Hartmut Krauss [1] hat für die von ihm zu gründende “Gesellschaft für kritische Sozial- und Subjektwissenschaft” den Entwurf einer Grundsatzerklärung vorgelegt, der einige gravierende Schwächen enthält. Dieser Entwurf ist in der Mai-Ausgabe von trend-online im Internet allgemein zugänglich. Die Auseinandersetzung mit einigen Essentials ist über den ja vergleichsweise irrelevanten Anlaß dieser Vereinsgründung hinaus von Interesse, insofern auch sonst in der Linken verbreitete Klischees zum Thema werden. Ich bitte um Nachsicht dafür, daß ich nicht alle Thesen material ausführe, sondern jeweils auf einschlägige Literatur verweise, um den Text kurz zu halten.
Meine Einwände beziehen sich nicht auf Kleinigkeiten, sondern auf zentrale Aussagen wie
- die Selbstcharakterisierung als “ganzheitlich-dialektisch”
- das für eine “Gesellschaft für kritische Wissenschaft” zentrale Wissenschaftsverständnis
- die Rede von “Monopolkapital”
- das Verständnis der herrschenden Demokratie
- die mehr als verwechselungsanfällige Rede von “Anomie”
- die Beanspruchung des “Humanismus”
- die für eine Gesellschaft für Subjektwissenschaft zentrale Charakterisierung moderner Subjektivität
- die Rede von “naturwidriger Lebensart”
- eine unmittelbare Rede von “Ausbeutungs-, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen”.
1) Der Ausdruck “ganzheitlich-dialektisch” (S. 2) wird als Charakterisierung des eigenen Vorgehens gewählt. “Ganzheitlich-dialektisch” kann alles mögliche heißen. Ganzheitlich sind auch new-age-Theorien (Capra u.a.) oder reaktionärste, wenn auch theoretisch nicht uninteressante Soziallehren wie die von Othmar Spann. Ganzheitlichkeit beinhaltet bei vielen ihrer Vertreter, daß ihnen zufolge alles mit allem, aber nichts Bestimmtes mit anderem Bestimmten auf bestimmte Weise zusammenhängt. Dialektik heißt bei Hegel, daß Gegensätze zu Widersprüchen führen und diese es bei sich selbst nicht aushalten und sich übersteigen auf eine neue Einheit hin. Das Geschäft Hegelscher Dialektik ist, etwas kess gesagt, eine Art Versöhnungskonsequenz und kathartische Selbsttranszendierung geistig in die Phänomene hineinzudeuten, die mit materialistischer Analyse realer sozialer Gegebenheiten, ihren Beharrungs- und Trägheitsmomenten und ihrer systematischen Selbstreproduktion sowie der Herausbildung von Widerstand absorbierenden Immunsystemen nur sehr vermittelt zu tun hat. Ich sage damit nicht, daß man von Hegel nicht in anderer Hinsicht eine Menge lernen kann. Aber: Wer solche Vokabeln wie ›dialektisch‹ im Munde führt und nicht sofort einen Index macht und sagt, was er damit meint, eröffnet ein reichhaltiges Feld von möglichen Verwechslungen und Assoziationen, die auf nichts Gutes verweisen (Diamat bspw.). Das Verständnis von Marx’ Dialektikauffassung, deren Verhältnis zu Hegel usw. ist ein derart vermintes Feld und voll derart vieler Fallen, daß man es nicht einfach selbstverständlich, als sei doch alles einfach und klar, im Munde führen kann. Diese These führen aus: Koczyba, Hermann 1979: Widerspruch und Theoriestruktur. Frankf.M. und: Diethard Behrens, Kornelia Hafner: Totalität und Kritik. In: Diethard Behrens (Hg.): Gesellschaft und Erkenntnis. Freiburg 1993
Statt “ganzheitlich-dialektisch” wäre ›Materialismus‹ ein vorrangiges Thema einer Gesellschaft mit dem annoncierten Titel. Vgl. zum einen das praxisanalytische Lebenswerk von Helmut Fleischer [2] , vgl. zum anderen die Analyse der nichtnormativen und subjektlosen Strukturen kapitalistischer Gesellschaft [3].
2) Die Kritik an Sozial- und Subjektwissenschaft in der “Grundsatzerklärung” auf S. 2 pickt einige Phänomene heraus, analysiert aber nicht die grundlegenden Fehler und Vorgehensweisen bürgerlicher Wissenschaft. Um gleich konstruktiv mit m. E. einschlägigeren Argumenten aufzuwarten: Ich habe einige Essentials einer Wissenschaftskritik (fokussiert auf Sozialwissenschaften) formuliert in:
Creydt, Meinhard: Regeln nicht nur des soziologischen Verstandes. In: Das Argument, H. 222 1997 und in: Wissenschaft, die nicht denkt. In: Reader zum Kritischen Hochschultag an der FU, 23.5.2001, hg. von: Fachschaftsreferat AstA, BdWi. Berlin
Dem Mangel an Wissenschaftskritik korrespondiert auch in einem Artikel von H. Krauss im ›Hintergrund‹ 1/2001 (und auf S. 8 der Grundsatzerklärung) eine völlige Überschätzung postmodernen Denkens als Feindbild. Der Blick in führende sozialwissenschaftliche Zeitschriften (Kölner Zeitschrift für Sozialpsychologie und Soziologie, Soziale Welt, Soziologische Revue bspw.) oder in die Bände des Soziologen- oder Politogentages oder in die Feuilletons/Wissenschaftsteile der Blätter für den gehobenen Tiefsinn (Zeit, FAZ usw.) zeigt, daß postmodernes Denken in der Wissenschaft eher randständig ist. Krauss’ unterkomplexe Feindbildkonstruktionen schrecken ab und setzen falsche Marken und Akzente. Die Postmoderne in der Wissenschaft zum Hauptgegner zu erheben, dürfte von den Prof.s, die an den Unis normale bürgerliche Wissenschaft durchsetzen, als durchaus in ihr Konzept passend gewertet werden.
Die Unbekümmertheit übrigens, mit der Krauss selbst in seinem Entwurf zwischen Theorie und Alltagsplausibilität hin- und herwechselt und die Evidenz zum Zeugen für seine Theorie aufruft, dementiert den (zu den Grenzen des Alltagsverstandes proportionalen) Grund für Theorie.
3) In der Grundsatzerklärung wird, bei allem beteuerten Willen zur Überwindung des Revisionismus, affirmativ von “Monopolkapital” geredet (S. 2). Soll damit das zentrale ökonomische Deutungsmuster des Revisionismus von Lenin bis zur Stamokaptheorie, das eine weitgehende Ablösung der Konkurrenz durch Monopole bzw. den Trend zu dieser Ablösung annimmt, positiv Anwendung finden? Wenn ja, dann wäre dies eine nicht notwendige und äußerst umstrittene Festlegung. Vgl. zur Kritik an der Annahme einer Phasenreihenfolge Konkurrenzkapitalismus - Monopolkapitalismus bspw. Altvater, Elmar 1975: Wertgesetz und Monopolmacht. In: Argument- Sonderbd. 6. Zur Theorie des Monopols. Berlin-West. Vgl. a.: Rolf Ebbighausen (Hg.): Monopol und Staat. Frankf. M. 1974.
4) Bei allem beteuerten Willen zur Überwindung des Revisionismus und bei aller bisweilen fanatischen PDSabgrenzung teilt die Grundsatzerklärung ein weiteres klassisches Merkmal des Revisionismus: Allerhand abschreckende Phänomene werden aufgeführt, die eine systematische “Aushöhlung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie” anzeigen sollen. Die Frage dazu lautet: Ist an Demokratie nur zu kritisieren, daß ihre Standards unterboten oder verfehlt werden, oder sind diese Standards und Demokratie selbst zu kritisieren? Vgl. dazu meinen Artikel ›Kritik der Demokratie‹ (in der wahrscheinlich nie erscheinenden Nr. 3/2000 der ›Kalaschnikow‹), der gediegene marxistische und seriöse sozialwissenschaftliche Stimmen versammelt, die eine prinzipielle Kritik an Demokratie begründen. Prinzipielle Kritik an der Demokratie im Unterschied zur Klage über ihre mangelhafte Verwirklichung fällt nicht mit Sektierertum, Überbietungwahn oder mangelnder Aufmerksamkeit für die Unterbietung demokratischer Standards zusammen. [4]
Daß eine soziale Institution wie das parlamentarische System den selbstgesetzten Ansprüchen faktisch nicht genügt, soll nach Krauss als Ansatzpunkt für Kritik gelten können. Daß Bürger hinter bürgerliche Ziele zurückfallen, leitet aber nur dann zur Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft über, wenn es keine dem bürgerlichen Bewußtsein entsprechende Theorie gibt, die dies Verfehlen erklärt. Ideale werden durch ihr Verfehlen nicht notwendig kompromittiert oder desavouiert. (Der Revisionismus hat sich mit dieser Diskurstaktik immer letztendlich selbst lahmgelegt.) Vielmehr wäre ja das Argument einschlägig, daß gerade bei einer schwachen, immer dem kurzfristigen Interesse und der Korruption leicht verfallenden Menschennatur Werte um so nötiger sind, daß ihr Verfehlen also nicht gegen sie und noch viel weniger gegen die bürgerliche Gesellschaft spricht, sondern für das ewige Bemühen, trotz der “Entartungstendenzen” politisch gegenzusteuern. Dem bürgerlichen Verständnis zufolge zerfällt der Mensch in einen höheren und einen niedrigeren Charakter, in Überich und Triebnatur usw. Die Gesellschaft zerfällt dem Bürgerverstand zufolge in eine vitale Ökonomie und in den Staat i.w.S., der bei seinen ihm zugedachten Versittlichungs- und Zivilisierungsbemühungen aber nicht den Appetit, Schwung und Trieb der Ökonomie denaturieren oder kastrieren darf.
Immanente Kritik bezieht sich auf die Kräfte und Potenzen, die realen Möglichkeiten, die zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft relevant sind. Das normative Selbstverständnis der Bürger gehörte nur dann dazu, wenn es im bürgerlichen Bewußtsein kein zu diesen Werten zugehöriges Denken gäbe, das ihr Verfehlen begründet, ohne den bürgerlichen Rahmen zu sprengen. Dieses Denken aber gibt es. H. Krauss übergeht es nur komplett. Keine Kritik also der Demokratie ohne Kritik der Demokratietheorie der Bürger (vgl. bspw. plastisch und mit sprechendem Titel: Krockow, Christian Graf von 1987: Politik und menschliche Natur - Dämme gegen die Selbstzerstörung. Stuttgart, vgl. auch: Ders. 1990: Die liberale Demokratie. In: Iring Fetscher, Herfried Münkler (Hg.): Politikwissenschaft - Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg). Jene Phänomene, die Revisionisten als Unterbietung oder Widerlegung der Demokratie attackieren, gelten dem heute üblichen Demokratieverständnis als einzig durch die Demokratie zu bewältigende Herausforderung. Dem hegemonialen bürgerlichen Verständnis zufolge gilt die Demokratie eben als beste aller schlechten Staatsverfassungen. Die Argumente dafür gilt es erstmal zu widerlegen und die realen sozialen Bedingungen ihrer Konstitution ebenso zu begreifen wie die Möglichkeit ihrer Überwindung. Wer aus der Enttäuschung über bürgerliche Ideale Sozialist werden will, muß die Mystifikationen über sie und über die bürgerlichen Wirklichkeit durcharbeiten, sonst ereignet sich keine Enttäuschung. Es existiert kein lineares Verhältnis zwischen der wahrhaften Realisierung der Demokratie und dem Sozialismus, so wie es die DKP und der klassische Revisionismus immer behauptet hat (Verwirklichung des Grundgesetz = Sozialismus). Vielmehr muß gerade gegenüber dieser Tradition der paradigmatische Unterschied zwischen der Demokratie und einer Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder klargestellt werden. Alle Kontinuitätsannahmen (heute Formal-, im Sozialismus reale Demokratie) fallen hinter die Einsicht in diesen paradigmatischen Unterschied zurück. Nach all den Erfahrungen mit dem Revisionismus muß dem ihm eigenen Es-sich-leicht-machen eine entschiedene Absage erteilt werden. Revisionisten versuchen, den dumpfen Volkszorn auf ihre Mühlen zu lenken und kritisieren weder ihn noch die tatsächlich bestehenden politischen und ökonomischen Strukturen. Im Versprechen befangen, das von diesen Strukturen ausgeht, sind sie ewig damit beschäftigt, Ideal und Wirklichkeit miteinander zu konfrontieren, ohne das je eigene Absorptionspotential beider zu erkennen [5]. In genau diesem Sinn fokussiert H. Krauss in seiner Grundsatzerklärung “zunehmende Korruptions- und Finanzaffären, erpresserischen Lobbyismus sowie sinkende Wahlbeteiligung” (S. 4), als würden darüber nicht a l l e klagen. Aber eben auch nur klagen. Wer meint, hier ließe sich doch immerhin anfangen und die Kritik vertiefen, der wird zu fragen sein, ob dieser Anfang nicht schon das Ende seiner selbst ist - ähnlich wie bei Leuten, die (in Nachfolge von Gesell) den Zins zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Aufmerksamkeit machen. Auch das Finanzkapital bspw. läßt sich ja nicht direkt bekämpfen - also isolieren aus seiner Einbindung ins Gesamtgefüge der kapitalistischen Ökonomie.
5) In diesem Kontext ist auch die in der Grundsatzerklärung enthaltene Rede von “Anomie” problematisch (S. 5): Beinhaltet sie einen positiven Bezug auf in den Sozialwissenschaften und im Gemeinschaftskundeunterricht und in der politischen Bildung ja stark vertretene Lehren mit dem Ziel, der Gesellschaft eine Sozialintegration, Zivilisierung oder Humanisierung durch Werte zuzudenken (von Durkheim über Merton bis … Wilhelm Heitmeyer)? Dieses Paradigma verdient härteste Kritik, ist bereits überzeugend kritisiert [6] und eignet sich nicht positiv für einen Entwurf einer Ges. f. krit. Wissenschaft.
6) Humanismus: Einmal abgesehen von der vielfältigen Kritik in der Linken am Humanismus (vgl. dazu u. a. auch das empfehlenswerte Buch von Andrea Maihofer: Das Recht bei Marx. Baden-Baden 1992), ist bereits der Aussagewert sehr beschränkt: Den von Marx zitierten kategorischen Imperativ unterschreibt heutzutage jeder Gutmensch. Auch der Papst wird seine Interpretation haben, warum gerade und allein die Religion die Gewähr dafür bietet, daß der Mensch kein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen sein soll. Bitte auf solche Leer- und Pathosformeln verzichten, die von allen Seiten inhaltlich aufgefüllt werden können.
Warum den Humanismus anrufen, wenn mit ihm gerade kein archimedischer Punkt gegeben ist, keine sichere Instanz der Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse? Dies zu meinen und einen solchen archimedischen Punkt und eine solche Instanz für Kritik als unumgänglich und unverzichtbar zu werten, ist vielmehr der Fehler von Leuten, die einerseits Gesellschaftsanalyse propagieren, andererseits dann mit ›dem Menschen‹ über ein außergesellschaftliches Kriterium für die Gesellschaft zu verfügen meinen, also gerade verneinen, daß das, was Menschen sind, sich erst und allein durch die Analyse ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse klärt. Dies gilt insbesondere für die Mystifikationen über das Mensch-Sein (z.B. Aggressionstrieb, Mensch als Libidomaximierer usw.).
7) Zur Charakterisierung von Subjektivität: Mindestens ebenso relevant wie die Aufarbeitung der in der Grundsatzerklärung auf S. 7 aufgezählten Literatur wäre m.E. eine Erinnerung an (und ein Anknüpfen an) in den 70/80er Jahren geleistete gute Analysen des gesamten Aufbaus der modernen kapitalistischen Gesellschaft mit bürgerlicher Lebensweise und moderner Subjektivität. Eine Gesellschaft für kritische Sozial- und Subjektwissenschaft braucht sich nicht auf Klassikerpflege, Erbeverwaltung und Goldschürferei in z. T. sehr abgelegenen Gebieten zu beschränken (Kofler), sondern kann an für ihren Gegenstand einschlägigen Analysen anknüpfen, als da z. B. sind:
Ottomeyer, Klaus 1977: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Reinbek bei Hamburg
Ottomeyer, Klaus 1991: Gesellschaftstheorien in der Sozialisationsforschung. In: Hurrelmann, Klaus; Ulrich, Dieter (Hg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung (4. neubearbeitete Auflage) Weinheim, Basel
Prodoehl, Hans Gerd 1983: Theorie des Alltags. Berlin
Schubert, Volker 1983: Identität, individuelle Reproduktion und Bildung. Gießen
Haug, Wolfgang Fritz 1993: Elemente einer Theorie des Ideologischen. Hamburg
Ich nenne hier erstmal sozusagen bewußt Grundlagentexte, auf die sich m.E. viele als Anknüpfungspunkt einigen können. Nachlegen ließe sich einiges. Vgl. auch den Teil III meiner ›Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit‹. Thema: Subjektivität in der modernen kapitalistischen Gesellschaft.
Ich nenne diese Arbeiten auch deshalb, weil sie einer zentralen These von H. Krauss widersprechen. Er nimmt als “kennzeichnenden Grundwiderspruch der neoliberal-konservativen Ideologie” “die eigentümliche Diskrepanz zwischen marktradikaler ökonomischer Modernisierungsattitüde einerseits und dem gleichzeitigen Festhalten an traditionellen Werten und Verhaltensmaximen andererseits, die im Kontext der spätkapitalistischen Reproduktionsweise längst ausgehöhlt und partiell bereits dysfunktional geworden sind” (S. 8). Bereits mit der genannten Literatur läßt sich eine den modernen Verhältnissen entsprechende, in ihnen funktionierende, sie affirmierende Subjektivität charakterisieren (bzw. eine Subjektivität, die sich auf zu den Verhältnissen kongeniale Weise scheinbar, aber auf ihre Weise durchaus wirksam über sie hinwegsetzt), die auch den Resonanzboden gegenwärtig hegemonialer Ideologie abgibt. Es ist bemerkenswert, eine Gesellschaft für Subjektwissenschaft gründen zu wollen, aber keine moderne Subjektivität zu kennen, sondern zu meinen, die moderne kapitalistische Gesellschaft müsse vormoderne Subjektformen voraussetzen und sei auf diesen quasi fremden Vorrat angewiesen, der nun “ausgehöhlt” wird usw.
Warum die oben angeführten, ebenso gediegenen wie verständlichen Texte weniger wichtig sein sollen als “tätigkeitstheoretische” Ansätze, die H. Krauss favorisiert, ist mir unklar. Die Festlegung auf S. 7 in diese Richtung halte ich für ebenso unglücklich wie unnötig. Die Ausführungen im letzten Abschnitt von Teil III der Grundsatzerklärung 7 sind derart gedrängt und voraussetzungsvoll, daß sie genauerer Ausformulierung und eigener Diskussion bedürfen.
Jedenfalls läßt sich auch nicht einfach die sog. ›Kritische Psychologie‹ Holzkamps auf einen Verehrungssockel stellen, ohne die zu ihr erschienene Kritik wenigstens zur Kenntnis zu nehmen und auf sie einzugehen. Vgl. Voigtel, Roland 1984: Zum Verhältnis von bürgerlicher Ökonomie und privater Individualität. Kritik der ›Kritischen Psychologie‹ (Diss. am Psych. Inst. d. FU Berlin bei I. Staeuble und F.O.Wolf). Besonders die überzeugende Therapiekritik (Der Fall Lothar) in Kapitel 6 fordert doch eine Antwort heraus. Vgl. auch diverse, qualitativ sehr unterschiedlich ausfallende Artikel in der Zeitschrift Psychologie und Gesellschaft bzw. (ab Nr. 2) Psychologie und Gesellschaftskritik 1977ff.
M. E. wäre es eine bildungsarbeiterische Aufgabe, auf gute vorliegende Analysen des Gesamtgefüges der modernen kapitalistischen Gesellschaft hinzuweisen und auch dafür zu sorgen, daß bestimmte Bücher wieder zugänglich sind. Ottomeyer 1977 ist bspw. ein Buch, das jede/r verstehen kann und das sich zur Bildungsarbeit hervorragend eignet, auch wenn ich damit natürlich nicht jede Einzelheit unterschreibe. Eine sehr gute Einführung halt. Eine Neuauflage sollte sich bewerkstelligen lassen.
8) Auf S. 10 ist von “naturwidriger Lebensart” die Rede. Der Einwand: Die Natur kann durch Menschen nicht zerstört, sondern nur umgewandelt werden. Nur wer die Natur als eine Art Subjekt setzt und sie mit bestimmten Zuständen ihrer selbst identifiziert, kann bspw. das Umkippen eines Gewässers als Gewalt gegen es auffassen. Wenn die Natur schon ein Subjekt sein sollte, wissen wir aber nicht, ob sie nicht auch das Umkippen als spannende Metarmorphose erlebt: Was für schöne Farben, sagt sich dann die Natur, wenn der Schaum auf dem Gewässer rosa schimmert. Subjekte dürfen das. Im Ernst: Es geht nicht um Gewalt gegen Natur, sondern um gesellschaftliche Verhältnisse zur Natur, die die Bedingungen gedeihlicher menschlicher Existenz verschlechtern. Die Natur hat kein diesbezügliches Maß in sich. Für die Natur ist es nicht naturwidrig, daß es u.U. keine Menschen gibt. Sie hat es ja auch ohne sie ganz gut mit sich ausgehalten und wird dies später auch wieder tun. Keine Kritik an ökologischen Schäden ohne Kritik des Ökologismus! [7]
9) Auf S. 12 ist in einer Unmittelbarkeit von Ausbeutungs-, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen die Rede, die zwei Einwände herausfordert:
a) Handelt es sich nicht auch hier um von verschiedensten Seiten auffüllbare Ausdrücke? Auch das kapitalismusaffirmative, bürgerliche Bewußtsein wehrt sich bspw. gegen
- die A u s b e u t u n g der initiativbegabten, unternehmerisch Tätigen oder zumindest der arbeitsam Arbeitenden durch Untätige, Unkreative usw., die in der “sozialen Hängematte” liegen,
- die H e r r s c h a f t der Bürokratie über die initiativbegabten, unternehmerisch Tätigen, die U n t e r d r ü c k u n g der Eliten durch die (”faulen”) Massen usw. usf., die Peinigung “der” Arbeitenden durch “die” Umweltschützer usw. usf.
b) Ausbeutungs-, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse sind ein sich in andere Strukturen (der Arbeitsteilung, der gesellschaftlichen Synthesis, des Verhältnis der Individuen zu den Objektivationen der Gattung usw.) einnistendes und sie überformendes Moment. Ausbeutung usw. reproduziert sich selbst, wird aber erst möglich durch die Schwierigkeiten, die in den Strukturen liegen, in die Ausbeutung usw. sich einnistet. Diese Schwierigkeiten betreffen die Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder selbst. Also: keine Überwindung von Ausbeutung, Herrschaft usw. ohne Überwindung von allen Verhältnissen,
- die zwischen den Akteuren Gleichgültigkeit, Konkurrenz, Interessendivergenz, Intransparenz der gemeinsamen Perspektiven usw. und damit Schwierigkeiten kollektiven Handelns erzeugen, [8]
- die zwischen den gesellschaftlichen Objektivationen der Gattung und den Individuen Gegensätze erzeugen: Subalternität, Bornierung der Individuen, Fesselung an jeweilige arbeitsteilige Sondersphäre inkl. Fachidiotentum usw., [9]
- die banale, überanstrengende oder hohe Spezialisierung beinhaltende Arbeiten erfordern und damit die Individuen in einem Maße und auf eine Weise absorbieren, daß für eine Gestaltung von Gesellschaft nicht viel Aufmerksamkeit, Energie und Wissen mehr übrig bleibt,
- die eine Massenhaftigkeit von Gütern, Dienstleistungen, Vor- und Nachverarbeitungen beinhalten, welche wiederum nur mit einem formalen, administrativ-bürokratischen Modus verarbeitet werden kann. Vgl. die enggestellten Selektionsfilter, die allein durch ebenso sachfremde wie komplexitätsreduzierende Formalisierungen und Neutralisierungen in den Medien der gesellschaftlichen Synthesis gesellschaftliche Konsistenz erlauben. Genau diese Fragen bilden ein zentrales Thema meiner ›Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit‹ (Frankf. M. 2000).
Für Krauss ist das alles kein Thema. Ich will nur an einem Beispiel darauf hinweisen, daß die Schwerpunktsetzung in der Vergegenwärtigung zentraler Probleme, mit denen wir es zu tun haben, gravierende Konsequenzen hat auch für die Einschätzung von Theorien. Indem Hartmut Krauss in seiner Bourdieu-Kritik (S. 6, der Text steht im Netz unter glasnost) die in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften prominenten rational-choice-Theorien bzw. Theorien rationalen Handelns allein als individualistisch, als Verabsolutierung eines betriebswirtschaftlichen Handlungsmodells kritisiert, trifft er zwar ins Schwarze, verfehlt aber den Rest. Er übersieht, welche realen Probleme des Zustandekommens kollektiven Handelns diese Theorien gut herausarbeiten und verfehlt damit den Diskussionskontext, in dem solche Theorien heute auch für an Gesellschaftstheorie Interessierte und für die Linke relevant sind. (Vgl. dazu auch den ebenso gründlichen wie Überblick verschaffenden und verständlichen Band von Dietmar Braun: Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft. Opladen 1999). [10]
Anmerkungen:
[1] Ich beschränke mich hier auf die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Grundsatzerklärung. Meine eigenen »positiven« Überlegungen mit einer von H. Krauss deutlich abweichenden Schwerpunktsetzung enthält mein den Teilnehmern der Diskussion vorgelegtes Papier »Not-wendige Theorie- und Bildungsarbeit - Essentials und Kontexte«.
[2] Vgl. aus der Fülle seiner Arbeiten :
Fleischer, Helmut (1977): Warum eigentlich Materialismus? In: Jaeggi, Urs; Honneth, Axel (Hg.): Theorien des historischen Materialismus. Frankfurt a. M.
Fleischer, Helmut (1980): Über die normative Kraft im Wirklichen. In: Jaeggi, Urs; Honneth, Axel (Hg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Frankfurt a. M.
Fleischer, Helmut (1987): Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins. Frankfurt a. M.
[3] Vgl. zur Klärung dieses Begriffes und zur Kritik einiger mit diesem Begriff aller Erfahrung nach verbundenen Mißverständnisse meine ›Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit‹, S. 215ff. (Frankf. M. 2000). Ohne hier die Vermittlung der beiden verschiedenen Materialismusbegriffe leisten zu können, verweise ich auf den »Doppelcharakter« und das einschlägige Kapitel II.6 (ebenda). Mit dem Wissen um nichtnormative Strukturen wird der Subjektivismus kritisierbar, mit dem Wissen um den Doppelcharakter der Objektivismus, Formmonismus und Funktionalismus (vgl. dazu ebenda, S. 233ff., 87f.).
[4] Leonard Nelson entgegnet in den 20er Jahren dem Einwand, »wie man es in einer Zeit der ernstesten Krise der Demokratie, wo reaktionäre Diktaturgelüste zu einer täglich bedrohlicheren Gefahr anwachsen, verantworten könne, über die bedrohte Staatsform zu philosophieren und, statt positiver Mitarbeit, durch Kritisieren ihr in den Rücken zu fallen« (Nelson: Demokratie und Führerschaft. In: Ges. Werke Bd. 9, Hamburg 1971, S. 553). Nelson sieht demgegenüber gerade in der Demokratie die Keime ihrer autoritären Aufhebung angelegt. Faschisten u n d Demokraten treffen sich mit verschiedenen Begründungen im »Aberglauben an die Unvernünftigkeit der menschlichen Natur, ein Aberglaube, wonach in Ermangelung jeder Möglichkeit vernünftiger Entscheidung unter Menschen zuletzt alles nur von Willkür abhängt« (ebd. S. 555). Beide verneinen die vernünftigen und erkennbaren Maßstäbe gesellschaftlicher Synthesis, deren Darstellung und Analyse Nelsons weitgespannte Ethik beansprucht. (Mein eigener Vorschlag an dieser Stelle ist, mit einem erweiterten Arbeitsbegriff und dem Begriff des arbeitenden In-der-Welt-Seins ein nachbürgerliches Paradigma zu artikulieren. Vgl. dazu meinen Artikel in Weg und Ziel 2/99, Wien, Jg. 57 und den Anhang zu meinem Vortrag bei ausgetretenen Grünen (in: Grün-Links-Alternatives Netzwerk Ruhrgebiet (Hg.):Grün-links-alternative Perspektiven für NRW ?! Dortmund 1999.)) Das Argument ist auch ohne die spezifische ethische Begründung durch Nelson bedenkenswert. »Freie Kritik hat nur da Bedeutung, wo es erlaubt ist und einen Sinn hat, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden. In der Demokratie verliert diese Unterscheidung ihren Sinn. Sie wäre hier vergeblich; denn in der Tat: Demokratie bedeutet bedingungslose und besinnungslose Annahme der jeweiligen Mehrheitsentscheidung, woher sie auch komme. Sie bedeutet in der Tat: Gutheißen des Schlechten« (Ebd., S. 522f.). »Die Demokratie ist, weit entfernt, uns gegen den Faschismus zu schützen, vielmehr überall der Nährboden des Faschismus« (Ebd., S. 561).
[5] Ich habe anläßlich des Kosovokrieges die mit den allgemein in der Linken hochgelobten und wohlgeachteten Menschenrechten verbundenen »Fallen« ausgeführt in meinem Artikel: Kriegsakzeptanz und Kosovokrieg. Eine Untersuchung der Argumentationsfiguren. In: Berliner Debatte Initial 11. Jg., H. 2, 2000. Linke gefallen sich meist darin, die Konsequenz der Ideale, die natürlich in einem Unterschied zum Ideal steht, dafür ist es ja das Ideal, als Verletzung der Ideale oder als deren unzureichende Verwirklichung zu skandalisieren.
[6] Vgl. u. a. Hoffmann, Inge 1974: Bürgerliches Denken. Zur Soziologie E. Durkheims. Frankf. M. 1974; Creydt, Meinhard 1994: ›Individualisierung‹ als Ursache rassistischer Gewalt? Zu Heitmeyers Diagnose des Verfalls von Werten und Sozialintegration. In: Das Argument H. 205
[7] Verschiedene Naturbegriffe lassen sich unterscheiden in Bezug auf die (Allmachtsphantasien positiv unterstellende, sie aber negativ bewertende) Forderung ›Natur soll nicht zerstört werden‹, die ja wohl als eine Konkretisierung oder Operationalisierung des Ausdrucks ›naturwidrig‹ gelten kann.
Natur als Gesamtheit alles Vorfindlichen (physikal. Naturbegriff).
Natur als lebendige Natur (biolog. Naturbegriff): Hier zeigt sich in Räuber-Beute-Verhältnissen, in Nahrungsketten, daß Teile der Natur andere zerstören;
Natur als Ökosystem: Hier wäre Naturzerstörung schwer zu definieren. Ökosysteme befinden sich im Fluß (Evolution, Sukzession), Populationen sterben auch ganz ohne Einwirken des Menschen aus.
[8] Es handelt sich u.a. um:
Spaltungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungssegmenten und eine Partikularisierung und Aufsplitterung von Betroffenheiten und Aufmerksamkeiten;
gegenseitige Intransparenz der verschiedenen Bereiche und schwierige Übersetzbarkeit zwischen partikularen Perspektiven bis hin zum babylonischen Sprachgewirr;
Interessendivergenzen und -gegensätze, soziale Schließungen und Konkurrenzen;
Differenzen zwischen kurz- und langfristigen Interessen, Chancen für Externalisierung und Vorteilnahme zu Lasten anderer und für Trittbrettfahrerverhalten, Absorption sozialer Energie in Nullsummenspielen; Auszahlungs- und Rückkoppelungsordnungen, die unkooperatives Handeln belohnen;
[9] Es handelt sich u. a. um :
Komplexität, die Gestaltungswünsche aufgrund nicht beherrschbarer nichtintendierter Effekte entmutigt und individuelle Informationsverarbeitung überfordert,
Ansprüche abweisende »Sachgesetze«, Zuschreibungen von Zuständigkeiten und Unzuständigkeiten, gegenseitige Steigerung von Subalternität und »Kompetenz«, sachgerechte und sachfremde Legitimationen von Fremdwissenabhängigkeit und Weisungsbefugnis sowie die Schwierigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden;
ein Mißverhältnis zwischen dem in gesellschaftliche Organisationen und Produktivkräfte investierten Reichtum und dem Vermögen der Gesellschaftsmitglieder, die Reichtumsproduktion, -organisation, -zirkulation und -administration auf eine Weise gesellschaftlich zu gestalten, die nicht auf eine Verselbständigung des Reichtums gegen die Menschen hinausläuft. Auch aus diesem Mißverhältnis erwachsen Machtgefälle sowie der Gesellschaftsgestaltung abträgliche Einschüchterungs- und Entmutigungseffekte.
[10] H. Krauss verfehlt m. E. den Witz dieser Theorien, die gerade in der Fokussierung auf die Wahlhandlungen des isolierten Einzelnen die Grenzen anzeigen, die mit dieser Isolation gegeben sind. Entscheidungen unter Bedingungen von Komplexität und Unsicherheit, mangelnder Abstimmung, unzureichender Kommunikation und Kooperation der Beteiligten führen oftmals zu suboptimalen Ergebnissen. Nicht die Moralisierung des Individuums, sondern die Arbeit an den Strukturen ihrer Verhältnisse zueinander erscheinen dann relevant. Kooperation, intersubjektive Verläßlichkeit und kollektive Lernfähigkeit brauchen geeignete Rahmenbedingungen und institutionelle Unterfütterung. Zentrale Themen der Theorie rationalen Handelns (Gefangenendilemma, Allmendeproblem, Trittbrettfahrerverhalten usw.) beziehen sich genau hierauf und führen mit sehr viel mehr Tiefgang das aus, was bspw. Holzkamp unter ›restringierte Handlungsfähigkeit‹ faßt.
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