(erschien in: Overton 22.3. 2025)
Fehlt es an Bewusstsein für die institutionellen und strukturellen Umrisse einer gesellschaftlichen Alternative, so beeinträchtigt das diejenigen, die mehr bzw. anderes wollen als das, was sich im Kräftemessen von Interessengruppen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie durchsetzen lässt. Im Unterschied zu einem vollständigen Modell benennen wir einige notwendige Momente, um zum Suchprozess nach Regelungen für eine nachkapitalistische Wirtschaft beizutragen. Um eine Kopfgeburt handelt es sich nicht. Vielmehr lässt sich anknüpfen an Regelungen und Institutionen, die bereits innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und kapitalistischen Ökonomie entstehen. Das „Neue“ entsteht nicht in autonomer Selbstzeugung, sondern aus den Widersprüchen des „Alten“ und in Weiterverarbeitung der unterstützenswerten Seite der Widersprüche. In einem Artikel lassen sich erforderlichen Regelungen nur nacheinander benennen. Deren Verständnis hängt davon ab, dass deutlich wird, wie sie sich gegenseitig stützen, voraussetzen und zusammenwirken.
Der sinkende Stellenwert des Privateigentums und die Regelungen gegen die Schädigung von Gemeingütern
Der Stellenwert des Privateigentums lässt sich verringern durch die Ausweitung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Damit vermindert sich auch die Notwendigkeit, als vereinzelter Einzelner private Sicherheiten für schlechte Zeiten zu schaffen. Ein Verkehrswesen mit dem Primat öffentlicher Verkehrsmittel und Sammeltaxis macht den privaten Autobesitz weniger nötig. Werden Infrastrukturen ausgebaut, die das Ausleihen begünstigen, so muss vieles nicht im privaten Haushalt vorgehalten werden.
Befürchtet wird ein wenig sorgsamer Umgang mit verliehenen bzw. zur Verfügung gestellten Gütern. Abhilfe bieten Regelungen, die bereits heute existieren. Bspw. sind beim Zur-Verfügung-Stellen von öffentlichen Gütern als Leihgabe Kontrollen über eine pflegliche Benutzung des Gutes möglich. Beim car-sharing protokolliert der nächste Nutzer vor Fahrtantritt, wie er das Auto vorfindet.
In Bezug auf die Nutzung kollektiver Güter gab und gibt es gelingende gemeinschaftliche Regelungen. Sie betreffen z.B. in einem Dorf die Nutzung der Gemeindewiese bzw. das Schlagen von Holz. Oder es handelt sich um Regelungen in Kalifornien, die die Nutzung von Grundwasserbecken betreffen.
Kommen gemeinschaftliche Regelungen bzw. selbstorganisierte Kooperation aufgrund der Größe des Gemeinwesens bzw. der Masse der Beteiligten und ihrer Anonymität nicht zustande, sind andere Arrangements möglich. Gegen die Anonymität als Versuchung zu einseitiger Vorteilsnahme hat sich bspw. Abhilfe in Internet-Verkaufsportalen schaffen lassen: durch öffentliche zugängliche Informationen über den Ruf von Verkäufern. Gewiss ist dann Sorge dafür zu tragen, dass diese Informationen keinen Manipulationen unterliegen.
Der Staat kann als exogener Förderer der Kooperation handeln. Gesellschaftliche Ordnungen sind häufig nicht spontan oder „natürlich“, wie es Ideologen der Marktwirtschaft glauben machen wollen. Vielmehr lässt sich durch Ordnungspolitik die Wahrscheinlichkeit von Handlungsweisen erhöhen, die von selbst nicht oder nicht in ausreichendem Ausmaß zustande kommen.
Eine andere Sorge betrifft nicht die Nutzungs-, sondern die Beitragsseite. Befürchtet wird die Inanspruchnahme der öffentlichen Güter, ohne dass der Nutzer einen eigenen Beitrag zu ihrer Produktion bzw. Reproduktion leistet. Auch hier existieren bereits Regelungen, die dieser Gefahr entgegenwirken. Für öffentliche Güter werden Steuern gezahlt oder pauschal eine Gebühr (GEZ-Beitrag) eingezogen.
Die Infrastrukturen zur Gewinnung von Informationen und zur Evaluation der Wirtschaft
Im Kapitalismus bemisst sich der Reichtum an der Verwertung des Kapitals. In der Gesellschaft des guten Lebens besteht der Reichtum in der Betätigung und Entwicklung menschlicher Vermögen. Ein zentraler Grund, für diese Gesellschaft einzutreten, resultiert aus einer leidvollen Erfahrung: Die kapitalistischen Maßstäbe des Reichtums wirken sich negativ auf die Entwicklung der menschlichen Vermögen aus.
Mittlerweile sind zahlreiche Instrumente entstanden, die die umfassende Evaluation von Produktionen, Technologien und Produkten über die kapitalistischen Rechnungsweise hinaus ermöglichen. Eine Wissensinfrastruktur der Produktlinienanalysen, Umweltbilanzen, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Technikfolgenabschätzungen vergegenwärtigt die mit den Produkten, der Produktion und dem Verbrauch verbundenen indirekten Effekte, Voraussetzungen und Rückkoppelungen. Auf der Basis solcher Wissensinfrastrukturen und Szenarien lassen sich Indizes entwickeln, für die heute Beispiele wie das MIPS (Material-Intensität Pro Serviceeinheit), der DGB-Index „gute Arbeit“, der Human-Development-Index oder das Corporate Responsibility-Rating stehen. Diese Indizes konkretisieren allgemeine Belange einer Lebensqualität im Sinne der Gesellschaft des guten Lebens. Diese Indizes drängen den Stellenwert von Preisen zurück. Preise stellen unterkomplexe Informationskonzentrate dar. Sie sind nicht in der Lage, das Konsequenzenspektrum wirtschaftlichen Handelns in voller Breite sichtbar zu machen. Dasjenige, wofür sich kein Marktpreis bildet bzw. nicht bilden kann (z. B. Lebensqualität der Arbeitenden im Arbeiten, Gesundheit u. a.), entzieht sich der monetären Bewertung.
Die „Gemeinwohlbilanz“ stellt den Versuch dar, bisherige ökonomische Bilanzierungen zu übersteigen in Richtung von „Konzepten eines ‚nicht-finanziellen’ bzw. sozialökologischen Rechnungswesens“ bzw. „mehrdimensionaler Erfolgskonzepte“ (Pfriem 2011, 188). Das Unternehmen hat auszuweisen, wie es „sich gegenüber Mitarbeitern, Lieferanten, Kunden, Investoren, der Gesellschaft und der Umwelt verhält. Auch legale, aber gesellschaftlich schädliche Praktiken werden abgefragt und bewertet: Gibt es geplante Obsoleszenzen in den Produkten, wird die Steuerpflicht umgangen oder wurde ein Betriebsrat verhindert? Wird bei Lieferanten eingekauft, die die Menschenrechte verletzen? […] Ein Punktesystem ermöglicht die Einordnung des eigenen Engagements und bildet damit die Grundlage für eine konsequente Nachhaltigkeitsstrategie“ (Viest 2015).
Zu Einzelheiten der „Nachhaltigkeitsbilanz“ oder „Gemeinwohlbilanz“ vgl. Bender, Bernholt, Winkelmann (2012, 137-143) oder Christian Felber. Dass diese Autoren sich Illusionen über die Grenzen dieser Bilanzen in der kapitalistischen Ökonomie machen, mindert nicht den Wert der Konzepte für das Nachdenken über eine nachkapitalistische Gesellschaft. Zum in diesen Bilanzen nicht gelösten Problem der „Umrechnung“ von völlig verschiedenen Qualitäten auf Quantitäten („Bilanzpunkte“) vgl. Creydt 2024. Eine Kritik an inhaltlichen Problemen von Felbers Überlegungen findet sich bei Müller 2011.
Bereits heute widmen sich Organisationen der kontinuierlichen kritischen Beoachtung wirtschaftlicher Aktivitäten. Beispiele sind food-watch, lobby-control, Coordination gegen Bayer-Gefahren – eine seit 1978 bestehende Organisation zur Beobachtung und Kritik des weltweit agierenden Konzerns Bayer. Als Vorformen von unabhängige Institutionen, die die Evaluation von Betrieben und Organisationen ermöglichen, können Rechnungshöfe und die „Stiftung Warentest“ gelten.
Die Sozialisierung der Informationen
Hilary Wainwright (1994) arbeitet die zentrale Relevanz des Wissens für die ökonomische Regulation heraus und tritt für dessen Verallgemeinerung im Unterschied zu seiner einseitigen Aneignung ein. Wainwright sieht dafür Ansätze bspw. in der internationalen Kooperation von Gewerkschaften und NGOs in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Mindestlöhne, Umweltschutz usw. Aber auch lokale regionalökonomische Netzwerke können als Vorformen des Anzustrebenden gelten.
Die Veröffentlichung und Verallgemeinerung ökonomischen Wissens sei „eine Basis für kooperative ökonomische Koordination, die ebensowenig unrealistische Vorannahmen und Voraussetzungen macht in bezug auf die Möglichkeit totaler Transparenz wie in bezug auf die permanente Partizipation des Volkes über die Institutionen des Alltagslebens hinaus” (Ebd., 273, vgl. a. Elson 1990, 104). „Transparenz könnte eher durch die Zugängigkeit als durch die permanente Möglichkeit eines kompletten Bildes erreicht werden” (Ebd., 183).
Die beschriebenen Netzwerke sind eine Chance, der historisch sattsam bekannten Unterminierung ökonomischer Selbstverwaltung durch Marktprozesse und durch die Sonderinteressen der einzelnen Akteure und Unternehmen anders zu begegnen als allein durch den Staat, der gerade über die dezentral verankerten Wissensbestände nicht verfügt. Es geht darum, sie mit anderen Wissenssorten zu vernetzen und diesen Prozess demokratisch zu gestalten. Das notwendige Wissen ist entlang der ganzen Kette bspw. von Produktion, Distribution und Konsumtion zusammenzubringen. Angestrebt wird, die Wechselwirkungen von Konsum, Produktion und den Bedingungen des täglichen Lebens bewußt zu repräsentieren und zu gestalten.
Rahmenvorgaben und externe Steuerung
Auf das Handeln von wirtschaftlichen Akteuren lässt sich in der Gesellschaft des guten Lebens einwirken durch positive oder negative Sanktionen (bezüglich Auftragsvergabe, Kredite, Steuern, Subventionen). Zugrunde liegt die Bilanz der Akteure in der Erfüllung allgemein festgelegter Kriterien bzw. Indizes, die das Leitbild des guten Lebens konkretisieren.
Gesellschaftlich wird entschieden über Proportionen, die für ganze Land relevant sind – z. B. zwischen Arbeit und Konsum, zwischen öffentlicher Daseinsfürsorge bzw. öffentlichen Gütern und privatem Konsum, zwischen Arbeit als instrumenteller Leistung und Arbeit als zentralem Moment der wohlverstandenen Bildung menschlicher Fähigkeiten, Sinne und Reflexionsvermögen.
Vorgaben gibt es gesamtgesellschaftlich für die Produzenten bzw. Anbieter zu Folgendem:
- Wegfall von nutzlosen und schädlichen Produkten, Arbeiten und Dienstleistungen,
- Wegfall von geplantem Verschleiß,
- Verlängerung der Lebensdauer von Produkten,
- Verringerung der Verschwendung infolge von Konkurrenz (Mehrspurigkeit),
- Nutzung der Geräte von mehr Personen (leihen statt kaufen),
- Aufhebung der Koexistenz von Schadensverursachung und Problemvermarktung (Nachträglichkeit von Kompensation bzw. Reparatur im Unterschied zu Vorsorge bzw. direkter Problembearbeitung),
- Lebensqualität in der Arbeit.
Im Horizont einer weit gefassten Nachhaltigkeit werden „die Besteuerung und die Unterstützung der Unternehmen durch staatliche Aktivitäten abhängig von den Werten der Nachhaltigkeitsbilanz. Aggressive Unternehmenspolitik, die den anderen Marktteilnehmern Schaden zufügt, bewirkt eine Verschlechterung der Nachhaltigkeitspunkte. Anders ausgedrückt, auf individuelle Konkurrenz ausgerichtete Unternehmenspolitik bringt erhebliche ökonomische Nachteile mit sich, während auf Kooperation ausgerichtetes Verhalten Vorteile bringt“ (Bender, Bernholt, Winkelmann 2012, 73).
Zugrunde liegt das Votum für einen kooperativen Wettbewerb. In ihm ringen die Beteiligten um die beste Lösung. Im Unterschied dazu könnte bspw. ein Bäcker „durch eine besonders billige Brötchenvariante und Verwendung entsprechender Materialien und ggf. auch durch schlechte Bezahlung der Beschäftigten versuchen, einen größeren Marktanteil zu erobern. Dieses Verhalten steht ihm natürlich zu, er wird aufgrund dieser Unternehmensstrategie allerdings durch die Nachhaltigkeitsbilanz mit höheren Steuersätzen rechnen müssen. Es ist fraglich, ob diese Strategie dann noch für ihn vorteilhaft ist. Handelt es sich um eine Großbäckerei mit 30 oder mehr Beschäftigten, muss diese Politik zudem von den innerbetrieblichen, partizipatorisch besetzten Aufsichtsgremien beschlossen werden“ (Ebd., 74f.).
In der Gesellschaft des guten Lebens nehmen öffentliche Aufträge eine große Rolle ein. „Schon heute werden staatliche Forschungsmittel, Projektgelder von Stiftungen, aber auch die Kredite ethischer Banken (wie der GLS-Bank) […] auf der Grundlage inhaltlicher Kriterien (also nicht nur von Gewinnaussichten) durch eine plural zusammengesetzte Kommission vergeben” (Zelik 2020, 219). Gewiss existiert hier die Gefahr, dass Antragsteller informell diejenigen, die entscheiden, zu beeinflussen versuchen. Dagegen hilft die demokratische Kontrolle der Entscheidungsgremien und die Anonymisierung der Anträge. Stammen die zu vergebenden öffentlichen Mittel von verschiedenen Stellen bzw. Stiftungen, so verringert sich die Gefahr, von einem Finanzgeber abhängig zu sein.
„Normative Technologiepolitik“
Eine Gesellschaft des guten Lebens verfolgt eine normative Technologiepolitik im Unterschied zur heute dominanten permissiven und reaktiven Technologiepolitik. Permissive Technologiepolitik fördert die Innovationen pauschal. „Digitalisierung first, Bedenken second“ hieß ein Slogan der FDP zur Bundestagswahl 2017.
Eine reaktive Technologiepolitik „lässt den Strom der technischen Entwicklung zunächst unkontrolliert anschwellen, um dann gewisse Verunreinigungen herauszufiltern. Sie wartet zunächst, bis bestimmte technische Entwicklungen bereits eine gewisse Gestalt angenommen haben, und untersucht erst dann, ob sie wünschenswert sind oder nicht.“ Statt dessen „müsste die technische Entwicklung so beeinflusst werden, dass sie unerwünschte Neuerungen gar nicht erst hervorbringt, sondern zielstrebig auf das gesellschaftlich Erwünschte hinarbeitet“ (Ropohl 1985, 236).
In der Gegenwart sehen wir eine „Technologiepolitik“, die auf kurze Sicht fährt. Atomkraftwerke wurden und werden gebaut, ohne die Probleme der Lagerung ihres Abfalls gelöst zu haben. Die Chemieindustrie bietet eine Vielfalt von Stoffen an, deren einzelne und vor allem aggregierte Wirkungen auf die menschlichen Körper (mit unterschiedlichen Lebensaltern und mit verschiedener körperlicher Konstitution) in vielen Fällen nicht geklärt sind (vgl. Donner 2021, Lutterrotti 2021).
Für eine „normative Technopolitik“ gilt: „Was die Technischen Überwachungsvereine und andere Organisationen im Hinblick auf die Sicherheit bestimmter technischer Gegenstände leisten, das müsste für die Gesundheit im weitesten Sinne, für die Umweltqualität, die Gesellschaftsqualität und die Persönlichkeitsentfaltung in ähnlicher Weise betrieben werden. Keine Produktionsanlage dürfte errichtet, kein Produkt auf den Markt gebracht werden, bevor nicht entsprechende Prüf- und Freigabeinstitutionen die ökologische und psychosoziale Unbedenklichkeit bestätigt haben“ (Ropohl 1985, 242).
Der Gewinn
In der Gesellschaft des guten Lebens ist die Akkumulation des Kapitals nicht das letztlich maßgebliche Kriterium, das über die Organisation der Arbeit im Betrieb und über die Auswahl der Produkte entscheidet. Aus der maßgeblichen Bestimmung des neuen Reichtums – Sicherung und Förderung menschlicher Vermögen – leiten sich Maßgaben für die Produkte bzw. Dienstleistungen ab. Die aus diesem neuen Reichtum erwachsenden Anforderungen an die Gestaltung der Arbeit sind das eine. Das andere sind die gesellschaftlich gewollten Überschüsse, die in Betrieben erzielt werden, um Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen querzufinanzieren, welche selbst nicht kostendeckend organisierbar sein können und sollen. Gesellschaftlich ist zu entscheiden über die Zusammensetzung dieser beiden verschiedenen Maßgaben für die betriebliche Organisation der Arbeit.
Der Gewinn ist in der Gesellschaft des guten Lebens nicht der Maßstab, der über die Ausrichtung des Betriebs (Wahl der Produkte und Produktionsverfahren) letztlich entscheidend bestimmt. Der Gewinn wird weder automatisch verwendet zur Erweiterung der Ressourcen des einzelnen Betriebs noch des Reichtums derjenigen, die ihren Reichtum im Unternehmen anlegen. Der im jeweiligen Betrieb investierte Reichtum ist in der Gesellschaft des guten Lebens kein Kapital. Er ist das Mittel zur Realisierung unmittelbarer sowie mittelbarer Zwecke im Dienste der Sicherung und Förderung menschlicher Vermögen und nicht Mittel zur Akkumulation des Kapitals. In der nachkapitalistischen Ökonomie sind die Arbeitenden im Betrieb nicht vorrangig als Arbeitskraft zur Erwirtschaftung von Mehrwert von Interesse. Vielmehr gilt die Arbeit selbst als Bereich, in dem sich menschliche Vermögen entwickeln, und diese Entwicklung wird zu einem maßgeblichen Kriterium der Organisation der Arbeit.
Das dient auch dazu, eine problematische Entwicklung des konsumtiven Reichtums zu vermeiden. Nehmen die Frustrationen innerhalb des Arbeitslebens ab, so verringert sich die Nachfrage nach Kompensation und Überkompensation. Das wiederum entzieht einem Teufelskreis die Grundlage: Der hohe Anteil unattraktiver Arbeit wird zum Anlass für viel (Über-)Kompensation, diese erfordert wiederum zusätzliche, häufig unattraktive Arbeit.
Die Wirtschaft in der Gesellschaft des guten Lebens steht unter der Maßgabe, die Arbeit so einzurichten und zu organisieren, dass eine „Anreicherung der Arbeit“ möglich wird. Mit ihr „nimmt das Reich der Notwendigkeit sozusagen das Reich der Freiheit in sich hinein. So bleibt der instrumentelle Kern der Arbeit (‚Rationalprinzip‘) erhalten, verliert aber zunehmend an Dominanz gegenüber anderen Bestimmungen derselben konkreten Tätigkeit“ (Johler, Sichtermann 1978, 54f.).
Im Kapitalismus entscheiden Banken bzw. Ratingagenturen, inwieweit sie Betriebe für kreditwürdig halten und ihren Kunden zur Anlage von bislang nicht investierten Vermögen vorschlagen. In der Gesellschaft des guten Lebens wird es demokratisch kontrollierte Gremien geben, die darüber befinden, wie im Einzelfall des Betriebs die Proportion der zwei genannten Zwecke aussieht. Die entsprechenden Beschlüsse finden auf der Grundlage der genannten Informationsinfrastrukturen und unter Voraussetzung politischer Entscheidungen statt.
In der Gesellschaft des guten Lebens gibt es keinen Kapitalmarkt, in dem finanzielle Ressourcen danach bewertet werden, wo sie sich am profitabelsten einsetzen lassen. Gewiss geht es auch in der nichtkapitalistischen Ökonomie darum, zu vergleichen, wie und wo knappe Mittel effizienter zur Erzielung von Überschüssen eingesetzt werden. Dieses Kriterium ist aber nicht absolut, sondern relativ zu den Kriterien der Förderung menschlicher Vermögen sowohl innerhalb des Arbeitsprozesses als auch durch die Produkte bzw. Dienstleistungen.
In der nachkapitalistischen Gesellschaft wird so etwas wie das „Amt für die Regulierung der öffentlichen Unternehmen” nicht wie die Behörden in den früheren Ostblockstaaten Produktionsziele festlegen und Produktionsmaterial verteilen, „sondern bestimmte demokratisch festgelegte Normen für die Nutzung öffentlicher Anlagen durchsetzen. […] Der Regulator der öffentlichen Unternehmen würde im Namen der Gemeinschaft die Eigentumsrechte an den Unternehmen ausüben, während die Unternehmensangestellten auf Nutzerrechte beschränkt wären” (Elson 1990, 89f.). Die Unternehmensaktivitäten finden im Rahmen ebenso starker wie gut überprüfter Umweltschutz-, Gesundheits-, Sicherheits- und Verbraucherschutznormen statt (Ebd. 90). Im übrigen wird es aus Gründen der Vermeidung von Machtballung Obergrenzen für Betriebe geben. Auch sie tragen dazu bei, ein selbstzweckhaftes Wachstum zu unterbinden.
Umgang mit Hierarchien in Betrieben und Organisationen
Regelungen, die in einer Gesellschaft des guten Lebens den Umgang mit Hierarchien betreffen, können von den israelischen Kibbuzim lernen: Der Verzicht auf differenzierte Entlohnung korrespondiert mit einer hohen Bedeutung der Bedürfnisse nach gemeinsamer Gestaltung des Gemeinsamen und „‚Verantwortungsgemeinschaft’. […] Das Kibbuzsystem bringt es offensichtlich zuwege, dass Übertragung und Ausübung von Autorität ohne nennenswerte Machtkonzentration und damit auch ohne Belastung der zwischenmenschlichen Beziehungen funktionieren kann“ (Busch-Lüty 1989, 140).
Die Kibbuzim orientierten sich nicht an einer Norm der gleichmäßigen Beteiligung aller an den Entscheidungsprozessen. Die Rotation von Personen auf Leitungsstellen sowie die Ausbildung von mehr Leuten mit Qualifikationen zur Leitung von Organisationen, als deren Funktionieren jeweils erfordert, verändern die Möglichkeiten innerorganisatorischer Demokratie. Zwar vermag das Prinzip der Ämterrotation nicht „die Gesamtheit der Mitgliedschaft direkt zur Arbeit in den leitenden Instanzen heranzuziehen“ (Pallmann 1966, 157). Aber die Rotation vergrößert „zumindest die Schicht der zur Ausfüllung der Führungspositionen geeigneten Siedlungsgenossen, von denen zu jeder Zeit ein bestimmter Prozentsatz vorübergehend ohne spezielle Funktion ist und damit als Führer der ‚laienhaften’ Teile der öffentlichen Meinung fungieren kann. Diese, wie man sie nennen könnte: ‚intra-elitäre Kontrolle’ funktioniert natürlich nur unter der Bedingung, dass die ‚Elite’ nicht zur primären Solidaritätsgruppe ihrer Angehörigen wird“ (Ebd.).
Regulation durch Märkte
Die Frage, wie die gesellschaftliche Regulierung in der nachkapitalistischen Gesellschaft und Märkte zueinander stehen, gehört zu den bislang ungeklärten Problemen der Debatte (vgl. Creydt 2020). Immerhin lassen sich aber einige Tendenzen bereits in der gegenwärtig bestehenden Ökonomie vorfinden, die über eine Marktregulation hinausweisen.
Bereits innerhalb des Kapitalismus entstehen ansatzweise Infrastrukturen, die eine über die Marktforschung und die Rentabilität der Kapitalverwertung weit hinausgehende Evaluation leisten. Sie bilden die Grundlagen dafür, die Herrschaft des Privatinteresses über Arbeit und Konsum sowie die Externalisierung von Kosten infragezustellen.
Bereits gegenwärtig existieren „bei Volkswagen sog. Fahrzeugkliniken; sie sind nicht zum Reparieren da, sondern zum Diskutieren. Marktforscher stellen ausgewählten Familien die Modellentwürfe vor und notieren Wünsche und Verbesserungsvorschläge“ (Schieritz 2023). Solche Einrichtungen gilt es aus ihrer Bornierung auf die einzelbetriebliche Absatzförderung zu emanzipieren und zu öffnen für eine gemeinsame Beratung zwischen den Konsumenten und Produzenten über sinnvolle Produkte. „Ideenträger, Experten, Nutzer und Produzenten“ können in „öffentliche Entwicklungswerkstätten für Produktentwicklung und -innovation“ zusammenkommen (Birkhölzer, in Forschungsprojekt 1994, 31). Damit ergibt sich ein anderer Kontakt zwischen Konsumenten und Produzenten als auf dem Markt. Als praktischer Ansatz einer gesellschaftlichen Gestaltung des Wirtschaftens sind in der Debatte die Aktivitäten der linken Londoner Stadtverwaltung (Greater London Council) in den 80er Jahren Thema. (Über den GLC und seine Abschaffung durch die Thatcher-Regierung informieren Livinstone 1987 und MacIntosh, Wainwright 1987.) Vgl. auch den Bericht über den GLC von Dave Elliott (Zurück zu den Grundlagen: Sozial nützliche Produktion, ebd. 74 ff.)
Ebenfalls verändert sich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Belegschaften durch den Wegfall des Privateigentums an Kapital und durch die Einrichtung von Beratungsformaten zwischen den verschiedenen Belegschaften. Im Unterschied zu durch Betriebsgeheimnisse voneinander abgeschotteten Betrieben geht es in der Gesellschaft des guten Lebens darum, dass Arbeitende aus verschiedenen Betrieben voneinander lernen und sich untereinander über „best practice“-Vorgehensweisen auseinandersetzen.
Eine Verbundwirtschaft findet statt in der zwischenbetrieblichen technischen Vernetzung, in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Produzent-Zulieferer-Kooperation sowie in der Zusammenarbeit bei der Realisierung großer Vorhaben (z.B. Mondlandung). Mit der Verbundwirtschaft entsteht im Unterschied zur kapitalistischen Konkurrenz die Auffassung von Wirtschaft als Zusammenarbeit, als Arbeit miteinander statt Arbeit gegeneinander.
Rückbau des Weltmarkts
Eine wesentliche Bedingung des Gelingens einer nachkapitalistischen Wirtschaft in der Gesellschaft des guten Lebens ist eine weltweite Raumordnung, die den Rückbau und die Entmächtigung des Weltmarktes beinhaltet. „Deglobalisierung“ (Walden Bello), „Dekonnexion“ (Samir Amin) und „Entglobalisierung“ (Streeck 2021, 408ff.) unterscheiden sich vom Protektionismus oder der Formierung von Wirtschaftsblöcken, die sich auf die Konkurrenz am Weltmarkt ausrichten, sich also positiv auf ihn einstellen. Es gilt den internationalen Vernetzungsgrad massiv abzusenken. Gemeint ist nicht Kleinstaaterei, sondern das Primat der Selbstversorgung in Wirtschaftsräumen, die mehrere Länder umfassen. (Zur Vertiefung vgl. Creydt 2021a.)
Lebensräume sind davon zu emanzipieren, den Zufällen von Wirtschaftskonjunkturen, Handelsbeziehungen und Verkehrsströmen unterworfen zu sein. Der Eigenwert des sinnvollen Aufeinander-bezogen-Seins der verschiedenen Lebenstätigkeiten in einem bestimmten Raum relativiert die ökonomische Rationalität.
Schluss
Im Unterschied zu der hier profilierten Perspektive, die sich aus verschiedenen Momenten zusammensetzt, werden gern kompakte Lösungen einer nachkapitalistischen Wirtschaftsordnung propagiert wie die „sozialistische Marktwirtschaft“, der „Cybersozialismus“ oder „digitale Sozialismus“ (Planwirtschaft mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik), der „Commonismus“ (vgl. Creydt 2025) und die „Rätedemokratie“. Anhänger solcher vermeintlich einfachen und „aus einem Guss“ geformten Modelle („all in one“) haben Vorteile in der Schlagwortkonkurrenz. Viele legen sich allerdings keine Rechenschaft ab von den diesen Konzepten innewohnenden ungelösten Problemen. (Vgl. zu ihnen in aller Kürze Creydt 2020, 2022, vgl. a. Grünberg 2024).
Literatur:
Bender, Harald; Bernhold, Norbert; Winkelmann, Bernd 2012: Kapitalismus und dann? Systemwandel und Perspektiven gesellschaftlicher Transformation. Hg. von der Akademie Solidarische Ökonomie. München
Busch-Lüty, Christiane 1989: Leben und Arbeiten im Kibbuz. Köln
Creydt, Meinhard 2020: Ausweichen vor Problemen hilft niemand. In: Die Internationale, H. 3, 2020
Meine Artikel finden sich auf www.meinhard-creydt.de
Creydt, Meinhard 2021: Die am guten Leben orientierte Sozialität und die nachkapitalistische Vergesellschaftung. In: Streifzüge, Nr. 81. Wien
Creydt, Meinhard 2021a: Rückbau des Weltmarkts bzw. Deglobalisierung. In: Telepolis 4.4.2021.)
Creydt, Meinhard 2022: Sieben konstruktive Fragen zur „Weltcommune“. In: https://communaut.org./de/sieben-konstruktive-fragen-zur-weltcommune
Creydt, Meinhard 2024: Qualität und Quantität. Wie lassen sich eindimensionale Rechnungsweisen durch mehrdimensionale Bewertungsmaßstäbe ablösen? In: Telepolis, 13.4. 2024
Creydt, Meinhard 2025: „Commonismus“ – Die Probleme einer Wunschvorstellung. In: Telepolis 16.2.2025
Donner, Susanne 2021: „Endlager Mensch“. Wie Schadstoffe unsere Gesundheit belasten. Hamburg
Elson, Diane, 1990: Markt-Sozialismus oder Sozialisierung des Markts. In: Prokla H. 78, Berlin. Erschien auch in: Info des Linken Forum in den Grünen H. 6 (zuerst in New Left Review 1988, No. 172)
Felber, Christian 2008: Neue Werte für die Wirtschaft. Wien
Forschungsprojekt „Lokale Ökonomie“ an der TU Berlin (Hg.) 1994: Lokale Ökonomie – Beschäftigungs- und Strukturpolitik in Krisenregionen – Ein internationales Symposium. Sonderbd. Berliner Debatte. Berlin
Grünberg, Max 2024: Ökonomie der Knappheit. Eine Produktionsweise auf der Suche nach allokativer Effizienz. In: Prokla, 54. Jg., H. 215
Johler, Jens; Sichtermann, Barbara 1978: Der Begriff Arbeit in der nationalökonomischen Ideengeschichte. In: Mehrwert Nr. 15/16. Berlin-West
Livingstone, Ken, 1987: If Voting Changed Anything They Would Abolish It. London
Lutterotti, Nicola von 2021: Schadstoffe im Körper: Die Risiken und Wechselwirkungen kennt kaum jemand. In: FAZ 18.08. 2021
MacInstosh, M./ Wainwright, H., 1987: A Taste of Power: The Politics of Local Economics. London
Müller, Horst 2011: Gemeinwohl-Ökonomie – eine tragfähige Systemalternative? http://praxisphilosophie.de/mueller_felberkritik.pdf
Pallmann, Martin 1966: Der Kibbuz. Zum Strukturwandel eines konkreten Kommunetyps in nichtsozialistischer Umwelt. Basel
Pfriem, Reinhard 2011: Eine neue Theorie der Unternehmung für eine neue Gesellschaft. Marburg
Ropohl, Günter 1985: Die unvollkommene Technik. Frankfurt M.
Schieritz, Mark 2023: Du bist aber groß geworden. In: Die Zeit, Nr. 21, 17.5.2023, S. 3
Streeck, Wolfgang 2021: Zwischen Globalismus und Demokratie. Berlin
Viest, Oliver 2015: Kontrovers: Gemeinwohlökonomie und Gemeinwohlbilanz. In: Forum Wirtschaftsethik H.1
Wainwright, Hilary 1994: Arguments for a new left. Oxford
Winkelmann, Marc 2016: Auf’s Ganze. In: Enorm – Wirtschaft. Gemeinsam. Denken. 7. Jg., H.1. Hamburg