35.000 Teilnehmer an einem Gedenkmarsch am 11.11.09 und 40.000 Teilnehmer an einer Trauerfeier am 15.11. ebenfalls in Hannover nach dem Suizid des Torwarts Robert Enke am 10.11. Dieses Ausmaß der Trauerbekundung hat mit der Bedeutung des Vorfalls oder dem allgemein bekannten brutalen Menschenverbrauch im Spitzensport weniger zu tun als mit dem Willen zur kollektiven Gefühlsaufwallung, zur Demonstration der eigenen Anteilnahme und zum Selbstgenuss dabei. Schon medienkundige Teenager wissen mittlerweile, wie sie sich nach dem jeweiligen Schulamoklauf gegenseitig weniger zu umarmen als katatonisch zu umklammern haben, um ins Fernsehen zu kommen. Und das Kerzenanzünden bitte nicht vergessen. Der gesellschaftlich vorherrschenden Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber sollen Nähe und Wärme demonstriert sein. Was die vielen Einzelnen im Kitschkonsum massenhaft privat genießen, möchten sie ab und zu öffentlich zur Schau stellen und kollektiv erleben: Stimmungsverstärkung ohne Drogen, Hingabe an scheinbar große und edle Gefühle, Rührung darüber, sie empfinden zu können. Produzent und Verbraucher ineins dieses Events ist das Trauerkollektiv. Der Kitschgenuss erlaubt es, den Affekt noch während des Abklingens zu lutschen. Das ergibt anderthalbmaligen Genuss durch Affekt plus Reflexion auf den Affekt. Dem Objekt des Affekts gilt diese Reflexion nicht, sondern dem empfindsamen und gefühligen Subjekt. Die Faszination an den vermeintlich tiefen Gefühlen gleicht „jener hysterischen Liebe, die ein großes Spektakel aus keiner anderen Ursache aufführt, als weil ihr eigentlich das Gefühl fehlt“ (Musil).
Diese Verkehrung wurde mit der Empfindsamkeit populär. Eichendorff warf Goethes Wertherbuch vor, es wolle „wie ein echter Gourmand, den haut gout der Leiden zu einer vornehmen Wollust präparieren“ und es opponiere „gegen jede Schranke, die sie in jenem schwelgerischen Selbstgenusse stört oder hindert.“ Carl Schmitt hat 1919 an der Romantik den Okkasionalismus treffend beschrieben. In ihm ist „die äußere Welt und die historische Wirklichkeit für die romantische Leistung nur insofern von Interesse, als sie, um jenen Ausdruck des Novalis zu gebrauchen, Anfang eines Romans sein kann: das gegebene Faktum wird nicht in einem politischen, historischen, recht¬lichen oder moralischen Zusammenhang sachlich betrachtet, sondern ist Gegenstand ästhetisch-gefühlsmäßigen Interesses, etwas, woran der romantische Enthusiasmus sich entzündet. Für eine derartige Produktivi¬tät liegt das, worauf es ihr ankommt, so sehr im Subjektiven, in dem, was das romantische Ich aus Eigenem hinzutut, dass, richtig betrachtet, von Objekt oder Gegenstand nicht mehr gesprochen werden kann, weil der Gegenstand zum bloßen ‚Anlass’ wird.“
Früher waren Leute, die gern Beerdigungen von ihnen unbekannten Mitmenschen beiwohnten, Anhänger eines regelmäßig vorfindlichen, aber nicht massenhaften Hobbies. Anscheinend hat sich hier etwas geändert: Der im Mitleid mit Unglücksfällen in letzter Zeit prominent gewordene Kult um die Verletzlichkeit und das Opfer knüpft an der Passivität an, die die Menschen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft betrifft. Ansprüche gelten weniger den Taten des Individuums. Was ihm angetan wurde, was ihm als Objekt widerfuhr – dies ist vielmehr der Dreh- und Angelpunkt einer Betroffenheitskultur, die sich ostentativ abgeklärt gibt, was alle Ansprüche an kollektives gestaltendes Handeln angeht. Zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten wird eine Geschäftigkeit betrieben, die dem Kult nach Lady Di’s Tod nacheifert. Unglückliche Vorfälle geraten zum Anlass dafür, ein ebenso erhebendes wie zu nichts verpflichtendes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen durch Arbeitsteilung, Konkurrenz und soziale Gegensätze voneinander getrennten Menschen zu entfalten und auszustellen. Große Gefühle machen „menschlich“, egal was die Betreffenden sonst praktizieren. Kollektives Engagement, bei dem es um etwas ginge und das etwas kosten würde, damit haben diese Trauerfreunde weniger zu tun. Dafür können sie sich in Zukunft daran erinnern, dass sie kurz vor Volkstrauertag und Totensonntag 2009 etwas Außeralltägliches nicht nur erleben durften, sondern selbst „aktiv“ „dabei“ waren. So gesehen hatte das Jahr also noch ein highlight.
16.11.2009