Meinhard Creydt
Ambivalenzen gegenüber kriminellem Handeln
(erschien am 12.7.2010 in Telepolis)
Nach dem Suizid der Jugendrichterin Kirsten Heisig in Berlin wurde in der Öffentlichkeit die Frage laut, inwieweit es sich nicht allein um eine private Tragödie gehandelt habe, sondern auch um eine Reaktion auf Widerstände und Anfeindungen in der Justiz und Politik gegen die von Heisig beschleunigte und mit Sozialarbeit verzahnte Bekämpfung der Jugendkriminalität in Berlin-Neukölln.
Angesichts der mageren Bilanz, die die staatliche Bekämpfung der Kriminalität aufweist, stellt sich die Frage nach den Grenzen, die der Bekämpfung der Kriminalität gesetzt sind. Leere öffentliche Kassen, höherrangige ökonomische Imperative und ein skeptisch-minimalistisches Menschenbild tragen dazu bei, dass Kriminalität zwar als bekämpfenswert gilt, den entsprechenden Anstrengungen aber von vornherein nur beschränkte Erfolgsaussichten zuzuschreiben sind. Zudem gehen von der Kriminalität paradoxerweise massive sozialintegrative Effekte aus: Sie gewöhnt an ein negatives Menschenbild, senkt alle Erwartungen und etabliert einen negativen Vergleichsmaßstab. Im Vergleich zu Unsicherheit, Angst um körperliche Gefährdung und Traumatisierung gewinnt alle sonstige Existenz, so bescheiden sie für sich genommen sein mag, den Trost, immerhin sei man oder frau selbst nicht zum Opfer von Übergriffen und Gewalt geworden.
Im linksliberalen Milieu herrscht eine andere Variante der Ambivalenz gegenüber kriminellem Handeln. Nach dem überraschenden Wahlerfolg der ‚Partei Rechtsstaatliche Offensive’ bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen 2001, als Ronald Schill v. a. mit dem Thema öffentliche Sicherheit aus dem Stand auf 19,4 % kam, war in der ‚taz’ die Selbstkritik von Hamburger Grünen zu lesen. Sie hätten unterschätzt, wie sehr die Bevölkerung sich über die Kriminalität sorge, und deren Ängste vornehmlich als Resultat von medial geschürten Kampagnen missverstanden und nicht als Realangst ernst genommen. Sie hätten die gefühlte Bedrohung von Teilen der Bevölkerung reflexhaft mit Law-and-order-Politik verknüpft und von der Ablehnung dieser Politperspektive aus die ihr vorgeordnete Problematik marginalisiert. Sie seien in der antithetischen Anordnung von Freiheits- und Bürgerrechten vs. Sicherheit befangen gewesen. Insgesamt habe man sich unfähig gezeigt, den realen Kern des Problems wahrzunehmen und sei schon vom Lebensstil her einer Wählerschaft verbunden, die in Distanz zu den betroffenen Bevölkerungssegmenten lebe und auch räumlich in anderen Stadtteilen als den vor allem von Kriminalität betroffenen Gegenden wohne. Allerdings blieb diese Selbstkritik weitgehend folgenlos.
Bei anderen mag ein augenzwinkerndes Robin-Hood-Wohlwollen gegenüber Kriminellen eine Rolle spielen. Man sieht davon ab, dass deren Aktionen sich vornehmlich gegen die ‚normale’ Bevölkerung richten. Besonders opferblind fiel die bei manchen hiesigen Linken anzutreffende Sympathie für die Randale von Jugendlichen in den tristen französischen Vorstädten aus, die die Autos ausgerechnet ihrer Nachbarn abfackeln.
Besonders rrradikal(auernd)e „Linke“ (vgl. http://de.indymedia.org/2009/01/239542.shtml) feiern einen am 16.1.09 veranstalteten Protestzug von 200 Angehörigen und Freunden des von einem Polizisten am 31.12.08 erschossenen Berliner Serienstraftäters Dennis J.
Passend zur riot-Romantik der indymedia-Kommentatoren fällt die Schönrednerei des bestellten Grabredners bei der Trauerfeier aus: „Natürlich hat er auch mal Grenzen überschritten, er war ein Neuköllner Junge … Natürlich hat er auch mal Gesetze verletzt“ (zit. n. Berliner Zeitung 17.1.2009, S. 20). So möchte seine Neuköllner community ihren Dennis J. sehen. Bei der Polizei taucht der „Neuköllner Junge“ mit 158 Strafregister-Einträgen auf: „Raub, Körperverletzung, Diebstahl, schwere Verkehrsdelikte“ (Ebd.). „Familie und Freunde des Toten schimpfen auf den Rechtsstaat. An Dennis’ Lebenswandel sehen sie nichts Verwerfliches. Er sei ‚hilfsbereit und liebevoll’ gewesen…“ (Ebd.).
In der Vergangenheit fiel bei manchen, die gegenüber der subproletarischen Kriminalität eher ein Auge zudrücken, auf, wie sie in anderen Ländern sog. Befreiungsbewegungen interessant und ‚spannend’ fanden. Großzügig klammerten sie aus, wie bspw. die IRA in den seinerzeit von ihr kontrollierten Stadtgebieten, also in den von der Staatsgewalt nicht mehr erreichten, insofern rechtsfreien Räumen, mit drakonischeren Maßnahmen (Prügelstrafe, Schüsse in die Beine u. ä.) gegen Kriminelle vorging als die Staatsgewalt selbst, um für Ordnung und Sicherheit zu sorgen.
Gewiss ist staatlich-polizeiliches Handeln nicht das einzige, sozusagen automatisch nahe liegende Mittel der Wahl gegen Kriminalität. Vielmehr zeigten sich bspw. bei der Sanierung der Wiesbadener Siedlung Mühltal die Stärkung der Sozialität und der Einbezug der Bewohner bei der Sanierung des Gebiets als wesentliche Prävention gegen Kriminalität. „Ein Gemeinschaftszentrum half öffentliches Leben in der Siedlung zu organisieren. Vor der Sanierung konnte die Siedlung bei Polizeieinsätzen nur mit mehreren Streifenwagen befahren werden. Es war nicht ungewöhnlich, dass Bewohner mit Äxten auf die einschreitenden Polizist/innen losgingen. Autowracks und Müll bestimmten das Siedlungsumfeld. Nach der Sanierung und der Realisierung von Gemeinschaftsgedanken hat sich das Mühltal zu einem ganz normalen Stadteilbezirk entwickelt, in dem Kriminalität nicht mehr und nicht weniger eine Rolle spielt als anderswo“ (Korell, Liebel 1997). In Zeiten öffentlicher Finanzknappheit ist für so etwas wenig Geld da.
Um überhaupt über kriminell werdendes sozio- und psychopathisches Handeln angemessen nachdenken zu können, bedarf es eines Bewusstseins, das die Grenzüberschreitungen, die in ihm steckt, ernst nimmt und es nicht auf diffuse Weise in ein Kontinuum mit politischer Widersetzlichkeit einstellt oder gar mit ihr verwechselt.
Für die Täter spielt bei der kriminellen Handlung neben aller mit ihr verbundenen Umverteilung auch das Gefühl absoluter Eigenmächtigkeit bzw. das Allmachtsgefühl eine Rolle. Im Unterbieten bürgerlicher Standards lässt sich durch die Willkür wenigstens kurzzeitig eine Souveränität erreichen, von der Bürger meist nur träumen. Oft geht es beim Einbruch bspw. nicht allein um die Entwendung wertvollen fremden Eigentums. Die Willkür, mit der die fremde Wohnung zugerichtet wird, gibt dem Delikt ebenso einen „triumphalen Charakter“ (Wulff 1987, 177) wie die Leichtigkeit, mit der Grenzen durchbrochen und Widerstände überwunden werden. Alles avanciert bei geschicktem Vorgehen zu dessen Spielmaterial. Der kriminellen Handlung wächst etwas von jenen Erfahrungen zu, die im Drogenrausch und in ästhetischen Praxen eine zentrale Rolle spielen. In beiden erweitert sich das Handlungsvermögen des Individuums imaginärerweise durch das fiktive Dekomponieren und Rekombinieren. Wulff zeigt diese Verbindung unter der Überschrift ‚Zerspielen’ von der surrealistischen Malerei über Coppolas ‚Apocalyse now’ bis zum Drogenrausch und zur Psychose. Die Spezifik der delinquenten Handlung liegt darin, nicht den Widerspruch zwischen Phantasie und Wirklichkeit oder Selbstverfügung und Fremdbestimmtheit aufzuheben wie in Rausch oder Psychose (Wulff 1987, 182), sondern den Widerspruch „zwischen Spiel und Ernst – zugunsten des Spiels“ (Ebd.). Es geht nicht mehr um die Verfügung über die Wirklichkeit, die nur im Kopf stattfindet – wie in Rausch und Psychose. „In der Delinquenz wird man hingegen instandgesetzt, mit der Wirklichkeit so umzugehen, als sei sie bloßes Spiel“ (Ebd.). Der idealtypische Verbrecher ist „homo ludens par excellence“ (Ebd.).
An der not-wendigen Aufmerksamkeit für die Opfer der Kriminalität fehlt es auch bei einem im linksliberalen bis libertären Milieu populären Denker. Foucaults Werk kann wie ein jedes Lebenswerk nicht mit einem Moment aus ihm charakterisiert werden. Allerdings ist eine Position von Foucault für sich genommen doch problematisch genug, um sie festzuhalten, kann sie doch als typische Artikulation jener latenten Hintergrundannahmen gelten, die der Verharmlosung von Kriminalität im sich dissident dünkenen Zeitgeist Vorschub leisten.
Wenn Macht wie bei Foucault als etwas wahrgenommen wird, das auf Disziplinen gründet (Foucault 1976, 284ff.), dann legt das bei manchen eine klammheimliche Sympathie für die Undisziplinierten nahe. Das Gefängnis wird zu einer Metapher für die gesellschaftliche Ordnung. Sie ist ihrerseits nicht als bestimmte Ordnung Thema, sondern als Ordnung überhaupt – und auch dies nur auf eine Weise, die diese im Kern anarchistische Kritik zugleich mit der ironischen Distanz gegenüber allen als naiv verlachten Sympathien für eine anarchistische Gesellschaft verbindet (Eagleton 1994, 397-99). In der radical-chic-Vermischung von Metaphorik, Vollmundigkeit und Impressionismus heißt es dann: „Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen“ (Foucault 1976, 291). Oder: „Dass die Fabriken Gefängnisse sind, ist ohnehin klar: man braucht nur den Werkeingang von Renault zu sehen“ (Foucault 1987, 110).
Foucault beschreibt Macht als „Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln“ (1978, 71), als eine „Form kriegerischer Herrschaft“ und als „verallgemeinerter Krieg“ (1978, 40; 1976, 217). „Auf was man sich meiner Meinung nach beziehen muss, ist nicht das große Modell der Sprache und der Zeichen, sondern das des Krieges und der Schlacht“ (1978, 29). Wer den Kampf als Paradigma zugrundelegt, legt Sympathien nahe für den ehrlichen Rebellen oder das „kriegerische Subjekt“, dem es darum geht, „ein asymmetrisches Recht zu setzen“ (Foucault 1999, 56, 65) „Absolute Macht wird (von Foucault – Verf.) um ihres despotischen Zentralismus willen verworfen, doch zuweilen wegen ihrer relativen Offenheit, körperlichen Direktheit und nicht subjektiven Zuordnungsmöglichkeit insgeheim favorisiert im Vergleich mit der hegemonialen Epoche des Menschen“ im bürgerlich-demokratischen Humanismus (Eagleton 1994, 401f.). Der Kriminelle steht in seinem imaginären Selbstbild wie der absolute Herrscher über dem Recht. Zynisch gilt dem Kriminellen die Gesetzes- und Moralwelt als Schein, an den sich ohnehin nur die Dummen halten. Das Leben erscheint als Kampf, in dem Geschick, Kraft und Glück entscheiden.
Wer einem Dualismus zwischen dionysischer Lust und apollinischer Form und Ordnung folgt, schwelgt im Lob des „großen und unaufhörlichen Rauschen des Diskurses“ (Foucault 1974, 35) und zeigt sich fasziniert von den „Ereignissen“ und dem „Auftauchen“ von allem, „was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt“ (Ebd.). Gut lebensphilosophisch lässt es sich schwärmen: „Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind: Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. und diese ganz explosive augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren. Das Kapital muss das Leben in Arbeitskraft synthetisieren, was Zwang impliziert“ (Foucault 1976a, 116). Wie gesagt: Mir geht es nicht darum, mit ein paar Zitaten ein Lebenswerk ‚dingfest’ machen zu wollen und ein Sperrfeuer zu eröffnen und den Eindruck zu erwecken, an Foucaults Analysen sei „nichts dran“. Foucaults Attraktivität verdankt sich allerdings auch solchem intellektuellen Selbstgenuss – die Rhetorik macht Foucaults Texte oft blendend, aber dadurch noch nicht einleuchtend – und zugleich einem alles ins Unscharfe auflösenden, und gerade so die Bescheidwisser-Manier der Besprechbarkeit von allem und jedem gewährleistenden Jargon. Der Hinweis auf die Wandlung von Positionen im Denken eines Theoretikers transportiert oft eine Immunisierung, die davon abhalten soll, einem bestimmten Moment seines Denkens nachzugehen und dessen Konsequenzen zu vergegenwärtigen, die in der Logik dieser Position liegen, auch wenn der Theoretiker selbst vielleicht davor zurückgeschreckt ist, diese Konsequenzen selbst zu ziehen, oder er vorher oder später andere Denkwege eingeschlagen hat.
Für die Langeweile des Lebens der Diskurs-Schickeria bildet die Kriminalität Kick und Einladung zugleich, sie nurmehr metaphorisch zu besprechen und sie mit den eigenen Phantasmen einer brodelnden und sich den Schemata der Ordnungen entziehenden Lebensenergie zu verwechseln. Ohne das gesamte Schaffen von Foucault darauf reduzieren zu wollen, bewegt sich der hier vorgestellte Ausschnitt seines Denkens trotz aller ebenso unübersichtlichen wie selbstimmunisierenden, selbstmystifizierenden und selbstverwichtigenden Relativierungen doch in jener Sympathie zum „undisziplinierten“, abweichenden Verhalten, der bereits schon Fourier das Wort redete. Die Fourieristen haben, so Foucault, „wohl als erste eine politische Theorie entwickelt, die sich als eine positive Wertung des Verbrechens darstellt. Wenn ihrer Ansicht nach das Verbrechen eine Zivilisationserscheinung ist, so ist es gleichermaßen und eben deshalb auch eine Waffe gegen diese ‚Zivilisation’. Das Verbrechen geht mit einer Kraft und mit einer Zukunft schwanger. …. Im Grunde manifestiert die Existenz des Verbrechens glücklicherweise eine ‚Nicht-Unterdrückbarkeit der menschlichen Natur’“ (Foucault 1976, 372f.). Foucaults hier skizzierte Position bildet ein Beispiel für die ästhetisierende Wahrnehmungsweise, in der Intellektuelle verstiegen die brutale Wirklichkeit der Kriminalität zu einem ‚spannenden’ talking-piece aufbereiten. Noch jeder gilt ihnen als Verbündeter in ihrer formellen Distanz zum Gegebenen. Diese unernst-dandyhafte Haltung zum Phänomen Kriminalität bildet die feuilletonistische Begleitmusik zu jener Kriminalitäts“bekämpfung“, die in ihrer Praxis einen hohen Anteil von Symbolpolitik pflegt und die Kriminalität als Wunschgegner sich erhalten muss.
PS: Die Oberstaatsanwältin, die gegen den Polizisten ermittelte, der Dennis J. erschoss, heißt übrigens wirklich „Lolita Lodenkämper“ (Berliner Zeitung 17.1.09).
Literatur
Eagleton, Terry 1994: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart
Foucault, Michel 1974: Die Ordnung des Diskurses. München
Ders. 1976: Überwachen und Strafen. Frankf. M.
Ders. 1976a: Mikrophysik der Macht. Berlin
Drs. 1978: Dispositive der Macht. Berlin
Ders. 1987: Subversion des Wissens. Frankf. M.
Ders. 1999: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankf. M.
Korell, Jürgen; Liebel, Urban 1997: Wie mit der Angst vor Kriminalität Politik gemacht wird. In: Frankfurter Rundschau 30.10. Der Artikel erschien auch in: Gunther Dreher, Thomas Feltes (Hg.) 1997: Das Modell New York – Kriminalitätsprävention durch ‚Zero Tolerance’. Holzkirchen
Wulff, Erich 1987: Zementierung oder Zerspielung. Zur Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz. In: Haug, W. F. Pfefferer-Wolf, H. (Hg.): Fremde Nähe. Festschrift für Erich Wulff. Berlin