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(erschien in:  Streifzüge  34,  2005, Wien) 

Die Gerechtigkeit der Ungleichheit  – Die spalterischen Effekte der Gerechtigkeitsorientierung  – Gerechtigkeit und bürgerliche Gesellschaft – Kritik an „Ungerechtigkeiten“ als Resultat enttäuschter (aber nicht: ent-täuschter) Anhänglichkeit – Das Umschlagen von Gleichheit in Ungleichheit – Die Weltlosigkeit der Idealbeflissenen

»Die allgemeine Roheit ist heute unerträglich. Aber weil sie es ist, muß auch die Güte falsch sein! Die beiden hängen ja nicht wie auf einer Waage zusammen, wo ein Zuviel auf der einen Seite einem Zuwenig auf der andern gleich ist, sondern hängen zusammen wie zwei Teile eines Körpers, die miteinander krank und gesund ist. Nicht ist also irriger‹, fuhr er fort ›als sich einzubilden, wie es allgemein geschieht, daß an dem Überhandnehmen böser Gesinnung ein Mangel an guter schuld sei: im Gegenteil, das Böse wächst offenbar durch das Wachsen einer falschen Güte.« (Musil 1981/1406)

Wer es auf Gerechtigkeit absieht, sieht zumeist davon ab, welche Abstraktionen und Trennungen sich in (und zwischen) den Leistungen und den Belohnungen ergeben – für das soziale Leben und sein Gefüge des Nehmens und Gebens. Äußerlich werden die Opfer und Belohnungen zueinander in ein quantitatives Verhältnis gesetzt. Kein Thema ist der innere Zusammenhang zwischen dem, was getan wird, und dem, was es für die Verbraucher oder Betroffenen i. w. S. ist. Wo Arbeitende sich nicht dafür interessieren, welche Sinne und Fähigkeiten an ihren Produkten und Diensten sich entfalten können, wo es um die bloße Verkaufbarkeit als Kriterium geht, dort schlägt dies auf die Qualität der Produkte und Dienstleistungen zurück. Damit sind nicht Fragen gemeint, für die die Stiftung Warentest zuständig ist. Das Thema sind nicht zufällige Mängel, Pech und Pleiten. Zum Problem wird vielmehr ein gesellschaftlicher Stoffwechsel, in dem die Gegenstände, die produziert werden, systematisch Anlass sind zur Erwirtschaftung von Mehrwert und (davon abhängig) Erwerbseinkommen. Was bspw. die Bewerkstelligung von ›Mobilität‹ per Auto ökonomisch, ökologisch und ideologisch an Schaden anrichtet, ist dann unerheblich. Das Interesse der Konsumenten an einem von ihnen konsumierbaren Gut beinhaltet meist das Desinteresse für die Art und Weise, wie das Leben der Produzenten in der Erarbeitung des Gutes auf eine Art verunstaltet wird, die auch die für den Konsum zentralen Sinne und Fähigkeiten ramponiert.

Mit ›Gerechtigkeit‹ ist diese Indifferenz zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen beiden und den von Produktion und Konsumtion mittelbar Betroffenen nicht mehr Thema. Der gerechtigkeitsbeflissene Vergleich von Leistungen und Einkommen – diese Perspektive passt zum Horizont der abstrakten Vergesellschaftung und des abstrakten Reichtums. »Wird das Wesen als Gleichheit gefaßt, so bleiben alle Einzelnen für sich, egoistisch, gleichgültig außer einander, unverbundene Einzelne; die Gleichheit hebt sie nicht auf, afficiert sie nicht, sie verlieren nicht ihr gleichgültiges Außereinander« (Feuerbach 1976/137). Mit ›Gerechtigkeit‹ werden Relationen innerhalb der Konkurrenz kritisiert, nicht aber das Sozialverhältnis Konkurrenz oder die dem Markt eigene Indifferenz selbst. Nicht die Ursachen von Zumutungen sind mit ›Gerechtigkeit‹ Thema, sondern die Unausgewogenheit der Opfer. Die mit ›Gerechtigkeit‹ verbundene Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität der gesellschaftlichen Lebensweise vermag Opfer und Zumutungen nicht infragezustellen und öffnet den sie rechtfertigenden oder sie für unüberwindbar erklärenden Ideologien Tür und Tor. Diese Ideologien lassen die quantitativen Relationen anders erscheinen, als dies linke Gerechtigkeitsfreunde wahrhaben wollen.

Die Gerechtigkeit der Ungleichheit

Die in Kapitalismustheorien und in Theorien über die ›moderne Gesellschaft‹ für notwendig oder gar wohlstandsmehrend erachteten Hierarchien und die mit ihnen implizierten Ungleichheiten zwischen den vorfindlichen Menschen verletzen die Gleichbehandlung des Menschen in seinem qua Würde gefaßten und durch die Menschen- und Grundrechte formulierten Wesensbestand nicht. Die für das gegenwärtige Selbstverständnis von Demokraten typische und äußerst verbreitete Gerechtigkeitstheorie von John Rawls formuliert den Zusammenhang von zugrundeliegender Gleichheit und sich unter ihren Bedingungen ergebenden Ungleichheiten:

»1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß
(a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.« (Rawls 1975/81).

Mit dem ›Unterschiedsprinzip‹ erläutert Rawls die Regel 2a. Nach diesem Prinzip erscheinen soziale und ökonomische Ungleichheiten insoweit als gerecht, wie jeder von diesen Ungleichheiten mehr profitiert als durch eine Gleichverteilung der Grundgüter (s. Rawls § 13, S.76 und 83). Ungleichheiten gelten dann als Vorteil eines jeden, wenn auch die Schlechtestgestellten von Ungleichheiten profitieren (s. Rawls § 16). Die dem Kapitalismus eigene politische Utopie setzt der politischen Umverteilung zugunsten der Armen die Expansion entgegen und den dadurch vermittelten Fahrstuhleffekt (Beck): absolute Verbesserung der materiellen Lage aller Menschen bei im wesentlichen unveränderter (und zudem motivationsfördernder) Ungleichheit zwischen ihnen.

Wenn demgegenüber mit dem Kriterium der ›Praxis‹ [1] die Entwicklung der Menschen im Arbeiten, durch die Arbeitsresultate, durch die gesellschaftliche Gegenstandswelt (z. B. Stadtbauwelt), durch die sozialen Verhältnisse zwischen ihnen Thema sind, so wird deutlich, wie arm und selektiv die Perspektive der Gerechtigkeit ist. Das Moment, das die Praxisperspektive vom Bürger unterscheidet, ist: die Aufmerksamkeit für die Konstitution der Individuen durch den gesellschaftlichen Stoffwechsel. Dieser gilt dann nicht einfach nur als Bedingung von arbeitsfreier Zeit und Kaufkraft, sondern als Konstituens menschlichen Seins – im Arbeiten, im Verhältnis zwischen Konsum und Arbeit, in der Entwicklung der Sinne und Fähigkeiten an und in der gesellschaftlichen Gegenstandswelt, den sozialen Verhältnissen usw. Sind sie von Konkurrenz, Hierarchie, Besitzindividualismus usw. geprägt oder von einem dies überwindenden Bezug von Menschen auf Menschen? Wer demgegenüber sich in und an Verteilungsfragen orientiert, bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft befangen und in der ihr eigenen Perspektive auf das Leben und Arbeiten, die gesellschaftliche Lebensweise, die sozialen Verhältnisse. Die Agitation gegen die unverhältnismäßigen Einkommens- und Vermögensunterschiede mag ein Einstieg sein, sich über die Verhältnisse zu wundern. Zugleich lauert hier aber auch immer der Einstieg in den Ausstieg aus der Kritik.

Wer in den erscheinenden Ungerechtigkeiten den Dreh- und Angelpunkt einer sozialreformerischen oder antikapitalistischen Mobilisierung ausmacht, wird erfahren müssen, dass die Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit nur Teilmenge umfassenderer Abstraktionen, Trennungen, Indifferenzen usw. ist. »›Trennung‹« ist der »eigentliche … Bildungsprozess des Kapitals« (MEW 26.3, 414).

Die spalterischen Effekte der Gerechtigkeitsorientierung

Das Gerechtigkeitsthema imponiert als Motiv, mit dem sich die Menschen auseinanderdividieren. Die zersetzenden Wirkungen des Gerechtigkeitsthemas auf alternative Gemeinschaften sind notorisch. »Denn, wenn es jedem einzelnen nur darum zu tun ist, die absolut gleichen Vorteile des Lebens mit den anderen zu genießen, so wird jeder kleinste Unterschied und jeder geringste Umstand von ihm schon als eine Ungerechtigkeit und als eine Verletzung der allgemeinen Idee empfunden werden. Gerade dann werden die Möglichkeiten der Differenz endlos« (Landshut 1969/202f.).

Die Affinität von Gerechtigkeit und Spaltung ist in modernen kapitalistischen Gesellschaften auffällig: Da wird über die Ungerechtigkeit der Kinderlosen gegen die Menschen geschimpft, die Kinder aufziehen, über die Ungerechtigkeit derjenigen, die mit Risikoverhalten Gesundheitsleistungen beanspruchen gegenüber denjenigen, die auf ihre Gesundheit achten. Und der ›Spiegel‹ (37/1999) fragt: »Ist es gerecht, den Preis der Arbeit so hoch zu treiben, daß zwar den Arbeitsplatzbesitzern gedient ist, den Arbeitssuchenden aber die Rückkehr in einen Job erschwert wird, weil es sich für Unternehmen nun einmal nicht rechnet, neue Leute einzustellen? Muß man nicht mehr Ungleichheit bei den Einkommen hinnehmen, um im Gegenzug für mehr Gleichheit beim Zugang zur Arbeit zu sorgen?« Seit der deutschen Wiedervereinigung schimpfen viele ›Wessis‹ bzw, ›Ossis‹ über die vermeintliche Ungerechtigkeiten, die ihnen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung widerfuhren. Und in puncto Sozialstaat heiße es doch gerecht, wenn ›unseren Kindern‹ nicht noch mehr Staatsausgaben, noch mehr Schulden usw. aufgebürdet würden. »Bloße Umverteilung wirtschaftlicher Güter und Gelder ist nicht per se ›gerecht‹. Gerechtigkeit muß auch zwischen den Generationen geschaffen werden – weshalb zum Beispiel eine Politik der ausufernden Staatsverschuldung eine grobe Ungerechtigkeit gegen unsere Kinder und Enkel ist« (Gerhard Schröder 2003, 26).

Ethisch umstritten, da ›ungerecht‹, erscheint die Erzielung leistungslosen Einkommens. Sie gilt dem herrschenden Bewusstsein zufolge als keine exklusive Angelegenheit der Unternehmer, sondern als bloßer Sonderfall einer allgemeineren Neigung und eines umfassenderen Phänomens. Demzufolge dehnt sich im vorfindlichen Bewusstsein das Gerechtigkeitsthema absurdifizierend aus – eine Ausweitung, die ihm nicht äußerlich, sondern immanent ist: Faule beuten Fleißige aus, Unehrliche Ehrliche, Sozialhilfeempfänger beuten den Leistungskern der Gesellschaft aus, Männer Frauen (oder umgekehrt), Inländer Ausländer (oder umgekehrt), Mieter Vermieter (und umgekehrt) usw. usf. »Die Versuchung, andere für sich arbeiten zu lassen, … wird zur Massengefahr …: Ausbeutung nicht von oben, sondern von nebenan. Nicht mehr Reiche beuten Arme aus, ist die alles dominierende Verteilungsfrage in der Wohlstandsgesellschaft, sondern möglicherweise: Die Faulen beuten die Fleißigen aus« (Norbert Blüm, zit. n. Bischoff, Detje 1989, 114.) [2]

Diese Beispiele sensibilisieren für den formellen Charakter des Gerechtigkeitsbegriffs. Die herrschende Litanei bedient sich nicht einfach äußerlich des Gerechtigkeitsthemas. Vielmehr eignet es sich selbst dazu. Die »Gerechtigkeitsrhetorik« zehrt »von der semantischen Unschärfe des Gerechtigkeitsbegriffs. … Er ist moralisch geschmeidig, kann jedem Maximierungsinteresse den Anschein moralischer Berechtigung geben« (Kersting 2003, 107). »Der Gedanke jedes Privateigentums als eines solchen ist wenigstens gegen das reichere Privateigentum als Neid und Nivellierungssucht gekehrt« (MEW-Erg.bd. 1, 534).

Linke, die das Gerechtigkeitsthema inhaltlich »umbesetzen« wollen, geben eine traurig-komische Figur ab. Sie hängen sich an den letzten Wagen der herrschenden Gerechtigkeitsrede an und beabsichtigen, Lokführer zu spielen. Donquichotesk wollen sie etwas umdrehen, ohne zu bemerken, wie sie selbst jenen Verkehrungen unterliegen, die im Gerechtigkeitsbegriff angelegt sind. Unerfindlich bleibt, warum man mit dem Ungerechtigkeitsthema emanzipatorisch etwas bewegen will, wenn landauf landab das US-amerikanische Modell propagiert wird: Mehr Ungerechtigkeit, mehr Unterschiede (»Spreizung«) zwischen den Löhnen und Gehältern schaffe mehr Leistungsanreiz und dadurch mehr Wachstum. Und erst wenn wieder mehr Wachstum da sei, dann könnten ›wir‹ auch wieder mehr verteilen. Der Sozialstaat hat immer die kapitalistische Ökonomie zur Voraussetzung und deren Florieren. Wenn es hier hapert, muß der Sozialstaat sich an seiner Voraussetzung relativieren. Und die Bürger sollen schon begreifen, daß dann der Staat selbst als das größte Sorgenkind im Lande gilt. Rentner, Bezieher von Arbeitslosenunterstützung u. a. sollen einsehen, daß für die Bedienung ihrer Interessen auf lange Sicht ein »finanziell konsolidierter«, also nicht »überforderter« Sozialstaat die Voraussetzung und die Bedingung ist. »Nur wirklich Reiche können sich einen armen, einen handlungsunfähigen Staat leisten, die meisten der Menschen in Deutschland können das nicht« (Gerhard Schröder, Spiegel 37/1999).

Gerechtigkeit und bürgerliche Gesellschaft

Gerechtigkeit beinhaltet rechtliche Gleichheit (Privatrecht) und Gleichheit der staatsbürgerlichen Freiheiten (Nichtausschluß von Gruppen oder Individuen von der politischen Willensbildung). Soziale Chancengleichheit heißt: Jeder soll gleichberechtigten Zugang und entsprechende ›Startchancen‹ haben. Die unterschiedliche Position in den sozialen Hierarchien sollen nach Möglichkeit seitens der Individuen aus Ursachen erklärt werden, die in der jeweiligen Individualität, in ihren Kräften, Fähigkeiten, Vorlieben usw. liegen. Mit Gerechtigkeit sind die Hierarchien selbst nicht infrage gestellt. Auch wirtschaftliche Verteilungsgerechtigkeit meint ja keine materiale Gleichheit der Verteilungsresultate. Vielmehr ist nur gefordert, »daß eine Ungleichverteilung gemeinschaftlicher Güter und Lasten einer Rechtfertigung durch allgemein annehmbare Güter bedarf. Als solche Gründe werden im allgemeinen die folgenden angesehen: die Berücksichtigung ungleicher Beiträge, Leistungen oder Verdienste der Beteiligten, die Befriedigung ihrer relevanten Bedürfnisse und die Achtung bestehender Rechte« (Koller 1994, 135).

Was die Leistungen angeht, so sei es (vgl. Rawls) völlig gerecht, daß Manager das x-fache bekommen im Vergleich zu Facharbeitern. Es gebe hier schließlich eine internationale Konkurrenz und es ginge darum, »uns« die Eliten nicht von anderen wegschnappen zu lassen. Der Preis bilde sich in Marktwirtschaften durch die Nachfrage am Markt. Und die Ausgaben für dynamische, kreative, durchsetzungsstarke Spitzenkräfte seien allemal berechtigt, angesichts der Innovationen, die sie den Betrieben zu verpassen verstünden (in Bezug auf neue Produkte und neue Arbeitsorganisation), womit dann wieder mehr Wachstum und sogar vielleicht auch mehr Arbeitsplätze einhergingen. In der ›Tagesschau‹ vom 27.1.05 wird die Steigerung des Aktienkurses als Leistung des scheidenden Vorstandsvorsitzenden von Siemens, Heinrich von Pierer, gewürdigt. Insofern war es auch im Sommer 2004 bei Sabine Christiansen kritisch gemeint und schon als noch schwierig zu erfüllende Forderung (!) verstanden, wenn der ehemalige SPD-Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel zitiert wurde mit der mahnenden Maßgabe, die Managergehälter sollten doch nicht das 100fache eines Facharbeiterlohns übersteigen. Dies zeigt, als wie völlig gerecht innerhalb des herrschenden Gefüges von Verdiensten und Leistungen die fürstliche Bezahlung für Manager gilt. »Die Privilegierung von Personen, die sich durch größere Beiträge, bessere Leistungen oder besondere Verdienste auszeichnen, zielt darauf ab, Beteiligte zur Erbringung von Leistungen zu motivieren, an denen ein allgemeines Interesse besteht« (Koller 1994, 136). Wer hier nur mit dem Ungerechtigkeitstadel herumfuchtelt und nicht auf die viel weiteren Kontexte sich einlässt, die bereits selbst für die Kritik an zu hohen Managergehältern zum Thema zu machen wären, um hier angemessen argumentieren und kritisieren zu können, gibt nur zu Protokoll, daß er sich in einer künstlich abgeschotteten Parallelwelt bewegt, in der Gutmenschen mit dem Mantra Gerechtigkeit schon Eindruck zu schinden vermögen, ohne daß sie und ihr Publikum sich Rechenschaft darüber ablegen, wie Kapitalismus funktioniert und wie dies Funktionieren auch immanent für unumgänglich befunden wird.

Dem herrschenden Bewusstsein zufolge gelten Einkommensunterschiede als völlig in Ordnung, sei die Gesellschaft doch als meritokratisch zu charakterisieren. Hoch bezahlte ›Leistungsträger‹ entfalteten eine Zugkraft wie Lokomotiven. Auch weniger leistende Passagiere profitierten von ihrer Geschwindigkeit. »Die Mehrheit verdankt ihren Wohlstand dem Einsatz und Ideenreichtum einer immer kleineren Minderheit« (Miegel 1991/28). »Und das verschweigen die Gewerkschaften. Unser Wohlstand, unsere Produktivität, unsere Neuerungen in Wirtschaft, Organisation und Technik hängen entscheidend von jener Schicht ab, die man gemeinhin nicht zu den ›arbeitenden Massen‹ rechnet, und von jenem Mittelstand, um dessen Wohl und Wehe sich die Gewerkschaften noch nie gekümmert haben. … Der Trend in unserer Gesellschaft zielt auf Nivellierung. Verantwortung, Leistung und Produktivität werden geradezu bestraft, problemlose und einfachste Verrichtungen aber hoch belohnt« (Klaus Besser, in: Bild am Sonntag v. 1. 10. 1978 – s. a. die entsprechenden Statements anlässlich des Prozessbeginns gegen Deutsche Bank-Chef Ackermann im Januar 2004).

Wer den praktischen Ausschluss der Massen von der Gestaltung des Arbeitens, der Arbeiten, der Organisationen, der sozialen Synthesis und ihre damit verursachte tendenzielle Subalternität unterschreibt, wer die Hierarchien in diesen Sphären nicht kritisiert, sondern sich auf Verteilungsungerechtigkeiten konzentriert, bekommt mit den Managergehältern die Quittung dafür. Deren Höhe ist eben nicht mehr im Kontext von Gerechtigkeit angreifbar, sondern nur, wenn die Teilung der Menschen in Disponierende und Objekte der Disposition und die Unterwerfung beider Fraktionen unter die Eigendynamik von Wert und Verwertung angreifbar wird. Und wer den Markt und die Ideologie von Angebot und Nachfrage als Ursache der Preise nicht angreifen kann, kann selbst die hohen Managergehälter nicht kritisieren. Wer nur an »zu hohen« Managergehältern und Unternehmergewinnen Anstoß nimmt und zugleich den Profit als wirtschaftliches Leitkriterium und die Konkurrenz nicht in Frage stellt, dem wird die Gegenrechnung aufgemacht. Ihr zufolge muß manches, das den Kritikern als »Auswuchs« erscheint, vielmehr als legitimer Ausdruck der auch von ihnen unbestrittenen »Notwendigkeiten« gelten. »Wenn Unternehmergewinne nicht legitim sind, wie missgünstige Menschen meinen, dann kann man sie ruhig nach Belieben umverteilen. Sind hohe Unternehmergewinne umgekehrt die gerechte Belohnung für gesellschaftlich dringend notwendige Innovation, ohne die wir alle ärmer würden, ist jede Umverteilungsdiskussion von vornherein fragwürdig« (Ziesemer 1999, 133). Die Befürworter einer Umverteilung von oben nach unten stören sich an Relationen zwischen wachsenden Gewinnen und steigender Armut, müssen sich aber vorhalten lassen, sie stifteten Zusammenhänge zwischen zwei Größen, ohne die kausale Notwendigkeit dieses Zusammenhangs darzulegen. Insofern sei die Relation ungefähr genau so stichhaltig wie die Behauptung eines »Zusammenhangs zwischen der rapide gestiegenen Benutzerzahl im Internet und der wachsenden Arbeitslosenzahl in Deutschland« (Ziesemer 1999, 49). Falsch sei die zugrundeliegende Vorstellung von ökonomischen Zusammenhängen als Nullsummenspiel, als ob man nur reich werden könne, wenn man andere arm mache. »Selbst Karl Marx … hätte wohl seinen Kopf geschüttelt über solche vulgärökonomischen Theorien« (Ebd.).

Die Willensbekundungen erster Ordnung, die ›naiv‹ Gleichheit gegenüber Ungleichheit vorziehen, relativieren sich an den Präferenzen zweiter (übergeordneter) Ordnung. Deren Ideologie zufolge ist mit der Ungleichheit den in ihr Unterlegenen besser gedient als mit der Gleichheit (s. a. Rawls). Und im Alltagsbewusstsein auch der gebildeten Stände gehen die verschiedenen Quellen hohen Einkommens munter durcheinander. So schreibt bspw. der Gesellschafter der Beratungsgesellschaft Kienbaum, Heinz Evers: »Grundsätzlich hat in Deutschland kaum jemand etwas gegen hohe Bezahlung. Ob Autorennfahrer, Show-Star oder Fußball-Kicker, solange die Leistungen stimmen, gönnt man ihnen sogar deutlich höhere Bezüge als den Wirtschaftsführern – von Neidgesellschaft kaum eine Spur. Dies gilt auch für die Spitzenmanager, deren Unternehmen augenscheinlich erfolgreich arbeiten, wie etwa für den Porsche-Chef Wendelin Wiedeking« (Evers 2004, 110). Kritik wird erst dann laut, wenn die Leistungen der sog. Spitzenkräfte nicht ›spitze‹ sind. Als ungerecht gelten hohe Managergehälter erst dann, wenn deren Bezieher sich als »Nieten in Nadelstreifen« herausstellen.

Gewiss ist die Vermeidung krasser Einkommensungleichheiten ein Attribut einer Gesellschaftsform, die den Kapitalismus ablöst. Die Systemalternative lässt sich aber nicht im Horizont von Gleichheit und Gerechtigkeit treffend charakterisieren. Dies ignorieren viele Linke, die meinen, mit Gerechtigkeit ein treffliches Radikalisierungsmoment in den Händen zu halten. Sie konzentrieren sich auf das Sichtbare und meinen, mit dieser punktuellen Evidenz (Einkommens- und Vermögensunterschiede) einen schlechterdings unenteigenbaren Standpunkt und eine ihrer Verkehrung gegenüber immune Position einnehmen zu können. Sie tun so, als sei die Ungleichheit das Wesen des Kapitalismus und die Gleichheit das der nachkapitalistischen Gesellschaft. Demgegenüber geht es um die Überwindung der Verselbständigung des (deshalb:) abstrakten Reichtums gegen alle Akteure im Kapitalismus. Kapitalismuskritik ist keine Kapitalistenkritik. Den Metropolen-Kapitalismus zeichnet die Dominanz der Re-Investition von Gewinnen über deren private Konsumtion aus. Und die eigentlich relevante Verschwendung betrifft nicht in erster Linie den privat konsumierten Reichtum, sondern die Richtung, die die Entwicklung von Produktivkräften, verkaufbaren Objekten und Ressourcenverbrauch unter den Leitkriterien von Profitabilität und Besitzindividualismus nimmt (vgl. Creydt 2004). An den ruinösen Folgen der herrschenden Geschäftsregeln und an der mit der Verallgemeinerung der Ware zur Form des Reichtums verbundenen Weltlosigkeit [3] änderte sich auch selbst dann nicht viel, wenn die Einkommens- und Vermögens-Unterschiede verringert würden.

Kritik an »Ungerechtigkeiten« als Resultat enttäuschter (aber nicht: ent-täuschter) Anhänglichkeit

Wer es sich mit den im Arbeiten, in der Arbeitsorganisation und Technik, in der ganzen Richtung der Investitionen und Akkumulationen usw. innewohnenden sozialen Hierarchien (Marx: Kapitalfetisch) leicht macht und allein die Verteilungsungerechtigkeit skandalisiert, muß sich nicht wundern, daß diese leichtfüßigen und leicht fertigen Agitationsversuche auflaufen. Das Blickfeld der Freunde einer Umverteilung von oben nach unten blendet zentrale Kontexte aus und kennt dann nur das ›Mehr desselben‹. [4] Es ehrt die Freunde von Umverteilung im Interesse der Armen, daß sie gegen die von ihnen wahrgenommene Misere nicht aufgeben wollen. Aber daß sie keine Alternative zu ihrem Vorgehen sehen, liegt an dessen Zirkularität selbst. Und die ihm eigenen Ausblendungen schaden noch dem Anliegen einer Umverteilung von oben nach unten selbst. Geht es doch einher mit dem Unvermögen, die landläufigen Legitimationen für Unternehmesgewinne und Managergehälter überhaupt erst einmal ernstzunehmen – eine für jedwede Kritik unerlässliche Voraussetzung. Kapitalprofite und Managergehälter gelten u. a. als Risikoprämie und als Belohnung für die Findigkeit und Wachheit, den Wagemut und Einsatz dabei, neue Chancen und Marktnischen wahrzunehmen und entsprechende Produkte zu entwickeln. »Warum soll ein gutbezahlter Angestellter seinen sicheren Job kündigen und einen eigenen Betreib aufmachen, also ein großes persönliches Risiko für sich selbst und seine Familie eingehen, wenn er als Unternehmer kaum mehr verdienen kann als vorher? … Nur ein stetiger Strom von Existenzgründern, der permanente Wechsel von erfahrenen Managern in die Selbständigkeit, kann für den notwendigen Innovationsdruck in einer Volkswirtschaft sorgen. Wird diese Pipeline unterbrochen, weil innovative Ideen nicht genügend zusätzliche Gewinne versprechen, sinkt die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes immer weiter« (Ziesemer 1999, 136).

Die reformistischen Umverteilungsbefürworter ignorieren, daß die für sie schlagende Annahme vom kausalen Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum für die Bevölkerung alles andere als einleuchtend sind. Die reformistische Verkürzung der Kapitalismuskritik auf Kapitalistenkritik geht einher mit einer Ignoranz gegenüber dem dem Kapitalismus eigenen mystifizierten Bewusstsein. Auf die Frage, »wie wird man in Deutschland am ehesten reich« (Forsa-Umfrage 1999) antworten 32% mit »Steuerhinterziehung«, 31 % mit »Erbschaft« (Ziesemer 1999, 158). Für die Befürworter einer Umverteilung von oben nach unten ist bezeichnend, daß sie die geringe Teilnahme an den Protesten gegen Hartz IV im Sommer 2004 in den westlichen Bundesländern sich nicht recht erklären können.

Die Gerechtigkeitsfreunde kritisieren Unterschiede in der Verteilung und sind zugleich zahnlos gegenüber den Gesellschaftsstrukturen. [5] Meinen sie doch, ihre Kritik an diesen Unterschieden führen zu können, ohne die für den Kapitalismus maßgebliche Überordnung des Tauschwerts über den Gebrauchswert, der Verwertung des Kapitals über das Wohlergehen der Arbeitenden, der Notwendigkeit der Existenzsicherung durch abhängige Arbeit über die Lebensqualität der Arbeit und ökologische Gesichtspunkten [6] und die Relativierung des jeweils zweiten am ersten Moment als überwindbar zeigen zu können (Vgl. dazu Creydt 2001, 2003). Die Gerechtigkeitsfreunde meinen aus der Tatsache, daß der Abbau von krassen Unterschieden in der Verteilung ein Attribut einer wünschenswerten Gesellschaft ist, für diesen Abbau isoliert eintreten zu können, und finden dann dieses Vorhaben relativiert, unterwandert und verkehrt von den viel schwieriger infragezustellenden Basisstrukturen des Kapitalismus.

Reformistische Befürworter einer Umverteilung von oben nach unten und ihre linksradikalen Überbieter (»Hauptsache Kampf«) führen gern bessere Zustände in früheren Zeiten und in anderen Ländern als Beleg für deren Erkämpfbarkeit im Kapitalismus an. Dabei werden die für diese Zustände relevanten objektiven Bedingungen gern ausgeblendet. Sie betreffen u. a. Unterschiede in den Verwertungsbedingungen des Kapitals, in der Weltmarktposition, im Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Der Sozialstaatsausbau in Europa war auch eine Verarbeitung der Kriegserfahrung (Leitbild Sicherheit) und in Deutschland ein Phänomen jenes von 1945-75 herrschenden »Traumes immerwährender Prosperität« (B. Lutz), verdankte sich also einer einzigartigen Aufschwungphase. Diese objektiven Gegebenheiten sind nicht notwendigerweise Resultat von Kämpfen, sondern konstituieren umgekehrt vielmehr die Möglichkeits- und Gelegenheitsstruktur, vor deren Hintergrund erst die Wucht von sozialen Forderungen und der Ausbau des Sozialstaats sich verstehen läßt. Es wäre Thema eines eigenen Artikels zu zeigen, warum bspw. der inzwischen von vielen nostalgisch gesehene Sozialstaat im Deutschland der 70er Jahre oder das »schwedische Modell« weder hauptseitig Resultat von sozialen Kämpfen waren noch als Beleg dafür gelten können, was damals oder dort möglich gewesen sei, sei auch in Zukunft im Kapitalismus wieder möglich.

Die Gerechtigkeitsfrage ist noch nicht die Frage nach einer anderen Gesellschaft und nach einem anderen Selbstbewußtsein als dem im Umkreis von Opfern und Ohnmacht. Aus der Kritik an Markt, Kapitalismus und gesellschaftlicher Lebensweise muß demgegenüber eine Alternative des Wirtschaftens, Arbeitens und Lebens entwickelt werden. Geschieht dies nicht, koexistieren die Klage über ›Auswüchse‹ und allerhand schöne Forderungen mit der (und sei es nur durch den Mangel an Alternativen und durch die fehlende Kritik der ›Sachzwänge‹ begründeten) Akzeptanz von Markt, Kapitalismus und gegenwärtiger Lebensweise. So viel Kritik es an einzelnen Aspekten der gegenwärtigen Gesellschaft geben mag, insgesamt herrscht doch Ratlosigkeit über eine andere, sie überwindende Gesellschaft vor.

Ebenso wie früher in der Friedensbewegung wird auch in puncto Gerechtigkeit so getan, als ob ein für sich genommen scheinbar einfaches Ziel – wie Gerechtigkeit oder Frieden [7] – isoliert verwirklicht werden könne. Damit wird eine Gesellschaft fingiert, die es Menschen ermöglicht, ihre menschlichen Ziele zu realisieren. Es wird nicht gesehen, daß das naiv und unmittelbar aufgenommene Ziel Gerechtigkeit (oder Frieden) [8] in den bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen spezifisch verstanden wird. Die linken Gerechtigkeitsfreunde übergehen, wie sich das Thema Gerechtigkeit gegen ihre progressiven Vorsätze verkehrt. Die oben zitierten Auffassungen von Gerechtigkeit illustrieren diese Verkehrung.

Das Umschlagen von Gleichheit in Ungleichheit

Die Besitzunterschiede in puncto Geld oder Kapital mögen beklagt werden. Geld und Kapital als Basisstrukturen sind damit noch nicht infragegestellt. Viele linke Gerechtigkeitsfreunde kaprizieren sich empiristisch auf das sichtbare Faktum der Einkommens- und Vermögensunterschiede, halten dies dem bürgerlichen Verstand vor, ohne seine immanent gesehen guten Gründe für die Fruchtbarkeit oder Unumgänglichkeit eines Systems, in dem diese Unterschiede ein Moment darstellen, widerlegen zu können. Daß man ohne Geld und Kapital wirtschaften kann, erscheint unvorstellbar. Eine Kritik an der Ungleichheit relativiert sich an der Selbständigkeit des abstrakten Reichtums. Sie beinhaltet die Unterordnung der Individuen, wäre es doch ebenso farcenhaft, sich einzubilden »man könne alle Arbeiter zu Kapitalisten machen« wie »alle Katholiken zu Päpsten« (MEW 23/82). Wer sich auf den abstrakten Reichtum einläßt, läßt sich auch auf seine Verselbständigung gegen die Individuen ein. Daran relativiert sich die Kritik an der erscheinenden Ungleichheit in der Gesellschaft. Sie gilt als unschön, aber notwendig.

Bereits die Ware als Form des Arbeitsprodukts beinhaltet die Unabhängigkeit der Produzenten voneinander, die Abstraktion der Produktion von den Gründen der Konsumtion für die Nachfrage und umgekehrt die Indifferenz der Konsumenten für das, was in der Arbeit mit den Arbeitenden geschieht. Ein derartig abstrakter Reichtum findet seinen Maßstab nicht in der Teilhabe der Individuen an einer gemeinsamen Welt und an deren Gestaltung. Vielmehr haben die Individuen an ihm teil nach Maßgabe ihrer zahlungsfähigen Nachfrage und nach dem Grad der Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft. Das Charakteristikum der Arbeitskraft, »Quelle von Wert zu sein und von mehr Wert, als sie selbst hat« (MEW 23/208), führt zum Umschlag von Gleichheit in Ungleichheit, führt dazu, dass »aus dem Austausch der Waren nach dem Gesetz des Werts (der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit) der ungleiche Austausch zwischen Kapital und lebendiger Arbeit entspringt« (MEW 26.3/8) [9]. Ausbeutung ist nicht ungerecht: »Der Umstand, dass die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Tag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, dass daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besonderes Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer« (MEW 23/208).

Eine Stärke der Marxschen Formanalyse liegt darin, an zunächst ganz sympathisch aussehenden Formen wie Gerechtigkeit und Gleichheit Latenzen und Affinitäten aufzuzeigen, die auf weit weniger »schöne« soziale Realitäten verweisen. Einer dieser immanenten Gehalte von Gleichheit und Gerechtigkeit (vgl. zur Kritik MEW 18/19, 19/22) stellt die Verknüpfung von Gleichheit mit Gleichgültigkeit (vgl. GR 913, GR 153f.) dar. Es wird »der Inhalt außerhalb dieser Form … gleichgültig, ist nicht Inhalt des Verhältnisses als sozialen Verhältnisses« (GR 178). Die Abstraktion von den Stoffen der Transaktion ist der Gleichheit immanent: Gleichheit kann nicht anders existieren als formal (vgl. auch MEW 19/20f.), alle sonstigen Unterschiede gehen die Gleichheit nichts an.

Wo »Vergleichung an der Stelle der wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit« stattfindet (GR 79), dort enthält »Gleichheit« nicht nur eine Abstraktion von etwas. Vielmehr ist die Gleichgültigkeit die positive Form der sozialen Verhältnisse. Schon in der entfalteten Warenzirkulation gilt, »dass das Individuum nur noch als Tauschwert Produzierendes Existenz hat« (GR 159). Es wird »nicht gesehen, dass schon in der einfachen Bestimmung des Tauschwerts und des Geldes der Gegensatz von Arbeitslohn und Kapital etc. latent enthalten ist« (ebd.). Gleichheit heißt nicht einfach friedliche Koexistenz der verschiedenen Zwecke und Verausgabungen, nicht bloß unparteiische Urteilsenthaltung ihnen gegenüber und Freisetzung von Vielfalt, sondern auch Geltung der verschiedenen Inhalte allein nach Maßgabe der in ihnen enthaltenen Menge der gleichen »Substanz«.

Im Unterschied zu einer verteilungstheoretischen Fixierung der Kritik auf ungleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum geht es hier um seine Abstraktheit: Aus ihr folgt als Steigerungsmaß die quantitative Ausdehnung und als Mittel dazu die Arbeitskraft. Die Abstraktion wendet sich dann auch gegen das lebendige Mittel (vgl. genauer Creydt 2000, 147ff.). Aus dem Unterschied zwischen dem Wert der Arbeitskraft und dem von ihr produzierten Produkt ergibt sich der Mehrwert, dessen Erwirtschaftung nun (i.U. zur einfachen Warenproduktion) zur Bedingung der Produktion »wird«. Es stellen sich die »Verwirklichung von Gleichheit und Freiheit« heraus »als Ungleichheit und Unfreiheit. Es ist ein ebenso frommer wie dummer Wunsch, dass der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickle, oder die den Tauschwert produzierende Arbeit zur Lohnarbeit« (GR 160).

Die Weltlosigkeit der Idealbeflissenen

Die linken Gerechtigkeitseiferer konservieren ihr Ideal der Gerechtigkeit in einer Vagheit, die es ihnen erlaubt, die Verkehrung dieses Zieles gegen ihre progressiven Vorstellungen von ihm aus ihrem Bewusstsein herauszuhalten. Gerechtigkeit avanciert so – wie Frieden – zu einer Chiffre für das allgemein Gute an und für sich. Es ist dann den Idealen mit ihrer »Vollendung nicht Ernst, sondern vielmehr mit dem Mittelzustand« (Hegel Bd.3, 459) des unendlichen Strebens nach ihnen. Das »Fortschreiten« auf die Ideale wäre »ein Zugehen zum Untergang derselben« (ebd. 458). Ein häßlicher Nachteil von Werten und Idealen wie Gerechtigkeit und Frieden ist, daß man oftmals »in dem Maß, wie der Schatten Gestalt annimmt, bemerkt, daß diese Gestalt, weit entfernt, ihre erträumte Verklärung zu sein, just die gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft ist« (MEW 4/105).

Das Gute wird formell und zu einem Namen, der sich allem Möglichen anheften läßt: Gerechtigkeit, Frieden usw. Die Moral zeigt ihre Weltlosigkeit ganz immanent, indem in ihr das Gute in das Böse umschlägt (Hegel Bd. 7, § 140). Da gibt es vielerlei »gute Gründe, für sich selbst eine Berechtigung zum Bösen (zu) finden, indem er (der Böse – Verf.) durch sie (die Berechtigung – Verf.) es (das Böse – Verf. ) für sich zum Guten verkehrt. Diese Möglichkeit liegt in der Subjektivität, welche als abstrakte Negativität alle Bestimmungen sich unterworfen … weiß« (ebd., § 140 b). [10] »In diesem abstrakten Guten ist der Unterschied von gut und böse und alle wirklichen Pflichten verschwunden; deswegen bloß das Gute wollen und bei einer Handlung eine gute Absicht haben, dies ist so vielmehr das Böse, insofern das Gute nur in dieser Abstraktion gewollt und damit die Bestimmung desselben der Willkür des Subjekts vorbehalten wird« (ebd. § 140 d).

Diese Willkür entspricht der Weltlosigkeit des Individuums. Sie wiederum geht einher mit dem abstrakten Reichtum und der ihm eigenen Vergesellschaftung. Die linke Sympathie für das Gerechtigkeitsthema ist Ausdruck der Entfremdung, den abstrakten Reichtum und seine ideellen Komplementärphänomene nicht als Momente eines Zusammenhangs wahrhaben zu können. Linke spielen gern eine Seite der Gesellschaft gegen die andere aus und verfehlen die systemimmanenten Ursachen und Rechtfertigungsgründe der Einkommens- und Vermögensunterschiede. Daß solche Linke dann entweder nach einigen Sturm- und Drangjahren das von ihnen nur äußerlich angegriffene, aber seiner formellen Negation gegenüber wirklichkeitshaltigere bürgerliche Bewusstsein übernehmen und ›realpolitisch‹ ›ankommen‹ oder sich der Verkehrung ihrer guten Absichten ins Gegenteil durch sektiererische Einmauerung in dogmatische Parallelwelten erwehren, liegt nahe. Dabei liegen Vorschläge für eine Kontexterweiterung vor, die diese falsche Alternative unnötig macht (vgl. Creydt 1999 ff.).

Anmerkungen:

[1] Vgl. zum Praxisbegriff als Integrationsfigur für eine nachkapitalistische und nachmoderne Gesellschaftsordnung und Lebensweise und als not-wendiges Perspektivfundament: Creydt 1999a, b, 2001, 2003.

[2] Der ehemalige Arbeitsminister unter Kohl war 2004 in Köln Redner auf einer gewerkschaftlichen Kundgebung zur Kritik an “Ungerechtigkeiten” der Regierungspolitik. Diese Einladung passt zu den inneren Grenzen des Gerechtigkeitsdiskurs.

[3] »›Menschen ohne Welt‹ waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, ›nicht für sie gebaut‹ (Morgenstern), nicht für sie da ist; innerhalb einer Welt, für die sie zwar gemeint, verwendet und ›da‹ sind, deren Standards, Abzweckungen, Sprache und Geschmack aber nicht die ihren, ihnen nicht vergönnt sind« (Anders 1993/XI).

[4] »Das religiöse Gefühl, versteht sich, wenn es betrunken, wenn es nicht nüchtern ist, hält sich für das einzige Gut. Wo es Übel sieht, schreibt es sie seiner Abwesenheit zu, denn wenn es das einzige Gut ist, so kann es auch einzig das Gute erzeugen« (MEW 1/394).

[5] Bei führenden Vertreter der ›Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit‹ geht die Maxime ›die Leute dort abholen, wo sie sind‹ mit der Abgrenzung gegen die zu ›linke‹ PDS einher und bringt das Elend der ›Realpolitik‹ auf den Begriff. Neu ist daran nichts, außer der Tatsache, daß die WASG noch nicht einmal verbalradikal (»Veränderung beginnt mit Opposition«) auftreten mag, während die PDS sich immer darauf verstand, bevor sie wie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern Regierungsverantwortung übernahm und sich den »Sachzwängen« unterwarf mit der ebenfalls klassischen Ausrede, ohne sie würde es noch schlimmer kommen. »Ich bin das kleinere Übelchen, kotzt alle in mein Kübelchen« (Matthias Buchholz).
»Die WASG versteht sich als Alternative im System. Der demokratische Sozialismus, der auf den Fahnen der PDS steht, ist da weitergehender in Richtung einer Systemalternative. Die WASG tritt mit einer Wirtschaftspolitik an, die auf Keynes fußt, und ich wüsste nicht, daß dies die theoretische Grundlage der PDS wäre. … Theoretisch habe ich als Theologe keine Schwierigkeit damit, auch das System in Frage zu stellen. Ich habe aber den Eindruck, daß eine solche Infragestellung politisch gegenwärtig nicht vermittelbar ist. Ganz pragmatisch geht es darum, wie ich Politik, mit der ich nicht einverstanden bin, ändern kann« (Jürgen Klute, Spitzenkandidat der WASG in NRW und Leiter des Sozialpfarramts im Kirchenkreis Herne im Interview in der ›Sozialistischen Zeitung‹ 20. Jg., 5/2005, S. 5).
»JW: Und was ist die grundsätzliche Richtung?
Antw.: Daß unser Programm im Kern reformistisch ist. Es ist darauf gerichtet, die Folgen des Kapitalismus zu begrenzen und zu beherrschen.
JW: Also nicht, den Kapitalismus als solchen in Frage zu stellen?
Antw.: Mit diesem Programm nicht.« (Sabine Lösing, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes der WASG im Junge-Welt-Interview 10.5.2005).

[6] Hängen die Reproduktionschancen der Lohnabhängigen, sozialstaatliche Transferzahlungen einmal ausgeklammert, von der Verkaufbarkeit ihrer Arbeitskraft ab und verknüpft sich Einkommen für sie mit Erwerbs- bzw. Lohnarbeit, so »werden die Interessen Lohnabhängiger strukturell vorgeprägt und in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gebracht. Danach rangiert das Arbeitsplatzinteresse vor dem Lohn-, dieses vor dem langfristigen Reproduktionsinteresse (das wiederum vorrangig die Arbeitskraft-, aber nachrangig die Umwelterhaltungsinteressen zum Gegenstand hat). Beschäftigungsnot, Arbeitslosigkeit, können alle dem Arbeitsplatzinteresse nachrangigen Interessen verdrängen…« (Mückenberger 1986/104).

[7] »Wer nur für den Frieden ist, der kriegt ihn nicht, tut und lebt er doch gerade so, als wäre die Welt (bis auf diesen Schönheitsfleck, die Gefahr ihrer leider absoluten Vernichtung) schon die seine, und als wären die Regierungen dazu da, auf seine Forderungen zu hören. Für den Frieden brauche es also alles, nur keine Friedensbewegung« (Creydt 1984, 318).

[8] Bereits 1930 hieß es zu Recht: »Die pazifistische Ideologie dient der Maskierung der imperialistischen Kriegsvorbereitungen. … Die verschiedenen Antikriegspakte … sind keine wirksamen Hemmnisse für den Ausbruch des imperialistischen Krieges. Aber sie stellen die propagandistische Kriegsvorbereitung in den Massen auf einen neuen Fuß. Sie sind die Instrumente, um die Kriegshetze mit den Mitteln des Pazifismus, und das heißt, um so wirksamer, zu führen. Der imperialistische Gegner wird durch den Apparat, den diese Abkommen geschaffen haben, als Störer des Weltfriedens hingestellt und die Kriegsführung gegen den Gegner als völkerrechtliche Verpflichtung und als moralische Pflicht hingestellt« (KPD-Opposition 1931, 16f.).

[9] »Dass diese besondere Ware Arbeitskraft den eigentümlichen Gebrauchswert hat, Arbeit zu liefern, also Wert zu schaffen, das kann das allgemeine Gesetz der Warenproduktion nicht berühren. … Das Gesetz des Austausches bedingt Gleichheit nur für die Tauschwerte der gegeneinander weggegebenen Waren« (MEW 23/610f.).

[10] Es geht mit dem ›Guten‹ darum, »einen Inhalt unter ein Allgemeines zu subsumieren« (Hegel Bd. 7, § 140 d). »Dieser Inhalt ist an der Handlung als konkreter überhaupt eine Seite, deren sie mehrere hat, Seiten welche ihr vielleicht sogar das Prädikat einer verbrecherischen und schlechten geben können. … Die Subsumtion aber jeden beliebigen Inhalts unter das Gute ergibt sich für sich unmittelbar daraus, daß dies abstrakte Gute, da es gar keinen Inhalt hat, sich ganz nur darauf reduziert, überhaupt etwas Positives zu bedeuten – etwas, das in irgendeiner Rücksicht gilt und nach seiner unmittelbaren Bestimmung auch als ein wesentlicher Zweck gelten kann, z. B. Armen Gutes tun, für mich, für mein Leben, für meine Familie sorgen usf. … Diebstahl, um den Armen Gutes zu tun, Diebstahl, Entlaufen aus der Schlacht, um der Pflicht willen für sein Leben, für seine (vielleicht auch dazu arme) Familie zu sorgen. … Es reicht eine höchst geringe Verstandesbildung dazu hin, um wie jene gelehrten Theologen für jede Handlung eine positive Seite und damit einen guten Grund und Absicht herauszufinden« (ebd.).

Literatur:

Anders, Günther 1993: Mensch ohne Welt. München
Bischoff, Jürgen; Detje, Richard 1989: Massengesellschaft und Individualität. Hamburg
Creydt, Meinhard 1984: Die Misere des Katastrophenschutzes – Frieden schaffen wie die Affen. In: Die Aktion, Jg. 3, Hamburg (Nautilus-Vlg.)
Creydt, Meinhard 1999a: Arbeit als Perspektive. Argumente für einen kritischen und erweiterten Arbeitsbegriff. In: Weg und Ziel 2/1999, Jg.57 Wien
Creydt, Meinhard 1999b: Anhang zu: Probleme nichtsubalterner Basispolitik. In: Grün-Links-Alternatives Netzwerk Ruhrgebiet (Hg.): Grün-links-alternative Perspektiven für NRW ?! Dortmund 1999.
Creydt, Meinhard 2000: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.
Creydt, Meinhard 2001: Partizipatorische Planung und Sozialisierung des Marktes. Aktuelle Modelle in der angelsächsischen Diskussion. In: Widerspruch (Zürich), Bd. 40, 2001. Andere Varianten in: Marxistische Blätter 3/2001, Volksstimme Nr. 45/2000, Berliner Debatte Initial Nr.3/ 2001
Creydt, Meinhard 2003: Die institutionellen Strukturen nachkapitalistischer Gesellschaften. In: Olaf Reissig u. a. (Hg.): Mit Marx ins 21. Jahrhundert. Hamburg
Creydt, Meinhard 2004: Sparzwang und Verschwendung. In: Sozialistische Zeitung Nr. 1, Jg. 19
Evers, Heinz 2004: Wie viel ist genug. In: Cicero – Magazin für politische Kultur. H. 1, Jg. 1
Feuerbach, Ludwig 1976: Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Darmstadt
Kersting, Wolfgang 2003: Gerechtigkeit: Die Selbstverewigung des egalitaristischen Sozialstaats. In: Lessenich, Stephan (Hg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankf. M
Koller, Peter 1994: Gesellschaftsauffassung und soziale Gerechtigkeit. In: Frankenberg, Günter: Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft. Frankf. M.
KPD-Opposition 1931: Plattform der KPD (Opposition). Beschlossen Dez. 1930
Landshut, Siegfried 1969: Die Gemeinschaftssiedlung in Palästina. (Zuerst Tel Aviv 1944)
Ders.: Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik. Neuwied am Rhein
Miegel, Meinhard 1991: Leistung lohnt sich nicht. In: Die Zeit Nr.12, S. 28
Mückenberger, Ulrich 1986: Entfremdung von innerer und äußerer Natur und Wege, sie zu thematisieren. In: Altvater, Elmar (Hg.): Markt, Mensch, Natur. Hamburg
Musil, Robert 1981: Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg
Rawls, John 1975: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankf.M.
Schröder, Gerhard 2003: Das Ziel der sozialen Gerechtigkeit und die Herausforderungen moderner Demokratie. In: Konrad Deufel, Manfred Wolf (Hg.): Ende der Solidarität? Die Zukunft des Sozialstaats. Freiburg
Ziesemer, Bernd 1999: Die Neidfalle. Wie Missgunst unsere Wirtschaft lähmt. Frankf. M.

Online auch unter:
http://www.isioma.net/sds050901.html

http://www.marxismus-online.eu/theorie/gerechtigkeit.html
http://www.glasnost.de/autoren/creydt/gerechtigkeit.html