Die Entwicklung der Bevölkerungszahl ist mit verschiedenen zentralen Themen verknüpft: Umweltschutz, Rentensicherung, Einwanderung, “dritte Welt”. Entlang dieser Felder und in Auseinandersetzung mit den einschlägigen Gegenargumenten begründet unser Autor im Folgenden die Abnahme der Bevölkerung als notwendige Bedingung gedeihlicher menschlicher Existenz.
“Meine Stimme kriegt die Partei, die gegen Wiederbewaffnung und für Geburtenbeschränkung ist!” “Also keine?” “Also keine.” (Arno Schmidt, Die Umsiedler 1959)
Schon ökologisch leuchtet ein, dass eine zahlenmäßig geringere Bevölkerung – unter sonst gleich bleibenden Umständen – weniger Produkte und Energie konsumiert, damit also weniger Müll entsteht, weniger Schadstoffe und so fort. Natürlich ist damit nicht die Notwendigkeit von weniger umweltbelastenden und energiesparsameren Produkten und Produktionen et cetera geschmälert. Allerdings folgen aus ihnen Produktivitätseinbußen und Einschränkungen. Zwar ließen sich viele Produktionen und Produkte einsparen, ohne dass Menschen substanziell auf etwas verzichten müssten. Allerdings beträfe ein radikaler Umweltschutz auch andere Vorhaben. Die Gleichung Öko = Verzicht hat so mehr als ein Körnchen Wahrheit. Die Produktivitätseinbußen aus Zwecken des Umweltschutzes verringern sich, wenn auch mit der Bevölkerungszahl die Masse des zu Produzierenden sinkt. Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl: “Wir sollten es schaffen, die Weltbevölkerung wieder auf 1–2 Mrd. Menschen absinken zu lassen … Die Biosphäre könnte eine auf dem Niveau von Amerika oder Europa konsumierende Weltbevölkerung in dieser Größenordnung (10 Mrd. – Verf.) nicht aushalten. Die Abfallproblematik allein wäre so groß, dass die Biosysteme auf Dauer nicht stabilisierbar wären” (FR, 9.1.01).
Ich will hier aus Platzgründen nicht auf die Dramatisierung einer “Überalterung der Gesellschaft” eingehen (vgl. dazu Mullan 2000). Das Argument der Rentengefährdung und der Sicherung des Generationenvertrags übergeht nicht zuletzt, dass Sozialausgaben nicht nur für Renten, sondern auch für Arbeitslose anfallen. Alle sonstigen Veränderungen einmal außer Acht gelassen würde eine Verringerung der Bevölkerungszahl auch proportional eine Verringerung der Arbeitslosenzahl bedeuten. Dies setzt Finanzen frei für eine größere Zahl von Nichterwerbstätigen. Ohnehin verringern die Produktivitätsfortschritte die notwendige Arbeitszeit. Nicht nur ist deshalb die Notwendigkeit der allenthalben befürworteten Sicherung des Arbeitskräftepotenzials nicht überzeugend. Auch die Behauptung, für die Sicherung der Renten zunächst und vor allem die Arbeitsimmigration für notwendig zu halten und nicht auf Produktivitätsfortschritte zu setzen, will nicht einleuchten. Vor allem wird ein zentraler Effekt des Imports von Arbeitskräften übergangen: Aufrechterhaltung der Reservearmee, der Konkurrenz unter den Arbeitskräften, auf absehbare Zeit unüberwindbare kulturelle Desaggregation der Bevölkerung, lebensweltliche Spaltung, Gewöhnung daran, dass die einzige Sprache, die die verschiedenen Bevölkerungsgruppen untereinander teilen, die des Geldes und der Funktionsrollen ist: Einkaufen, Verkaufen, Arbeitskraft anbieten et cetera. [1] Die Bevölkerungszahl hat hier eine zentrale Bedeutung: “Arbeitgeber” haben bei Vollbeschäftigung weniger Handhabe gegen die arbeitenden Menschen. Hausbesitzer verfügen bei geringerer Nachfrage ebenfalls über weniger Trümpfe. Die so genannte Reservearmee an Arbeitskräften, die gegen einander auszuspielen sind, verringert die Löhne und den Zusammenhalt der Arbeitenden untereinander. [2]
Der Internationale Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart erklärte es “zur Pflicht der organisierten Arbeiterschaft, sich gegen die im Gefolge des Massenimportes unorganisierter Arbeiter vielfach eintretende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung zu wehren. … Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und an niedere Lebenshaltung gewöhnte Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen.” “Dem” Kapital kommt eine Bevölkerungsgruppe nur zupass, die den Einheimischen vorführt, dass man auch mit weniger Wohnraum, Lohn und sozialer Sicherung über die Runden kommt. Wem zur Kritik daran nur reflexhaft Protektionismus einfällt, der stellt sich nicht die Frage, wie Gesellschaften mit einer schlechten Gesellschaftsqualität, also mit sozialen Verhältnissen, die ein gestalterisches Einwirken der Menschen auf die Gesellschaft erschweren bis verunmöglichen, dem Weltregime des abstrakten Reichtums trotzen können. Gesellschaftlich (nicht allein, aber auch) durch Zuzug zusätzlich desaggregierte Länder sind diesbezüglich geschwächt. Dies gilt ebenso für Länder, deren “leistungsstärkste” Mitglieder ins Ausland abwandern. Der ökonomischen Internationalisierung dürfte zudem nicht angemessen ein Internationalismus von unten entgegenzusetzen sein. [3] Gesellschaftsgestaltung bezieht sich immer zunächst auf eine irgendwie noch überschaubare Größe und nicht auf ein raumloses Überall (vgl. Creydt 1999). Kosmopolitismus ist auch Ausflucht: Global denken, um nicht lokal handeln zu müssen. Und jedes Handeln ist bestimmtes Handeln, das von begrenzten Personenkreisen ausgeht, bestimmte Orte betrifft und nicht das Allgemeine unmittelbar. Die Mobilität verstärkt die Ortlosigkeit, wenn es tendenziell für immer mehr Menschen nurmehr zeitweilige Durchgangsstationen gibt, der beständige Ortswechsel die lokale Verankerung und Assioziation von Menschen untergräbt und die Gestaltung eines gesellschaftlichen Raums scheinbar unnötig macht.
Die Fixierung vieler Linker auf die Verteidigung von Grundrechten als letztem Ankerpunkt (vgl. zur Kritik auch Creydt 2000a) hat die Aufmerksamkeit dafür verstellt, dass die Freiheit von Einschränkungen und Ausschließungen gesellschaftlich perspektivlos bleibt, wenn sie nicht einmündet in Kooperation, Arbeit von Menschen für Menschen, Gestaltung von Gesellschaft durch ihre Mitglieder und so weiter. “War es nicht schon das Anzeichen für eine gewisse Enge des 68er linken Geschichtsverständnisses, dass es sich so monoman auf Emanzipation eingeschworen hat? Das Sich-frei-Machen aus Fesseln ist ja doch nur das eine, Bedingte; das unbedingte Andere ist das freie Eingehen in neue und sogar weiter reichende Verbindlichkeiten, ein Akt der (Um-)Vergesellschaftung” (Helmut Fleischer, Widerspruch 19/20, München 1990, S. 18). Zur Diskussion stehen die innergesellschaftlichen “Assoziationsverhältnisse” (Offe 1989) oder die Sittlichkeit (sensu Fleischer 1987), die über Gesellschaftsgestaltung entscheiden. Von ihnen abstrahiert das Recht wie die Moral. Übersehen wird, wie der massenhafte Zuzug fungiert als ein Moment jener Entwicklung, die gesellschaftliche Dissoziation und Indifferenz begünstigt. Unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung von Gesellschaft durch sich selbst ist die Ausländerfrage Teilmenge einer Zerspaltung der Bevölkerung in Lebensstil-Enklaven, des konsumistischen, kulturalistischen und ethnischen Narzissmus der kleinsten Differenz (vgl. zur Kritik auch Creydt 1999a), der Identitätsstiftung durch Distinktion mangels (weit verstandener) menschlicher Arbeit und Teilhabe an Gesellschaftsgestaltung. Teile und herrsche: Die Formalisierung der objektiven gesellschaftlichen Synthesis (Markt, Rendite, Bürokratie, Recht usw.) findet in der Pluralität einander gleich gültiger und gleichgültiger Kulturen ihr lebensweltliches Gegenstück. [4] Dieses Problem haben wir auch ohne ausländische Mitbürger. Die Ausländerfrage gewinnt ihre Prominenz aber in diesem Kontext. Selbst dort, wo die Fremden gar nicht so fremd sind, werden sie zum Symbol der Fremdheit der “eigenen” Welt. Die “Fremden” unterliegen zudem unter Bedingungen einer ihnen indifferent-abweisend oder ausbeuterisch bis feindlich entgegentretenden Welt einer reaktiven Selbst-Ethnisierung.
Es geht hier nicht darum, eine prinzipielle Fremdheit von Kulturen und Religionen zu behaupten, sie als ebenso unwandelbare wie monolithische Substanzen aufzufassen [5] und die Menschen, als ob sie nicht in einem Land auch Arbeits-, Berufs- und Wohnwelt miteinander teilen, nur als Gefäße der jeweiligen Religion und Kultur zu stilisieren. Auch wer dies nicht tut, kann aber nicht an den im Kapitalismus ebenso vital wie tief verankerten Quellen vorbeigehen, die entlang von Religionen, Kulturen, Rassen und Herkunftsorten Spaltungen, Selbst- und Fremdklischees produzieren. Gesellschaftlich Konstituiertes wird im herrschenden Alltagsverstand zur jeweiligen persönlichen, nationalen, kulturellen Eigenschaft verdinglicht. Die Naivität des Multikulturalismus besteht darin, einerseits realpolitisch den Kapitalismus als unüberwindbar oder als erhaltenswert zu erachten, gleichzeitig wirklichkeitsfremd die aber mit ihm notwendig gegebenen Phänomene Konkurrenz, Verdrängungswettbewerb, Hierarchie von Tätigkeiten und so fort zu übergehen. Keine Rechenschaft wird sich darüber abgelegt, dass in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft notwendig jede Fremdheit, soweit sie nicht kulinarisch-touristisch als exotische Beigabe zum Unterhaltungsprogramm oder ökonomisch als der Vermehrung des abstrakten Reichtums nützliche Ressource gilt, aufgeladen wird zur Legitimation eben etwa von Ausschluss, Niederlage in der Konkurrenz, Fixierung auf unteren Stufen in der Hierarchie. Nicht aus Kulturen, Religionen selbst, gewissermaßen endogen, ergeben sich zwingend unüberbrückbare Gegensätze, sondern aus dem kapitalistischen Kraftfeld, in dem sie heute real weltweit stehen. [6] Wo auf den Kapitalismus bezogene Gesellschaftsgestaltung und -veränderung an Sympathie verlieren, gewinnt Moral an Gewicht. “Der Fremde ist mein Freund” – solche Parolen bieten eine Art Fastfood-Humanismus, der aller Erfahrung nach keine härteren Belastungsproben übersteht und den realen Schwierigkeiten enthebt. Es muss kein Zeichen von besonders anerkennenswertem, weil anspruchsvollem Engagement sein, die Konkurrenz gerade dort einhegen und Gegensätze dort überwinden zu wollen, wo dies am schwersten geht. Weder die Ausländer-raus-Schreier noch die Multikulti-Freunde machen sich klar, was dafür erforderlich ist, dass Gesellschaften sich selbst gestalten: Rückbau des Weltmarktes und Regionalisierung der Ökonomie. Nur so kann die verheerende Konkurrenz überwunden werden und das Null-Summen-Spiel. Beide sorgen dafür, dass das etwa in Deutschland Produzierte nicht mehr in Portugal, Polen oder der Türkei produziert wird, und dafür, dass es eine Konkurrenz auch auf dem Weltarbeitsmarkt um die hoch qualifizierten Kräfte gibt.
Der Ausländerzuzug im Sinne einer massenhaften Einwanderung war und ist nicht nur deshalb problematisch, weil er den positiven Wirkungen einer Abnahme der Bevölkerung quantitativ entgegenläuft, sondern weil er auch qualitativ zu jenen Spaltungs-, Indifferenz- und Entropieprozessen gehört, die die Möglichkeit der Gestaltung der Gesellschaft durch sich selbst nicht verbessern. Insofern viele Linke nur den Kollektivismus oder den Individualismus kennen, verteidigen sie letzeren gegen Ersteren, während die völkische Rechte genau umgekehrt verfährt. Beide kennen nicht die Perspektivenverschränkung der Menschen in der Arbeit an den großen gemeinsamen Aufgaben der Überwindung von Konkurrenz, Besitzindividualismus, Betriebsblindheit, Fachidiotentum, formaler Synthesis (vgl. dazu Creydt 2000). Beide verfehlen die bitter notwendige Arbeit an diesen gesellschaftlichen Assoziationsverhältnissen (vgl. zu dieser Arbeit Creydt 1999b, c.). Das scheinbar aufgeklärte Lob der großstädtisch-modernen Indifferenz übergeht die noch von Georg Simmel (z. B. in seinem Großstadt-Aufsatz) deutlich hervorgehobene notwendige Verschränkung von Distanziertheit, Blasiertheit und Misstrauen mit “Antipathie”, als “latentes und Vorstadium des praktischen Antagonismus”. [7] Auch die wohlfeile Warnung vor der Utopie einer homogenen Gesellschaft beschönigt das Neben- und Gegeneinander als “Differenz” und verstellt das Nachdenken über die desaströsen Effekte jener Konsequenz, die der Verzicht auf das Postulat eines sinnvollen gesellschaftlichen Bezugs von Menschen zueinander hervorbringt: “Man hat gelernt, auf wahrgenommene Differenzen mit Nicht-Entscheidung, also mit Gleichgültigkeit und Indifferenz zu reagieren. … Gelebte Gleichgültigkeit scheint … die realistischere Variante, mit der bis auf weiteres offene Feindschaft und Diskriminierung vermieden werden kann” (Radtke 1990/90, 93).
Insofern die Linke die Gesellschaftsgestaltung nicht in den Vordergrund stellt, sondern defensiv die Grundrechte fokussiert und einem Faible für die “Minderheiten” frönt (vgl. Creydt 1999a), verfehlt sie auch in puncto Bevölkerungsentwicklung zielsicher die Frage nach der Lebensqualität. Sie lässt sich weder unter Abstraktion von der Frage nach der Gesellschaftsqualität noch in der Perspektive des Schutzes vor der Gesellschaft positiv angeben. Bevölkerungspolitik widerspräche dem “von Frauenbewegungen eingeforderten Recht auf selbstbestimmte Geburtenkontrolle als Individualrecht” (Lateinamerika-Nachrichten H. 231/232). Gegen die Brutalität bestimmter bevölkerungspolitischer Maßnahmen (gesundheitsschädliche Eingriffe, Zwangssterilisierung usw.) einzutreten ist das eine. Die positive gesellschaftliche Perspektive lässt sich aber in diesem Horizont nicht formulieren. Die Abstraktheit der Grundrechte – ihre Abstraktion sowohl von der gesellschaftlichen Ausrüstung der Menschen mit Mitteln, ihr Leben einigermaßen angenehm und sinnvoll zu gestalten, als auch von den gesellschaftlichen Assoziationsverhältnissen – kehrt im Eintreten für sie wieder: Selbstbestimmung bleibt eine Phrase ohne die Vermehrung des Reichtums als notwendige Bedingung für Gesundheits- und Bildungswesen, Altersversorgung et cetera. Unterschlagen wird in der abstrakten Präferenz für das Individualrecht sein Beitrag zum Bevölkerungswachstum. Es sorgt gegenwärtig faktisch dafür, dass der Ast, auf dem “frau” später sitzen möchte, wenn anders die Rede vom Individualrecht nicht bloße Abstraktion sein soll, nicht bloß abgesägt wird, sondern gar nicht erst wächst. Schöne Selbstbestimmung auch, die eben als Selbstbestimmung schon anerkennungsheischend mit sich selbst prunkt. Der formell freie Wille will den formell freien Willen. Der bestimmte Inhalt des Willens gerät dann in den Hintergrund. Schöne Selbstbestimmung also, die Kinder als Altersversorgung, als Ausweis weiblicher Gebärfähigkeit und männlicher Potenz instrumentalisiert. Sie werden schließlich nicht gefragt, ob sie in Armut, Elend, Dreck und Gewalt hineingeboren werden wollen. Ohne Rücksicht auf die Folgen der individuellen Entscheidung für die Lebensweise anderer wird “Selbstbestimmung” zum Maßstab erhoben.
Auch wenn man die Argumente dafür als richtig erachten würde, dass auf der Erde von der Ernährung her bei entsprechender Umgestaltung Platz für viel mehr Menschen wäre, so abstrahiert diese Position doch gleich zweifach von jeder Qualität. Sowohl von der Beschaffenheit des Platzes, der angeblich für alle Menschen da sei, wird abgesehen, als auch von der Lebensqualität, die mit der Ernährung verbunden ist, wenn sie nicht einfach als abstrakte Menge an Nährstoffen traktiert wird, als Nährlösung. Astronautennahrung täte es dann auch. Wer damit argumentiert, zu ernähren seien auch 15 Milliarden Menschen bei entsprechend umgestalteter Landwirtschaft, der sagt nichts aus über den Platz, den Menschen dann hätten. Dabei bedarf es keiner besonderen Hellseherei, das zu prognostizierende Gedränge zu bewerten. Bereits heute liefert die Überfüllung von Städten genug Anschauungsmaterial dafür, dass Lebensqualität auch etwas mit einer geringeren Menge an Menschen pro Quadratkilometer zu tun hat. Wem die Überbevölkerung kein Thema ist, der nimmt die Erfahrung nicht ernst, die jede(r) in der Stadt bereits hierzulande machen kann. Schon die schlichte Tatsache der Massenhaftigkeit der städtisch konzentrierten Menschen hat ihre eigenen Auswirkungen auf die Lebensqualität. Diejenigen, die wg. “nichtartgerechter” Massentierhaltung Eier von Freilandhühnern vorziehen, abstrahieren von den Erfahrungen, die sie mit ihrer Existenz in städtischen Nistkästen und Hasenställchen und beim Eingepferchtsein im öffentlichen “Nah”-Verkehr täglich machen dürfen. Ganz zu schweigen von den Warteschlangen bei öffentlichen Veranstaltungen, dem Stau beim Wochenendausflug und so fort. Schon unter diesen Gesichtspunkten, nicht allein im Hinblick auf globale ökologische oder ernährungspolitische Probleme, spricht einiges für den Eindruck, es gäbe zu viele Menschen auf der Welt – auch in Europa.
Und die Frage nach der Qualität stellt sich auch von der Ernährung selbst her: “Von zwei gleich großen Stücken Land, von denen das eine rein pflanzlich genutzt wird – sagen wir etwa durch den Anbau von Maniok wegen seines hohen Nährwerts trotz schlechten Geschmacks – , das andere zur Haltung von Rindern und Schweinen, so wird das pflanzlich genutzte Feld eine wesentlich größere Anzahl von Menschen deutlich billiger ernähren können, zwar nicht so wohlschmeckend, aber zur Weitervermehrung, zum Kreuz und Knie Beugen reicht es aus. Die Erhaltung oder Steigerung der Lebensqualität ist sowieso nicht geplant, und langfristig wird der Vegetarismus die einzige Möglichkeit, um die 15–20 Mrd. Menschen – so hoch sind nämlich die offiziell angegebenen erdballverträglichen Zahlen … – noch zu ernähren” (Ketzerbriefe 50/54 f., 1994).
Vorbehalte, wenn nicht sogar hoch affektiv geladene Abwehr gegen die Befürwortung einer weit geringeren Bevölkerungszahl gibt es auch aus der Wertschätzung des menschlichen Lebens als achtenswertes Gut. In diese Achtung geht konstitutiv ein, die Frage nach menschlichem Leben zu trennen von der Frage danach, wie die Qualität der Existenz beschaffen ist. So schlägt die Achtung des Lebens, die ein Schutzkriterium sein soll, um in die Zumutung, noch alles erleiden zu können, insofern man und frau sich den Wert des Lebens nicht verleiden lassen wollen. Da am Menschen für Religionen in erster Linie sein Bezug zur Transzendenz zählt, an der er sein wahres Wesen finden soll, wird ihm auch die Verfügungs- und Gestaltungsmacht über sein Leben und Schicksal nur innerhalb enger Grenzen zuerkannt. Auch Kinder gelten dann als “Geschenk Gottes”. “Wir haben es in den Überlegungen für eine Geburtenregelung immer mit dem Geheimnis und Wunder des Lebens überhaupt zu tun, nicht nur mit eigenen Interessen und Erkenntnissen” (Hegele 1983/111 f.). Auch bei jenen, die nicht bewusst religiös sind, halten sich hartnäckig Abkömmlinge der religiösen Herangehensweise, wenn man sich viele der Diskussionen darüber vergegenwärtigt, ab welchem Moment es sich beim Embryo schon um menschliches Leben handelt. Schließlich ist für Kirchen die von der Position der Bevölkerungsabnahme her gerade attackierte Armut der irdischen Existenz ein verlässliches Motiv der Nachfrage nach Religion.
Ein weiteres Argument bezieht die Befürwortung einer Abnahme der Bevölkerung auf “Kinderfeindlichkeit”. Auch wer eintritt für eine Gestaltung objektiver gesellschaftlicher Strukturen mit dem Ziel, dass Kinder gut aufwachsen können, auch wer subjektiven Mentalitäten entgegentritt, mit Kindern nichts zu tun haben zu wollen, muss deshalb nicht unterschreiben, dass eine hohe Zahl von Kindern eine kinderfreundliche Gesellschaft anzeigt. Dies scheint historisch für die Vergangenheit nicht zu stimmen, in der erst mit der Moderne eine Achtung des Kindes in seiner Individualität anfängt. Die größere Kinderzahl in Europa zu früheren Zeiten und die gegenwärtige höhere Kinderzahl in anderen Kontinenten begründet sich nicht aus größerer Kinderfreundlichkeit und geht auch nicht mit ihr einher. Vielmehr sind Kinder oftmals die einzige Ressource oder die einzigen Mittelbeschaffer, zu der Eltern Zugang haben. Zudem zwingt eine größere Kindersterblichkeit zu “Vorsorgegeburten”. Schließlich treibt die Geschlechterpräferenz für Söhne in bäuerlich geprägten Regionen die Kinderzahl in die Höhe. Auch schließt eine geringe Zahl von Kindern oder das Einzelkind nicht aus, dass Kinder anders erzogen werden. Kindergruppen und eine zuverlässig-kontinuierliche Beteiligung anderer “Bezugspersonen” außerhalb der unmittelbaren Familie dürften dafür sorgen, dass weder die Kinder unter Isolation noch die Erwachsenen unter Mangel an Kontakt zu Kindern zu leiden haben. [8]
Die Abnahme der Bevölkerungszahl erscheint aus ökologischen Gründen ebenso begrüßenswert wie aus Aspekten der Lebensqualität (Dichtestress). Die Gegenargumente, eine hohe Zahl der Bevölkerung sei für wirtschaftliche Stärke und die Sicherung der Renten unabdingbar, übergehen die Produktivitätsgewinne und die mit ihnen einhergehende Freisetzung von Arbeitskraft. Auch andere Gegenargumente (Kinderfeindlichkeit, weibliches Selbstbestimmungsrecht, Ernährbarkeit einer größeren Weltbevölkerung) legen einen anderen Maßstab zur Beurteilung der Bevölkerungszahl an als das Wohl des Individuums sowie die Qualität der Gestaltung von Gesellschaft durch sich selbst. Für beide erweist sich eine geringere Zahl der Bevölkerung als positiv – in den Metropolen und in der “Dritten Welt”. Legenden über die Notwendigkeit, eine hohe Bevölkerungszahl in den Metropolen zu erhalten, verdecken die tatsächlichen Nutznießer der Migration sowie ihre Folgen. Sie trägt in der “ersten” und in der “dritten” Welt dazu bei, die Spaltung und Desaggregation zu erhöhen, eine universelle Ortlosigkeit zu etablieren und zu verhindern, dass sich gegenüber dem Regime des abstrakten Reichtums handlungsfähige und also notwendig territorial begrenzte und raumbezogene kollektive Akteure bilden, die die gesellschaftliche Gestaltung ermöglichen. Kosmopolitische Luftwurzeln helfen da ebenso wenig wie der Rekurs auf die Seele, das Prinzip Leben und die individuelle Selbstbestimmung.
Anmerkungen
[1] In den USA (13 % Schwarze, 11 % Hispanics) lässt sich die anvisierte Zukunft des Multikulturalismus unter kapitalistischen Vorzeichen besichtigen: Ein Nebeneinander einander indifferenter bis feindlicher ethnischer Gemeinschaften. “Die Konzentration der Koreaner auf die Zentren New York (mit mehr als 100000 Menschen), San Francisco (mit wenigstens 100000), Los Angeles und Südkalifornien (400000) erlaubt den Einwanderern eine fast autonome Existenz. In der Metropole am Pazifik weisen große Schilder von der Stadtautobahn nach ,Koreatown‘, … in dem sich so gut wie jeder Wunsch an das Leben ohne ein Wort der englischen Sprache erfüllen lässt – Koreanisch genügt” (FAZ-Magazin, 7.2.92). Die kulturalisierende und ethnisierende Desaggregation ruht auf tief in der US-Lebensweise eingelagerten Strukturen: “Die Selbstghettoisierung in der bevorzugten neighborhood schirmt ab” (Armanski 1981/14). “Die Amerikaner erleben nie Gesellschaft als ein komplexes, arbeitsteiliges und differenziertes Gebilde aller Menschen um sich her, mit schwer wiegenden Problemen und dringend zu lösenden Aufgaben. Sie erleben nur ihre (jeweilige; d. Verf.) Insel” (Wagner 1977/108).
[2] “Als z. B. die Pest in Florenz in der Art eines ungeplanten Ersatzes der Geburtenkontrolle, einer rückwirkenden Geburtenkontrolle sozusagen, die Bevölkerung halbierte, halbierten sich auch die Mieten, während sich die Löhne vervierfachten” (Ketzerbriefe 93/11).
[3] Notwendig ist internationale Solidarität sowohl punktuell (als solidarische Hilfe) wie strukturell (als Aufmerksamkeit für die in der Herausbildung des Weltmarktes ganzen Erdteilen zugefügten Beschädigungen). Etwas anderes ist es aber, gegenüber der Globalisierung die Chancen eines Internationalismus von unten zu überschätzen. Die Bemühungen in dieser Richtung sollten nicht davon ablenken, dass Gegenmacht auf überschaubaren Gebieten und überbrückbaren sozialen Unterschieden beruht. Kapitalismus basiert hingegen auf Verselbstständigung des Reichtums gegen die Menschen, deren Trennung voneinander gerade Voraussetzung und Resultat ihrer abstrakten Synthetisierung durch das Kapital ist. Die von manchen erhoffte Weltöffentlichkeit erscheint als höchst unwahrscheinlich: Ihre “Konturen sind derzeit noch höchst diffus, ihre Akteure nur sehr schwer zu kontrollieren; und die Konsens- und Kooperationskosten internationaler Zusammenarbeit sind in jedem Fall exorbitant hoch und die Ungewissheiten, die mit der Durchsetzung entsprechender Verträge verbunden sind, groß” (Grande 1997/18).In puncto Globalisierung ist das Ziel einer “internationalen Zivilgesellschaft” (vgl. zu ihrer skeptischen Beurteilung auch Görg/Hirsch 1998), die einen kapitalistischen Weltmarkt kompensieren oder ihn sich gar unterordnen soll, nicht ein Ziel, mit dem man es momentan nur wegen zu großer gegnerischer Übermacht schwer hat. Dieses Ziel ist vielmehr selbst nicht verwirklichbar, also nicht nur eine heute nicht, aber bei genügend Einsatz später realisierbare Möglichkeit, sondern eine “Unmöglichkeit”. Dieses Ziel verkennt, dass die notwendige Perspektive quer zur ökonomischen Internationalisierung steht und nicht auf ihrer Grundlage aufbauen kann. Zwar bedarf es internationaler Absprachen, ihr Ziel muss aber sein, die “Notwendigkeit übergreifender Entscheidungen und Regulierungen zu vermindern” und “die eigenständige politische Kompetenz lokaler und regionaler Einheiten zu Lasten von Staaten und internationalen Organisationen zu stärken” (Görg/Hirsch 1998/341).
[4] “Der Kosmopolitismus könnte durch folgenden Syllogismus wiedergegeben werden. Die Prämisse ist: alle Kulturen sind gleichermaßen wahr, keine ist es mehr als die andere. Daraus folgt, daß der totale Mensch die Summe der früher aufgespaltenen Kulturen sein muß. Schlußfolgerung: Alle Kulturen sind eine einzige Kultur, folglich ist keine Kultur an sich beachtlicher als eine andere, denn sie sind alle nur Probestücke der Weltzivilisation. Das Resultat ist das Gegenteil dessen, was die Prämissen aussagten. … Der Kult der Differenz mündet in quietistische Gleichgültigkeit: wenn alles gleichviel wert ist, zerstören und widerlegen sich die Weltanschauungen gegenseitig. … Wir sind alle gleich, weil ihr mir alle gleichgültig seid” (Bruckner 1983/137 f.).
[5] “In Wirklichkeit sind alle wesentlichen Merkmale des heutigen Westens weit mehr das Ergebnis höchst widersprüchlicher und konfliktreicher Entwicklungsprozesse als das Produkt einer ursprünglich chromosomenhaft angelegten, kulturgenetischen Selbstentfaltung” (Senghaas 1995/ 181).
[6] “Obgleich von einer breit gefächerten Ethnizitätsforschung gut dokumentiert, entgeht Huntington (in seinem einflussreichen Buch Kampf der Kulturen; Verf.) die Tatsache, daß kulturelle und in aller Regel religiöse Faktoren selten am Ausgangspunkt einer Konflikteskalation durchschlagendes Gewicht besitzen. Zu beobachten sind vielmehr sozioökonomische Problemlagen ohne Aussicht auf eine Lösung. Da handelt es sich ganz überwiegend um Fälle sozialer und ökonomischer Diskriminierung, die sich auf politischer und kultureller Ebene wiederholt” (Senghaas 1997/218).
[7] “Wo die rechtlich-politische Modernisierung ,zuviel‘ Differenz für unmaßgeblich erklärt, ist zu beobachten, daß individuelle und kollektive soziale Akteure sich ihren Abstraktionspflichten durch eine Re-Biologisierung von Differenz entziehen und die Angleichung von Rechten so unterlaufen” (Offe 1996/280).
[8] “Man kann auch die Kinder anderer Leute lieben und miterziehen, man kann auch nicht-eigene Kinder fördern, gernhaben und mitversorgen, aber nicht jede/r braucht unbedingt eigene Kinder. Die wechselseitige Sympathie zwischen Erwachsenen mit und ohne Kinder(n) kann der Bereicherung und Entlastung beider dienen. Die guten Nerven und die Distanz Kinderloser … können durchaus den Kindern wie den Eltern von Kindern zugute kommen” (Ziebell, Schmerl; Queisser 1992/217).
Literatur:
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COPYRIGHT: Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur. Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)
Ausgabe Februar 2001 (19. Jg., Heft 2/2001)