Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR, hält auf seinem Landsitz zwei Schweine. Er nennt sie Karl und Rosa. Warum ? „Irgendwann werden auch sie erschossen“ (Diestel im Inforadio Berlin am 10.4.09).
Die unmittelbare Reaktion darauf (von „geschmacklos“ über „dummdreist“ bis „infam“) geht davon aus, dass derlei Grenzüberschreitungen keinen Argumentationsaufwand zu ihrer Zurückweisung benötigen oder gar herausfordern. Diestel verdiene eine solche Aufmerksamkeit gar nicht. Wer aber „das Böse“ nicht aus „dem Bösen“ ableiten will (oder umgekehrt), ist genötigt, sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Diestels Äußerung zu stellen. Also zu fragen, was für verschiedene Bewusstseinselemente sich in ihr verstricken.
Zunächst fällt an Diestels Vergleich ein blödelnd-läppisches comedy-Bewusstsein auf. Ihm sind die Witze, die sich a n l ä s s l i c h von Themen anstellen lassen, wichtiger als diese selbst. So ein Bewusstsein assoziiert beim Schwein aufgrund seiner rosa Hautfarbe den Vornamen von Luxemburg.
Diestel nennt mit dem Erschossenwerden ein spezifischeres gemeinsames Drittes zwischen Luxemburg und Liebknecht einerseits, Schweinen andererseits. Die Betrachtung von Natur und Gesellschaft unbeschadet aller Unterschiede zwischen ihnen unter dem Gesichtspunkt wertfrei zu prognostizierender Abläufe bildet ein zweites Moment von Diestels Vergleich. So sicher wie das Amen in der Kirche, so sicher das Erschossenwerden von Schweinen und … Revolutionären. Das ist der Gang der Dinge. C’est la vie. Und er – Diestel – kennt das Leben.
Das Bewusstsein, in dem Diestels Vergleich funktioniert, enthält ein analytisches Urteil, das eine der mitgedachten Bestimmungen eines Begriffes nennt. Z. B.: Körper sind ausgedehnt. Oder: Hausschweine werden geschlachtet. Oder: Zum Revolutionär gehört das Erschossenwerden. Allerdings gibt es einen Unterschied in dieser Reihe: Die Aussage zu Revolutionären geht über ein analytisches Urteil hinaus und trifft eine Feststellung über die Wirklichkeit. Die Definition des Revolutionärs enthält nicht notwendigerweise seinen Tod durch Erschießung. Zudem setzt der Vergleich mit der Tötung von Schweinen voraus, dass es sich nicht um einen Kampf handelt. In ihm hätten beide Seiten die Chance, den Gegner zu töten. Anders im Verhältnis zwischen Schweinen und jenen, die sie schlachten, bzw. Revolutionären und jenen, die sie hinrichten.
Das für Diestels Vergleich vorausgesetzte Bewusstsein blickt auf die Revolution aus der Perspektive, ob sie sich für die Revolutionäre am Ende ihres Lebens gelohnt habe. Die diesbezüglich negative Auskunft wird nun nicht tragisch verstanden (alles Gute scheitert), sondern ganz pragmatisch aus der Perspektive eines Lebens, das sich unabhängig von jedem Lebensinhalt v. a. daran orientiert, sich Kummer zu ersparen. Als zentral gilt dann die Maxime, sich auf „die Fakten“ einzustellen und sich nicht zu beklagen. Es gebe kein schlechtes Wetter, nur unangemessene Kleidung. Über das Erschossenwerden von Revolutionären solle sich niemand ereifern. Das hätte man vorher wissen können. Augen auf bei der Berufswahl ! Die damit verbundene Lebenseinstellung erläutert der Psychologe Abraham Maslow: „Man beklagt sich nicht über Wasser, weil es nass ist, noch über Felsen, weil sie hart sind. So wie das Kind die Welt mit großen, unkritischen und unschuldigen Augen beschaut, sich einfach merkt und beobachtet, was der Fall ist, ohne die Sache zu diskutieren oder zu verlangen, dass es anders sei …“
Die Maxime, soziales Geschehen zu einer einspruchsimmunen quasi-naturalen Objektivität zu imprägnieren, ist weit verbreitet. Ihr folgt auch die Berliner Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Sie bezeichnet Mietsteigerungen als „Normalisierungsprozess des Marktes. Es sei deshalb die Einführung von Mietobergrenzen abzulehnen“ (Berliner Zeitung 29.11.08, S. 25).
Bei Diestel könnte man drittens vermuten, dass er seine Schweine auch deshalb gerade Karl und Rosa nennt, um deren Ablehnung auszudrücken. Und um das Revanchefoul zu genießen gegen die in der DDR ritualisierte Ehrung von Luxemburg und Liebknecht. Zwar passte deren Denken nicht zur SED. Aber solche Unterschiede brauchen auch einen Diestel nicht zu kümmern. Neben der Befriedigung, die bei keiner Namensgebung ausbleibt, freut sich Diestel über die Titulierung von Luxemburg und Liebknecht als Schweine. Möglicherweise erachtet er die Erschießung von Luxemburg und Liebknecht als angemessen. Wer möchte so etwas aber d i r e k t aussprechen. Deshalb der Umweg über den Vergleich. Nur in ihm ergibt auch die (für die Schlachtung faktisch falsche) Aussage Sinn, Schweine würden nun einmal selbstverständlich … erschossen. Aber den Vergleich braucht Diestel schon. Er konnte ja schlecht explizit sagen: Die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht ist so selbstverständlich wie die Tötung von Schweinen, die man sich hält, um sie zu schlachten.
Diestel und diejenigen, die seinen Vergleich goutieren, gefallen sich i h r e m Bewusstsein angemessen darin, dem Augenschein nach etwas Harmloses gesagt zu haben, die Herabwürdigung per Anspielung zielsicher zu plazieren und diese Mischung sehr witzig und sich selbst dabei gewitzt zu finden.