitsgesättigten Realität entgegengestellt wird, mit der Folge, daß sie als reicheres Phänomen das ärmere in ihrem Sinn sub- bzw. invertiert. Wer nur einen irgendwie menschlicheren, friedlicheren usw. Zweck mit den bestehenden Einrichtungen verfolgen möchte und die Vorstellung von seinem Zweck nicht daraufhin durchgearbeitet hat, welche anderen Strukturen notwendig sind zur Realisierung seines ‘anderen’ Zweckes, der propft seine Ideale der herrschenden Wirklichkeit auf. Die Antwort lautet dann, daß das ‘Andere’ schon entweder in der herrschenden Wirklichkeit gut aufgehoben sei oder aber in keiner Wirklichkeit, nicht nur nicht in dieser, sondern auch nicht in einer anderen zu verwirklichen sei.
Das militärische Handeln des Westen wird hermetisch als unausweichlich stilisiert. Zu ihm sei man durch Milosevics Halsstarrigkeit ‘gezwungen’. Er müsse verantworten, daß man selbst keine Wahl mehr habe. »Man stelle sich vor: Die NATO, sozusagen die gesammelte westliche Welt unter Führung der USA, mitsamt ihrem ungeheuren militärischen Vernichtungspotential, wird das Opfer eines über ein 10-Millionen-Volk herrschenden Balkanpotentaten. … Opfer werden zu Tätern. Es gibt keine stärkere Legitimation zum Losschlagen als einen behaupteten Opferstatus.« Im Unterschied zur dann in der öffentlichen Legitimation der NATOpolitik ausgestellten ‘Verantwortung’ »ist geradezu das Wesensmerkmal von Verantwortung, daß es nicht nur eine einzige Möglichkeit verantwortbaren Handelns gibt. Auf jede Frage, die nicht suggestiv oder rhetorisch gestellt ist, gibt es mindestens zwei, meistens aber unendlich viele Antworten. Wenn ich dagegen meine Freiheit und Verantwortung negiere, dann werde ich über kurz oder lang auch ernten, was ich säe. Wenn mein Entwurf von mir und der Welt vom Motiv des Gezwungenseins ausgeht, dann werden Zwang, Gewalt und Krieg auch die alles beherrschenden Seinsmodalitäten sein« (Horst 1999/5).

‘Realpolitischer’ Pragmatismus

Zur Akzeptanz des Natokrieges gegen Jugoslawien trägt die gestiegene Wertschätzung der ‘Realpolitik’ [1] bei. Mit ihr wird ein noch zu Hochzeiten der ‘neuen sozialen Bewegungen’ favorisierter Typus des Handelns in den Hintergrund gedrängt. In der Fixierung auf staatsimmanente Politik taucht bei Kriegsbefürwortern gar nicht mehr die Vorstellung auf, es sei eine andere Herangehensweise an das Problem möglich. Durch diese Verengung des Möglichkeitsraums der Wirklichkeit auf Politik von oben werden die von den herrschenden ‘Notwendigkeiten’ abweichenden Entwicklungspfade marginalisiert. Die politische Verengung auf einen Entweder-oder-Horizont blendet auch die politischen (frühe Anerkennung von Slowenien und Kroatien) und ökonomischen Hintergründe der Verteilungs- und Vertreibungskriege in Jugoslawien aus. Ein Bruchteil des heute für Zerstörung und morgen auch nur für den notdürftigsten Wiederaufbau von Jugoslawien verwandten Geldes hätte in den frühen 90ern den Resonanzboden für nationalistische Ideologien mindern können. Stattdessen hat das IWF-Schockprogramm 1989 für Jugoslawien die Not und die Konkurrenz unter den Landesteilen verschärft.
Wo der politische Drang, ja handlungsfähig zu sein, bedeutet, unter den gegebenen Bedingungen zu handeln, sich in eine vorfindliche Konkurrenz einzustellen und nach ihren Maßstäben sich als ‘realitätstüchtig’ zu bewähren, und zu der Vernunft zu finden, die sich unter diesen Verhältnissen des status quo ergibt, dort wird die Frage beiseitegeschoben, wie Bedingungen einer anderen, nämlich: zivilen, sozial-assoziativen Handlungsfähigkeit erst erarbeitet werden können.
Mit der Unkenntnis einer Perspektive gesellschaftlicher Gestaltung von Gesellschaft korrespondiert die Präferenz für Stellvertreterhandeln, für die Stimm-Abgabe, für die Beauftragung der ‘richtigen’ Partei mit der Politik. Wer keine andere Perspektive kennt als die des Regierungshandelns, dem muß sich alles ihr unterordnen. Den Beginn der ‘rot-grünen’ Regierung aufs Spiel zu setzen, geriet dann auch vielen, die übertriebene Hoffnungen auf ‘Kohl muß weg’ gesetzt hatten, zum Apriori, das Kritik am Krieg schon im Vorfeld eingrenzte. »Seit Wochen fragen sich seine (Ströbeles - Verf.) Freunde, was ihn so gehemmt wirken läßt bei seinem Kampf gegen den Krieg. Offenbar spürt Ströbele, daß seine Behauptung, die Grünen könnten gegen Fischer votieren und dennoch in der Regierung bleiben, nicht stimmt« (Bernd Ulrich, Der Tagesspiegel 14.5.99, S. 3).

Der ‘Realpolitik’ ist zumindest in ihrer öffentlichen Präsentation ein Zeithorizont eigen, der auf eine Notfall- und Nothilfe-Fixierung verweist. Auch alle wohlgemeinten ‘alternativen’ nichtmilitärischen Lösungsvorschläge für den Balkan stehen in Gefahr, sich auf die Konkurrenz mit der herrschenden Politik einzulassen und das heißt immer, an der (besseren oder schlechteren) Erfüllung des gleichen Zweckes gemessen zu werden. Die Zusammenhänge zwischen der Ökonomie, der Geschichte [2] und den Nationalismen im früheren Jugoslawien werden nicht gedacht. Erst bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen soll sich ‘der Westen’ zuständig zeigen. Von der bekannten selektiven Verteilung der ‘Betroffenheit’ (Kosovaren ab 1998 ‘ja’, Kurden eher ‘nein’) abgesehen, trägt die behauptete Eigenverantwortung fremder Völker für ihr Wohlergehen bei gleichzeitig herrschendem und d.h. zunehmend Nischen beseitigendem Weltmarkt dazu bei, daß allein das negative Extrem einer ‘Fehlentwicklung’, wenn überhaupt, hierzulande Aufmerksamkeit mobilisiert. Die entsprechende Aktionsweise ist dann kurzfristig, im nachhinein, notdürftig reparierend, symptomorientiert im Unterschied zu einer präventiven, die weiteren sozialökonomischen Zusammenhänge im Vorfeld bearbeitenden Politik.
Der alltägliche Pragmatismus, der immer nur Nothilfe kennt, also die Bedingungen der Not reproduziert, verweist auf die gegebenen, zur Verfügung stehenden Vorrichtungen und Hilfsmittel. »Wer Zeit sparen will, wird mit Zeitverlust bestraft« (Negt 1995/401). Im kurzatmigen Aktualismus und Notfallfanatismus des herrschenden Pragmatismus wird bereitwillig die erpresserische Frage akzeptiert, was unter gegebenen Bedingungen (!) denn anderes als der Natokrieg gegen Jugoslawien möglich gewesen sei. Die Zumutung, die eigene Zuständigkeit für diese Frage anzunehmen, fällt nicht als Zumutung auf. Der pragmatische Alltagsverstand konzentriert sich auf die ‘hier und jetzt’ immer notwendigen, weil so auch allein (ihm) als möglich erscheinenden Aktivitäten. Unter gegebenen Bedingungen und der zu ihnen passenden ‘Problembeschreibung’ gelte es ‘Handlungsfähigkeit’ zu beweisen. Dies muß dann unter Abstraktion von der Vorgeschichte wie den gesellschaftssystemischen Voraussetzungen und in ‘Verantwortungsübernahme’ für sie geschehen. Die Perspektive, die Handlungsbedingungen selbst zu verändern und dies als zentrales Ziel von Politik zu betrachten, erscheint im vorherrschenden Denken als unrealistisch. Demgegenüber ist, »wer sich auf die Friedenslogik einläßt, aufgefordert, die aktuelle Gegenwart aus dem verdinglichten Gerüst von Hier und Jetzt zu lösen und als einen Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft aufzunehmen, wodurch sich die Wege der Lösung eines zur Zeit gewaltmäßig verknoteten Problems sofort vervielfältigen und sich alle Freund- Feind- Erklärungen, die unzweideutige moralische Positionen für eine der Kriegsparteien herausfordern, als menschenfeindliche Abstraktionen von in sich äußerst differenzierten Lebensverhältnissen darstellen« (Negt 1991).
Im Pragmatismus findet die Vernunft unter dauernder Aufforderung, zu ‘handeln’ und zu ‘gestalten’, dazu, die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse imaginär zur Randbedingung umzuformen des eigenen Handelns, und dazu, sie durch das eigene Handeln zu reproduzieren. Das Selbstbewußtsein des pragmatisch Handelnden, immerhin selbst gehandelt und eigenhändig etwas getan zu haben, verschiebt den Fokus der Aufmerksamkeit zur (scheinbar) vom Individuum ausgehenden Aktion und unterbestimmt den in sie eingehenden ’stummen Zwang der Verhältnisse’. Er erscheint eo ipso nicht als gesellschaftlich beeinflußbar. Unter kurzfristiger Absicherung der bestehenden ‘Möglichkeiten’, unter fortwährender Reaktion auf die jeweils aktuellen ‘Herausforderungen’, in der Abarbeitung des tagtäglich Andrängenden sieht man, frau auch, sich gezwungen, sich gegen die langfristigen Interessen, gegen die systematische Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu verhalten. Vor lauter Stückwerkhandeln, Inkrementalismus und ‘muddling through’ verstellt die pragmatische Geschäftigkeit die Notwendigkeit grundsätzlicher Veränderung. Dann gilt: »Das Morgige, dessen das alltägliche Besorgen gewärtig bleibt, ist das ‘ewig Gestrige’« (Heidegger 1979/371).
Das Lob des Pragmatismus führt zur Akzeptanz restriktiver Handlungsbedingungen und zum Verzicht auf die Arbeit an der gesellschaftlichen Erweiterung des Handlungsfeldes. Bereits das Agieren in den Bahnen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wird in Affirmation der Binnenperspektive des Handelnden als kreatives Handeln idealisiert. ‘Handeln’ rückt in einen Pseudogegensatz zur ‘Hinnahme des Gegebenen’, als wüchse letzterem nicht gerade erst durch die Kreativität der Individuen dabei, das Gegebene als ‘Herausforderung’, ‘Chance’ usw. individuellen Handelns zu interpretieren, die Energie subjektiver Beteiligung zu. Diesem pragmatischen Faible fürs Handeln entspricht die Meinung, den Aktivismus in jedem Fall dem Nicht(-Mit)-Tun vorzuziehen. Vor lauter Drang, ja bloß - eben: irgendwie - zu handeln, fällt es schwer, auf falsches Tun zu verzichten, weil es Tun ist und kein anderes Tun unmittelbar möglich erscheint. Daß das Richtige kurzfristig nicht geht, ist diesem Pragmatismus noch lange kein Grund, das Falsche jetzt zu unterlassen. Wenn man bei einem Brand über nichts anderes verfügt als über Benzin, dann soll auch das noch als ‘Helfen’ durchgehen. Und dem Helfer gebühre moralischer Vorschuß.
Die Moralisierung des Diskurses ist alliiert mit einer zugleich stattfindenden Begrenzung und Idealisierung des Handelns. Diese Koexistenz findet sich in der modernen demokratischen Politik allgemein und stellt einen Resonanzboden auch der Harmlosigkeit dar, mit dem sich viele mit der Regierung ineinssetzen und fragen, wie ‘Wir Deutsche’ denn handeln könnten. Demokratie und moderne Politik teilen die Abstraktion, daß die Individuen über ein gemeinsames ‘Projekt’ zu verhandeln haben, das sich erhebt über den Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung, die in der vorherrschenden gesellschaftlichen Lebensweise liegen (vgl. dazu Creydt 2000). Politik und Demokratie verhalten sich zu den mit der herrschenden Arbeitsteilung, der Konkurrenz und den Entwicklungsmaßen des Reichtums implizierten Spaltungen, Hierarchien, Bornierungen usw., indem sie »sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranken erheben« (MEW 1/354) und sie für »unpolitisch« bzw. die Demokratie nicht tangierend erklären. Die Unwirklichkeit einer Erhebung zum politischen Souverän bei gleichzeitiger Vorentscheidung seiner Geschicke durch den ’stummen Zwang der Verhältnisse’ beinhaltet die Verdoppelung des Menschen »nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit« zu »einem himmlischen und einem irdischen Leben« bezeichnet (MEW1/355). Der Demokrat wird so zu einem »imaginären Glied einer eingebildeten Souveränität … mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt« (ebd.).
Die Engführung von Gesellschaftsgestaltung auf das Politische führt dazu, daß Politiker und politische Menschen Verantwortung übernehmen für von ihnen gar nicht Gestaltbares. »Daß man handeln und tatsächlich etwas bewirken kann, wird zu einer Überzeugung, die der Politiker entschieden gegen jeden Zweifel verteidigt. … Er propagiert - in Konsequenz der übernommenen Rolle -, wenn nicht die Machbarkeit, so doch wenigstens die Steuerbarkeit der Verhältnisse« (Gerhardt 1990/297). [3]

Die beschriebene Doppelbewegung von Restriktion und Idealisierung des Handelns findet sich beim Kosovokrieg besonders deutlich. Gestaltungsillusionen verstellten im Bewußtsein die realen ‘Notwendigkeiten’, in denen Fischer und Co. stehen, und machen aus ihnen Akteure, die sich imstande fühlen, dem Ganzen eine entscheidende eigene Prägung zu verleihen (’Fischer-Plan’ usw.). So erschien im Bremer ‘Weser-Kurier’ am 5.6.1999, einen Tag vor der dortigen Landtagswahl, eine Anzeige der Grünen mit einem Bild von J. Fischer und dem Text: »Der Frieden ist in greifbarer Nähe - Auch ein Erfolg grüner Außenpolitik«. Und dies, nachdem Fischer immer betont hatte, er mache keine grüne, sondern deutsche Außenpolitik.
Statt daß erklärt wurde, man könne nicht ausscheren, so wie die Entwicklung nun einmal gelaufen sei, bei ‘versäumter’ Unterstützung zivilgesellschaftlichen Friedensengagements in den 90ern, bei destabilisierenden und den Nationalismus fördernden Interventionen jener Länder, die den aktuellen Krieg gegen Jugoslawien geführt haben, und bei Eingebundenheit in Bündnisverpflichtungen, statt dieser realistischen Bestandsaufnahme der ‘Erblasten’ sowie der Aufgaben, die einem Außenminister unter gegebenen Verhältnissen obliegen, stattdessen wird in grandioser Selbstüberschätzung so getan, als könne man Entgegengesetztes miteinander versöhnen und selbst im Außenministerium andere Ziele verfolgen als jene, die gegenwärtig zu ihm gehören. Diese ‘Realpolitik’ führt zur Verteidigung des Herrschenden unter der Fiktion, es sei etwas anderes als das, was es ist. Die mit ihrer ostentativen Nüchternheit angebende Realpolitik hält es bei sich nicht aus und muß mit der utopistischen Verheißung werben, durch ihre eigene bloße Nähe zur Realität diese schon zähmen zu können.

Reduktion nicht nur kognitiver Dissonanz

Wer den argumentativen Hintergründen der Kriegsakzeptanz nachgeht, bemerkt, daß es nicht nur um eine Reduktion kognitiver Dissonanz geht. Bereits die Gedanken-Arbeit, sich durch das Geflecht herrschender Propaganda durchzuarbeiten und auch dem geistigen Flankenschutz (»Vernunftbomben«, Beck 1999) zu entkommen, erscheint als mühselig. Die Kritik findet ihre Grenze in der Belastung, die die Gegnerschaft zur mächtigen Wirklichkeit für das Individuum darstellt, und in der Angst vor dem Entzug der Prämien, die eine Aufkündigung der Akzeptanz nach sich zieht. Soweit Alternativen als praktisch undurchsetzbar erscheinen, liegt es nahe, daß das Individuum sich mit der Arbeit und seinen sonstigen Lebensverhältnissen, aber eben auch mit der eigenen (bspw. grünen) Partei einigermaßen identifiziert bzw. zu seinen Lebensbedingungen eine nicht durch explizite Thematisierung zu verstörende Indifferenz aufbaut. »Man kann seiner eigenen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen, fühlte Ulrich« (Musil 1981/59). Nur allzu bereitwillig wird nach fast jeder Gelegenheit gegriffen, verbleibende Gegensätze zum Bestehenden zu verkleinern. »Als ‘Erwachsenwerden’ und ‘Regierenlernen’ wird da verkauft, was in Wahrheit Kapitulation vor der Größe der Aufgabe ist« (Ziller 1999/8).

Zur Komplexitätsreduktion gehört auch, daß Krieg dumm macht mit seinem alle anderen Alternativen verstellenden Entweder-Oder. Wer gegen den Natokrieg sei, solle Milosevic zum Friedensnobelpreis vorschlagen, so Fischer auf dem grünen Sonderparteitag. Schröder bezeichnet die PDS als ‘5. Kolonne Belgrads’. Nicht gegen die Kriegsbeteiligung der ‘eigenen’ Nation eintreten zu können, ohne für die andere (serbische) Seite Partei zu nehmen - mit dieser vielfach wiederholten Erpressung wurden die Leute zwar nicht um den Verstand, aber zur raison gebracht. [4]

Das Denken eingeschüchtert haben auch die von Scharping und Fischer vorgebrachten, in den Medien verbreiteten Holocaust-Vergleiche, die die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Intervention vehement herbeiagitierten. Diese Vergleiche setzten einen Resonanzboden voraus, der durch eine völlige Entleerung und Ahnungslosigkeit der Begriffsverwendung charakterisiert ist, so daß der Unterschied zum gewaltsamen Vorgehen ‘der’ Serben nicht bewußt wird. Historische Unkenntnis und Harmlosigkeit charakterisieren auch den Vergleich mit der Appeasement-Politik der 30er Jahre. [5] Im Alltagsverstand grassiert wie eine Heuschreckenplage der Vergleich. Dieses simple kleine Hilfsmittel erlaubt rücksichtslos gegen das Begreifen das, was man nicht versteht, durch etwas anderes zu ‘erklären’, was man ebenfalls nicht versteht. Historisch fällt die inflationäre Inanspruchnahme des ‘Appeasements’- Arguments auf: Es spielte bereits im Kalten Krieg eine Rolle, als rot gleich braun galt. Nasser wurde 1956 mit Hitler verglichen, und beim Vietnamkrieg war die Rede davon, es dürfe kein ‘München’ in Südostasien geben.
Gerade die deutsche Geschichte - so heißt es zudem - verpflichte zu besonderer Wachsamkeit. Wo gegenwärtige Konflikte andernorts (ob der 2. Golfkrieg oder Kosovokrieg) im Verständnis der Befürworter der jeweiligen westlichen Militäraktionen zur Gelegenheit der deutschen Rehabilitation (ob durch eigene Aktivität oder durch besonders ostentative Befürwortung) avancieren, soll das eine Unrecht durch das andere wettgemacht werden - eine Art moralisches Kompensationsgeschäft.

Nicht nur die ‘Realpolitik’ verstellt das Terrain gesellschaftlicher Umgestaltung von Bedingungen, die zu Nationalismen und ihrer gewaltsamen Austragung führen, auch eigene immanente Schwächen des Pazifismus trugen zur Verunsicherung der Kriegsgegner bei. Eine Kritik am Pazifismus verfing, derzufolge die Abscheu vor Gewalt nicht bloß den Einsatz der eigenen Truppen ins Unrecht setzt, sondern auch das ‘tatenlose’ Zusehen gegenüber der Gewalt der gegnerischen Seite. Die strikte Trennung zwischen der Beurteilung aller Zwecke und Gründe von Politik einerseits, der pazifistischen Norm andererseits, den Frieden über alles zu stellen, was heißt: alles ginge schon in Ordnung, geschehe es nur friedlich, unter Achtung der Hauptsache, dem Frieden, diese Trennung schwächt die Argumentationsbasis gegen Kriege und lädt zu Attacken auf den Pazifismus ein: »Im Ernstfall spaltet sich der Pazifismus: der eine Teil sagt, Gewalt kann man nur mit Gewalt begegnen, die andern … sagen, wir wollen es generell nicht. Es gab nach dem Ersten Weltkrieg die Formel ‘Krieg gegen den Krieg’. Jetzt heißt es Aktion gegen den Krieg oder friedenserzwingende Maßnahmen gegen den Krieg. Selbst der ‘Krieg gegen den Krieg’ ist den Pazifisten jetzt zu kriegerisch - terminologisch! Das ist nicht überraschend. Aber in der Kriegsgeschichte des Jahrhunderts war immer festzustellen, daß sich die Pazifisten in solch einer Situation spalten - und die größere Fraktion wird ‘kriegerisch’« (Maschke 1999/5). Zum Pazifismus der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung bemerkt Gernot Böhme zu Recht, in ihr habe das Gefühl der Angst und der persönlichen Bedrohung vorgeherrscht. »Worauf die ehemalige Friedensbewegung in keiner Weise vorbereitet war, ist die Frage, was es heißt, aus einer Situation der Stärke heraus und ohne persönliche Bedrohung für Frieden und Menschenrechte einzutreten.« (Böhme 1999/15).
Die Ablehnung des Krieges unterscheidet sich von der thematisch viel breiteren Ablehnung all jener Machenschaften, die im Frieden den Krieg vorbereiten (helfen): Sie reichen vom Unverständnis für die Geschichte und die Interessen des Gegners über manichäische Wahrnehmungsmuster inklusive Verabsolutierung des Gegensatzes zulasten von Kompromiß und Vermittlung bis zu dämonisierenden Feindbildern. Auch der Druck der Sieger in der Konkurrenz, die ganze Gegenden ökonomisch an den Rand drängen, ist Gewalt. Erst wenn der Pazifismus die im Frieden existierenden kriegsbegünstigenden Gründe, Zwecke und Argumentationsfolien bearbeitet, erst dann entzieht er der Position ‘Es gibt Wichtigeres als den Frieden’ den Boden. Nur so läßt sich auch vermeiden, daß die Gleichsetzung von Kriegsgegnerschaft mit Konfliktscheu und Untätigkeit greift.

Kriegsbefürwortung im Geist der Menschenrechte

Insbesondere das nach ‘dem Verlust gesellschaftlicher Utopien’ hegemoniale Verständnis von Menschenrechten trägt schließlich dazu bei, die Kriegsbeteiligung zu befürworten oder zu akzeptieren. »Menschenrechte und nicht ‘nationale Interessen’ oder das Völkerrecht sind der diskursive Angelpunkt der deutschen Außenpolitik. Mit dem Topos der Menschenrechte gehen in gewissem Sinn ideologische Versatzstücke der Neuen Linken und ihrer Erben selbst in den bundesdeutschen Mainstream ein und lassen die Gegner der Angriffe, die mit der territorialen Souveränität von Nationalstaaten oder internationalem Recht argumentieren, als staatsfixierte Paragraphenreiter erscheinen. … Der Menschenrechte-Diskurs wird kurzgeschlossen mit einem abstrakten Antifaschismus, der, weil er noch nie nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen und Ursachen des Nationalsozialismus gefragt hat, jeden regionalen Potentaten, der gerade nicht in die Weltordnung passt, mal eben u einem ‘neuen Hitler’ definieren kann« (Diskus-Redaktion 1999/3). Menschenrechte gelten den führenden westlichen Regierungen mittlerweile als Maßstab ihrer Weltinnenpolitik, an dem sie die Legitimität anderer Regierungen messen. Die Selektivität dieser Prüfung ist bekannt und bleibt hier ausgeklammert. Bereits die Sortierung zwischen Staaten, die eine völkerrechtliche Anerkennung verdienen oder ‘Regime’ darstellen ohne Anspruch auf rechtlichen Respekt, muß die Legitimation von Gewaltanwendung gegen ‘Schurkenstaaten’ erhöhen.
Vorstellungen einer Menschenrechtsweltgesellschaft übergehen die Schwierigkeiten einer demokratischen Kontrolle weltumspannender riesiger Räume und die Koordinations- und Konsenskosten der sozialer Assoziation von unten (im Unterschied zum bei den Herrschenden beheimateten ‘Vorteil der kleinen Zahl’) bei derartigen Massen. Argumente und Stimmen zu der These lassen sich zusammentragen, nicht die demokratische Kontrolle, sondern der Rückbau von Weltmarkt und Weltgesellschaft sei die einzige Perspektive, in der ökologische und soziale Übel sowie Probleme der gesellschaftlichen Gestaltung von Gesellschaft bearbeitet werden können (vgl. Creydt 1999). Die Naivität in dieser Frage stützt auch die Akzeptanz von übernationalen Organisationen wie der NATO. Dann nimmt die NATO nur »im Vorgriff« (Habermas 1999) die eigentlich besser auszufüllende Stelle der Polizei der Weltbürgergesellschaft ein oder beansprucht den Platz des »militärischen Arm von Amnesty International« (Beck 1999). Die Vorstellung der Weltbürgergesellschaft gerät zum idealisierenden Überwurf, unter dem sich die ökonomischen und militärisch potentesten Mächte durchsetzen. Sie besetzen die Stelle der über den Nationen stehenden Aufsichts- und Durchsetzungsinstanz. Im Enstfall kann der UN-Standpunkt ohnehin nur so viel Geltung beanspruchen, wie ihm die wirklichen Machthaber in der Welt durch Indienststellung ihrer Gewaltmittel Nachdruck verleihen. Ihnen kommt nicht nur faktisch die Definitionsgewalt über Erlaubtes und Unerlaubtes zu. Den Mitgliedern des Sicherheitsrats - die mächtigsten Mächte zur Zeit der Entstehung der Vereinten Nationen - ist auch de jure die Kompetenz zugesprochen, die internationale Rechtslage verbindlich zu interpretieren. Daß Rußland und China dabei dem Westen manchmal im Weg stehen, stört Völkerrechtsidealisten nicht, interpretieren sie doch dies Veto als aus einer ‘bloß politisch motivierten Blockadehaltung’ begründet, die ‘formaljuristische’ Argumente nur vorschiebe, um den Geist des Völkerrechts nicht zum Zuge kommen zu lassen. Der behauptete Gegensatz zwischen UN einerseits, nationaler Interessenpolitik und imperialistischen Ambitionen andererseits ist also sehr relativ. Die Hoffnung auf die Weltbürgergesellschaft verdankt sich auch einem Idealismus, der Wirklichkeit im Lichte seiner Ideale wahrnehmen möchte, also die Durchsetzung von Interessen auf dem Weg durch ihre Einkleidung unter Ideale nicht wahrhaben möchte.
Schon im ‘Ranking’ der verschiedenen Staaten nach ihrer ‘Menschenrechtsbilanz’ liegt die Tendenz, nicht nach den Gründen der Gewalt zu fragen und auch nicht danach, wie Beherrschte Gegenmacht aufbauen können. Vielmehr steht das Ansinnen im Vordergrund, den Machthabern Schonung der Beherrschten und Selbstbeschränkung abzuverlangen und die Staaten nach dem Grad zu sortieren, in dem sie dies bewerkstelligen. Auch der militante Widerstand (vgl. bspw. PKK) gegen den jeweiligen Staat flößt manchen Menschenrechtsbeobachtern über den Umweg, eine Militarisierung der gesamten ‘Kultur’ des jeweiligen Landes wahrzunehmen und die ‘Fanatisierung’ zu beklagen, ein gewisses Verständnis für die Härte der Repression ein, gehen doch Freund und Feind im jeweiligen Land beide menschenrechtsverletzend miteinander um. Immer spielt ein Vergleich der Zustände in anderen Weltgegenden mit der vergleichsweise menschenrechtlich besseren Praxis und Kultur im eigenen Land eine Rolle. Aus diesem Vergleich resultiert der Wunsch, eine Staatenwelt nach dem eigenen Bild zu schaffen und den eigenen, ‘entwickelteren’ Nationen eine Führungsrolle im Kampf gegen die sittliche Verwahrlosung zuzubilligen. Erscheinen Nationen nun mal ‘realpolitisch’ als stärker als NGOs, so liegt es nahe, Staaten mit der Durchsetzung der Menschenrechte zu betrauen.

Die Menschenrechte selbst sind nicht so unproblematisch, wie sie dem herrschenden Verständnis erscheinen. Sie »trugen und behielten das Geburtsmal ihres Entstehungsorts und ihrer Gebärzeit. Sie wurden konzipiert als Rechte des letztlich privaten Individuums/Mannes, besitzindividualistisch ausgerichtet (MacPherson). Sie beanspruchten Geltung als Abwehrrecht des sphärenhaft ausgegrenzten Individuums und seines (vorgesellschaftlichen) Naturrechts vor allem gegenüber den möglichen Eingriffen der als Staat einheitlich vorgestellten Sphäre politisch-öffentlichen Belange« (Narr 1984/92). »Infolge der individualistisch- asozialen Verkürzung der Menschenrechte kommen die politisch- sozialen Teilnahme- und Handlungsrechte allenfalls zweitrangig hinzu. Außerdem gerät nicht in den Blick, daß erst ein angemessener institutioneller Kontext, erst eine zureichende soziale Ökologie ermöglichen, daß sich humane Autonomie ausbildet und verwirklichen läßt. …Weil die Menschenrechte als Abwehrrechte vor allem gegenüber staatlich- öffentlichen Eingriffen schützen sollen, wird die gesellschaftliche Sphäre ‘als System (privater) Bedürfnisse’ (Hegel) menschenrechtlich ausgespart« (ebd. 93). »Weil das Individuum nur in Körper, Haus und Eigentum, nicht aber als soziales Wesen zur Kenntnis genommen wird, wurden Gefahren, die von seiner sozialen Situation drohten, menschenrechtlich nicht registrierbar. Stattdesssen hieß und heißt Eigentumsbildung die Devise; sie dominiert Politik und Ökonomie der Privatisierung; sie definiert die ‘Ökonomie der Demokratie’ (Downs), die im unpolitischen Privatmenschen ihren Wesenszug findet« (Ebd. 94).
Wer Menschenrechte auf soziale Rechte ausweiten möchte, sieht sich vor Schwierigkeiten gestellt, die im prinzipiellen Unterschied zwischen beiden gründen. Die Einfachheit der menschenrechtlichen Imperative, etwas zu schützen, das als vor- und überstaatlich existierend erscheint (Leben, Bewußtsein, Gewissen, Denken, Willen und Initiative des Menschen) und als unverfügbar gilt, geht verloren, wenn das zu Schützende erst hergestellt werden soll und nicht als prinzipiell schon vorhanden gilt. Während Menschenrechte gerade keinen Unterschied zwischen verschiedenen historischen Zeiten und Gesellschaften machen und für alle Gültigkeit beanspruchen, lassen sich soziale Rechte nicht einfach von jedem Menschen kraft seines Menschseins an jedem Ort einklagen. »Nur in den wenigsten Fällen« lassen sich soziale und wirtschaftliche Rechte, so sehr sie auch wünschenswert seien, »aus der Wesensnatur des Menschen, aus seiner sittlich autonomen Persönlichkeit und losgelöst von dem Entwicklungsstand seines Staates und dessen Volkswirtschaft ableiten. … Es besteht kein Anlaß zu der anthropologischen Annahme, daß ein lateinamerikanischer Indio kraft seiner puren Existenz weniger Gewissens- und Meinungsfreiheit besitzen soll als ein mitteleuropäischer Intellektueller. Wohl aber bestehen Zweifel, ob Rechte, die Ausfluß einer bestimmten ökonomischen Entwicklungsstufe sein mögen, wie das Recht auf bezahlten Urlaub, für alle Menschen aller Völker einen gleich hohen Stellenwert besitzen können; aus der Wesensnatur des Menschen leiten sich diese Rechtstitel kaum ab, eher schon aus dem Wesen und dem Entwicklungsstand einer Wirtschaftsordnung« (Kühnhardt 1987/269).
In der Natur der Menschenrechte selbst bzw. ihres hegemonialen Verständnisses liegt, daß sie auf die sozialökonomischen Verhältnisse nicht bezogen werden können. Dann erscheint als Grund für die Verletzung der Menschenrecht leicht ‘das Böse’, und die Menschenrechte eignen sich gut als höherer Rechtstitel und unwidersprechbare Begründung für Interventionen. Menschenrechte und Demokratie gelten dann als »Dämme gegen die Selbstzerstörung« (Krockow 1987). Demut und Dünkel verweben sich. Die vermeintlich von Bescheidwissen herrührende und bloß behauptete Bescheidenheit, ja nicht ‘überansprüchig’ an die Frage der Veränderung von Gesellschaft heranzugehen, immunisiert auch gegen Kritik. Das Beklagen der engen Grenzen grundlegender Gesellschaftsgestaltung reimt sich nicht nur auf das bräsig-bequeme Einverständnis mit dem, was ist, sondern schreibt sich die Konformität (in ‘einer Welt von Nonkonformisten’) noch als besondere Geisteserrungenschaft gut. Gegenüber der linkstraditionalen Gefahr der Unterschätzung der Menschenrechte »besteht heute allerdings fast die umgekehrte Gefahr. Menschenrechte und Demokratie werden geradezu als Sozialismus-Ersatz entdeckt. Die kapitalistische Weltökonomie wird mehr oder weniger knurrig als Prämisse hingenommen, die ‘realistisch’ nicht mehr in Frage gestellt werden könne« (Narr, Roth 1996/302).
Die Menschenrechte weisen nicht allein das Moment des Schutzes der Menschen auf. Indem sie die Individuen vor einander, vor dem Staat, vor ihrer Intoleranz, vor dem Mißbrauch der Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit schützen, all dies erscheint als ineinander übersetzbar, unterstellen Menschenrechte diese Gefahren und schreiben sie zugleich fest, erscheint doch gestaltungspessimistisch die womöglich gesellschaftsverändernde Bearbeitung der Gefahren als Vertreibung des Teufels durch den totalitären Beelzebub. Die einzige Chance bestehe unter Voraussetzung der Gefahren in ihrer Abmilderung und Minderung. Auch in dieser Festlegung steckt ein Festschreiben der Gesellschaft durch Annahmen über ‘den’ Menschen. Er soll sich den Fundamentalismus, die Intoleranz, den Totalitarismus usw. nicht auf die soziale Konstitution von Fähigkeiten und Sinnen, sozialer Assoziationsweise und die Maße der Reichtums- und Weltentwicklung durchsichtig machen, sondern diese Gefahren als Versuchungen, als Unreife, als Regression, als Durchbruch des alten Adam auffassen, an dem grundlegend auch keine soziale (Um-) Gestaltung etwas zu ändern vermöge. Steven Lukes schreibt in diesem Sinne, »daß die Menschenrechte eine Reihe existenzieller Tatsachen, die conditio humana betreffend, voraussetzen, etwa daß die Menschen stets mit der Böswilligkeit und Grausamkeit anderer zu rechnen haben, daß Ressourcen immer knapp sein werden, daß der Mensch den eigenen Interessen und denen seiner Nächsten stets den Vorrang geben wird, daß die Rationalität bei der Verfolgung kollektiver und individueller Ziele immer unvollkommen sein wird und daß niemals eine zwangslose Übereinstimung hinsichtlich des Lebens und seines Sinns bestehen wird« (Lukes 1996/ 40).
Der Realismus kippt um in eine Festschreibung der beklagten Tatsachen, er verzehrt seine Energie in der Kritik an den ‘Illusionen’ jener, die diese Zustände vermeintlich nicht ‘wahrhaben’ mögen, da sie sich mit ihnen nicht ‘abfinden’ wollen. Die demokratischen Institutionen erscheinen als »Dämme gegen die Selbstzerstörung« (Krockow 1987) und Verfassungen als »Ketten, die sich die Menschen in gesunden Augenblicken selbst anlegen, damit sie in Tagen der Raserei nicht von eigener Hand sterben.« (John Potter Stockton in Debatten über das Ku- Klux- Klan- Gesetz von 1871, zitiert nach Elster 1996/220). Unterstellt ist also eine recht labile geistig- moralische Konstitution, an der (und an deren sozialen Kontexten) nun selbst nicht gearbeitet wird, sondern die vielmehr vorauszusetzen ist und gegen die man sich mit Notmaßnahmen zu schützen hat. Das Bekenntnis zur Schwachheit, Endlichkeit und Unvollkommenheit der Menschen setzt sich nicht ins Verhältnis zur Erinnerung an subalterne Effekte der alten Dogmen von Sündenfall und Erbsünde. [6] Der Gestaltungspessimismus verwickelt sich in den Widerspruch, das Bestehende gegen utopische Überforderungen zu verteidigen, dabei aber Argumente aufzubieten aus dem Umkreis einer pessimistischen Anthropologie oder einer skeptischen Geisteshaltung, die selbst jenem Bürgersinn das Wasser abzugraben drohen, den das Bestehende für sein Bestehen (und sei es auch nur in Segmenten (vgl. Heidorn 1982/ 269ff.) erfordert. »An die Freiheitsfähigkeit der Menschen wird immer weniger geglaubt« (Finckh u.a.1987/139). So wird im ‘Grundrechtereport’ ein der Beachtung der Menschenrechte abträgliches Moment genannt, ohne zugleich zu thematisieren, daß dieser Vorbehalt zum Motivgrund der Menschenrechte (oder zumindest vieler ihrer Verfechter) zu gehören scheint. Das Plädoyer für Freiheit bei gleichzeitiger Erwartung ihres ‘Mißbrauchs’ und für Demokratie bei Mißtrauen gegenüber der Bevölkerung widerspricht sich selbst.

Schlußendlich gerät die Not zur Tugend: Gerade die erscheinende Unabhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft erweist sich als wichtig für den Fortbestand der Gesellschaft: Der Schein dieser Unabhängigkeit aber verhindert die Individuen, »das Getriebe zu durchschauen, und überantwortet sie der Phrase, es käme alles bloß auf den Menschen an. … Die Undurchsichtigkeit der entfremdeten Objektivität wirft die Subjekte auf ihr beschränktes Selbst zurück und spiegelt dessen abgespaltenes Für-sich-sein, das monadologische Subjekt und dessen Psychologie, als das Wesentliche vor« (Adorno 1979/54). Aus der erscheinenden Unabhängigkeit des Individuums entwickelt es, »indem es als ein von der Gesellschaft Abgedichtetes, Abgespaltnes existiert, nochmals die Pathogenese einer gesellschaftlichen Totalität aus sich heraus…« (ebd./55f). Im Bemühen, ‘den Menschen’ gegen soziale Verhältnisse starkzumachen und sie an humanistischen Werten zu messen, verkehrt sich die Absicht in den Effekt, diesem Wesen unabhängig von der Gesellschaft eine Substanz bereits de facto zuzusprechen, die erst gar nicht mehr in der Gesellschaft zu bewahrheiten und in ihrer Gestaltung zu erarbeiten ist. Der Humanismus erweist sich dann als »die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: ‘Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein’« (Foucault 1974/114).

Anmerkungen:

[1] Vgl. ausführlichere Artikel von mir zur ‘Realpolitik’ in Kommune 7/99, 1/00, Sozialismus 9/99, Utopie kreativ 10/99 und Andere Zeiten 6/99.

[2] Ein Moment besteht im Zusammenhang zwischen dem Selbstverwaltungsmodell und der Neigung zur lokalen und unmittelbar eigeninteressierten Verwendung von Überschüssen. ›Selbstverwaltung der Betriebe‹ stellt einen Versuch dar, die Hierarchie im Betrieb zu bearbeiten, nicht aber den Bezug der verschiedenen Arbeiten der verschiedenen Betriebe zueinander. Vgl. auch die innerjugoslawische Debatte um den »Anarcholiberalismus selbstverwalteter Gruppen« (Stojanovic 1970/130, vgl. ebd. 117ff.). »Die Verlagerung der wirtschaftlichen Macht weg vom Bundesstaat und hin zu den Regierungen und Regionen und verbunden damit die zunehmende Bedeutung der Marktkräfte, hat allem Anschein nach die höher entwickelten Landesteile begünstigt und damit die nationalen Konflikte verschärft« (Brus, Laski 1990/115). Die extreme Dezentralisierung führte bspw. dazu, »daß die Verbindungsstraße zwischen den beiden zentralen Städten Belgrad und Zagreb nie fertiggestellt wurde, während die Straßen zwischen den zwei wichtigsten serbischen, zwei kroatischen und zwei slowenischen Städten gebaut werden konnten« (Vejvoda 1993/23 f.).

[3] »Den Politiker zeichnet aus, daß er die Erfolgsgewißheit nicht auf einen Problembereich beschränkt (wie der Kaufmann, Kapitän oder Architekt - Verf.) und daß er sich selbst als personifizierte Garantie für Problemlösungen überhaupt empfiehlt. Er wirbt um Vertrauen in eine Person, die dafür bürgen soll, daß Lebenslagen insgesamt gemeistert werden können. Spezielle Kompetenz hat für den Politiker nur exemplarischen Charakter. Sein Pathos liegt in der Zuständigkeit für die Gesamtsituation« (Gerhardt 1990/298).

[4] Bereits der Verweis auf serbische Demonstranten bei Antikriegsdemonstrationen (mit entsprechenden Fahnen und allerdings sehr vereinzelten Milosevic-Bildern) reichte aus, um mit Bedenken gegen die Teilnahme an Antikriegsaktionen auf Verständnis zu stoßen. Daß bspw. auf den Berliner Demonstrationen vom 5.4., 18.4. und 8.5. deutliche Kritik am Milosevic-Regime geäußert wurde, ohne die eigene Kriegsgegnerschaft damit zu schwächen, reichte vielen nicht. Anscheinend fordern sie, die Serben aus Anti-Kriegs-Demonstrationen herauszuprügeln oder den Protest einzustellen, sobald ‘artfremde Elemente’ sich beteiligen.

[5] Ein schwammiges Pseudosubjekt (’die Öffentlichkeit’) mit ihrer mangelnden Kriegsbegeisterung (die wiederum etwas anderes ist als: Pazifismus) muß dann dafür herhalten, die Meinungen der Bevölkerung als Grund für die Ausrichtung der im Lande politisch und ökonomisch Herrschenden auszugeben. Wenn das Naziregime den Herrschenden in den USA und GB als nützliche Eindämmung der ‘roten Gefahr’ aus der Arbeiterschaft und aus der SU galt, so erwachsen daraus schon handfestere Motive für eine Zurückhaltung als eine Erklärung, die nur einen negativen Grund (Indifferenz usw.) anzugeben weiß, also das zu Erklärende (’Zurückhaltung’) im Erklärungsgrund nur verdoppelt (’Indifferenz’). »Das Argument, der ‘Zweite Weltkrieg sei nötig gewesen, um Hitler zu stoppen’, ist völlig daneben. Die Regierungen in den USA und in Großbritannien hatten erhebliche Sympathien für Hitler - Mussolini bewunderten sie geradezu. Das was so bis Ende der 30er Jahre. Und vergleichbares galt für den japanischen Faschismus. … Erst als Hitler selbst diese Länder angriff, enwickelte sich daraus ein Krieg. … Keine dieser Regierungen tat es (Kriegseintritt - Verf.), um ‘Hitler zu stoppen’« (Noam Chomsky, zit. n. Zeitung gegen den Krieg Nr. 3, S.8, April 99).

[6] Es ist der »Despotismus«, der die »Verachtung des Menschengeschlechts« lehrt und seine angebliche Unfähigkeit »zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein« verbreitet (Hegel 1969/ 24). Ähnlich auch Schiller im siebten seiner ‘Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts’: »Die Usurpation wird sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die Insurrektion auf die Würde derselben berufen.«

Literatur:

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Beck, Ulrich 1999: Der militärische Euro. In: Süddt. Zeitung Nr. 76 vom 1.4., S. 17
Böhme, Gernot 1999: Den Pazifismus rekonstruieren. In: Freitag, 4.6. 1999, S. 15
Bommes, Michael, Scherr, Albert 1994: Migration und Dritte-Welt-Bewegung. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen H.3
Brus, Wlodzimierz; Laski, Kazimierz 1990: Von Marx zum Markt. Marburg
Creydt, Meinhard 1994: Bevölkerungs- und Identitätspolitik. Zu den Bekenntnissen schöner Seelen anläßlich des Kairoer Weltbevölkerungsgipfels. In: Kommune 11/ 1994
Creydt, Meinhard 1999: Das Fernste nah, das Nähste fern. In: Kommune 1/99
Creydt, Meinhard 2000: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.
Diskus-Redaktion 1999: Editorial. In: Diskus H. 1, 48. Jg. Frankfurt M.
Elster, Jon 1996: Mehrheitsprinzip und Individualrechte. In: Shute, Hurley 1996
Finckh, Ulrich u.a. (Hg.) 1997: Grundrechtereport. Reinbek bei Hamburg
Foucault, Michel 1974: Von der Subversion des Wissens. München
Gerhardt, Volker 1990: Politisches Handeln. In: Ders. (Hg): Der Begriff der Politik. Stuttgart
Gowan, Peter 1999: Die Nato-Mächte und die Balkan-Tragödie. In: New Left Review London Mai 99 und in Z - Zeitschr. Marxist. Erneuerung H. 38
Habermas, Jürgen 1999: Bestialität und Humanität. In: Die Zeit Nr. 18, 29.4.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 1969: Briefe von und an Hegel. Hg. v. J. Hoffmeister und F. Nicolin Hamburg, Bd. I
Heidegger, Martin 1979: Sein und Zeit. Tübingen
Horst, Patrick 1999: Die Opfer-Täter. In: Freitag Nr. 23, 4.6.
Jäger, Michael 1999: Probleme und Perspektiven der Berliner Republik. Münster
Krockow, Christian Graf von 1987: Politik und menschliche Natur - Dämme gegen die Selbstzerstörung. Stuttgart
Lukes, Steven 1996, in: Shute, Hurley 1996
Kühnhardt. Ludger 1987: Die Universalität der Menschenrechte. Bonn
Maschke, Günter 1999 : Die Deutschen werden zu Vasallen der USA ohne Lohn. In: Junge Freiheit 2.4.99 Nr. 14
Musil, Robert 1981: Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg
Narr, Wolf-Dieter 1984: Aktive Resignation - Zur Praxis der Menschenrechte. In: Vorgänge H. 70. München
Narr, Wolf-Dieter; Roth, Roland 1996: Wider die verhängnisvolle Bescheidenheit. Teil 2. In: Prokla H. 103
Negt, Oskar 1991: Das moralische Dilemma des Golf-Krieges. In: Frankfurter Rundschau 23.2., S. 6
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Shute, Stephen; Hurley, Susan (Hg.) 1996: Die Idee der Menschenrechte. Frankf. a.M.
Stojanovic, Svetozar 1970: Kritik und Zukunft des Sozialismus. München
Sundhaussen, Holm 1992: Zu den Ursachen von Nationalismus und Krieg im ehemaligen Jugoslawien. In: Gaisbacher, Johann; Kaiser, Karl u.a. (Hg.) Krieg in Europa. Analysen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Frankf.M.
Vejvoda, Ivan 1993: Gesellschaftliche Gewalt im früheren Jugoslawien. In: links H. 4
Ziller, Christiane: Geh’ ich, geh’ ich nicht - Der Krieg, die Menschenrechte und die Grünen. In: Freitag 14.5.99, S. 8

auch unter: http://www.linksnet.de/artikel.php?id=269