(Telepolis 16.2. 2025)
„Commons“ definieren sich dadurch, dass es erstens eine Ressource gibt, zweitens eine bestimmte Gruppe von Menschen diese Ressource gemeinsam nutzt sowie gestaltet und diese „Commoners“ drittens in ihrem „Commoning“ aushandeln, wie dies geschieht. Beispiele für Commons sind Projekte der „Solidarischen Landwirtschaft“ und open source-Projekte. Commons mögen im vom Marktwert wohl unterschiedenen Sinne für die Menschen wertvoll sein. Wie aber verhält es sich mit dem „Commonismus“? Unter ihm stellen sich seine Anhänger eine „commonsbasierte Wirtschaft“ vor, die „tauschlogikfrei und damit geldfrei“ sein soll (Habermann 2019).
Wirklichkeitsfremde Wunschvorstellungen von Dezentralisierung
Das Wort „dezentral“ spielt bei der Commonismus-Verfechterin Friederike Habermann eine große Rolle: „Statt in gewinnorientierten transnationalen Unternehmen organisieren sich die Menschen in ‚Kollaborativen Commons‘ und können so Güter dezentral produzieren und die Bedürfnisse vor Ort befriedigen“ (Habermann 2019).
Durch eine Dezentralisierung von Produktionsanlagen vergrößert sich der Aufwand an Transporten. Die für die Produktion notwendigen Rohstoffe, Vorprodukte u. ä. müssten an viele kleine Standorte anstatt an wenige große Produktionsanlagen geliefert werden. Insofern Rohstoffe und Vorprodukte massereicher sind als Produkte, lassen sich letztere leichter transportieren. Daraus folgt, dass die Transporte für Vorprodukte und Ressourcen hin zu vielen dezentralen Produktionsanlagen ökologisch ungünstiger und ökonomisch ineffizienter sind als der Transport von Produkten. (Analoges gilt für das Einsammeln und Recyceln der Abfälle.)
Die Anschaffungskosten für in dezentralisierten kleinen Produktionsanlagen eingesetzte „teure Universalmaschinen“ entsprechen nicht ihrer Auslastung, wenn Teile mit ihnen hergestellt werden, „die man viel billiger und schneller in großen Mengen auf einfachen Maschinen oder, bei großen Stückzahlen meist noch rationeller, ohne Abfall und den jeweiligen Anforderungen entsprechend, durch Gießen, Pressen oder Gesenkschmieden herstellen und dann an den Ort ihrer Verwendung schicken könnte“ (Fischbach 2016, 165f.)
Wirklichkeitsfremde Wunschvorstellungen von Eigenproduktion (per 3D-Drucker)
Bei Habermann (2019) heißt es: „Anstelle von Konzernen können jetzt einzelne Gruppen auftreten und sich übers Internet vernetzen. Jemand hat z.B. einen Impuls, ein Auto zu konstruieren, das nur einen Liter Benzin auf hundert Kilometer verbraucht und dennoch aktuellen Sicherheitsstandards entspricht. Die Person kann sich mit anderen online vernetzen und es dezentral konstruieren und in Werkstätten bauen oder ausdrucken.“ Den 3D-Drucker wertet Habermann (2016) als für den Commonismus prototypisches Produktionsmittel (S. 52, 56, 67, 69, 90, 125f.).
Wer über implizites oder stilles Wissen (tacit knowledge) verfügt, weiß praktisch, wie etwas geht. Sein Wissen steckt im Können. Fachkundige Planer, Maschineneinrichter, Bediener und Wartungstechnikern verfügen über Erfahrungswissen und Knowhow. Es lässt sich nicht hinreichend durch digitalisierte Instruktionen ersetzen oder anderen vermitteln.
Zudem lassen sich „komplexe Produkte nicht auf ein Teil reduzieren, sondern bestehen aus vielen Teilen, die zusammenpassen und -wirken müssen sowie schließlich zu montieren sind“. „Zur Sicherung all dessen“ gehört „eine industrielle Messtechnik, die nicht nur alles andere als billig ist, sondern zu deren Anwendung auch einige Expertise gehört“ (Fischbach 2016, 169). Die Unterschiedlichkeit der zu montierenden Teile erfordert zu ihrer „Herstellung ein weites Spektrum von Verfahren. Jene müssen nicht nur hinsichtlich ihrer Geometrie sowie ihrer Material- und Oberflächeneigenschaften aufeinander abgestimmt sein, sondern im Rahmen ihrer Spezifikation auch diversen Normen genügen. Die dazu erforderliche Mess- und Prüftechnik bzw. deren Anwendung liegt überwiegend außerhalb der Möglichkeiten“ von kleinen dezentralen Produktionseinheiten (Fischbach 2017).
Fischbach kritisiert „die Illusion, es gäbe eine universelle Fertigungsanlage, die ohne aufwendige und besonderes technologisches Wissen erfordernde Umbau- und Umrüstmaßnahmen dazu in der Lage wäre, beliebige Produkte herzustellen“ (Fischbach 2016, 161). Wer eine persönlich verfügbare Allround-Maschine propagiert, hat „extrem unterkomplexe Vorstellungen vom Aufbau industrieller Produkte. Solche bestehen meist aus einer Vielzahl von Komponenten nicht nur von unterschiedlicher Geometrie, sondern auch mit, funktional bedingten, unterschiedlichen stofflichen Eigenschaften – Dichte, Elastizität, Härte, molekulare bzw. kristalline Struktur, elektrische Leitfähigkeit, Wärmeleitfähigkeit, spezifische Wärme, thermischer Ausdehnungskoeffizienz etc., die wiederum entsprechende Materialien und Bearbeitungsverfahren bedingen. Die Idee, dass eine einzige Maschine eine solche Vielfalt von Produkten hervorzubringen vermöchte, gehört ins Reich der Science Fiction“ (Ebd., 167). Die Vorstellung, „dass man die Materialvielfalt durch ein einziges, ,3D-Drucker-kompatibles’ Material ersetzen könnte, steht einfach nur für miserables Design“ (Ebd.). Der Adidas-Konzern hat „den 3D-Druck-Versuch mit einem Turnschuhmodell nach kurzer Zeit eingestellt“ (Pezzel 2020).
Die Ausdünnung der Vergesellschaftung
Die materielle Seite der modernen Gesellschaft besteht in der Angewiesenheit der arbeitsteilig verschiedenen Professionen, Betriebe und Organisationen aufeinander. Im Gegensatz dazu stehen die zitierten Wunschvorstellungen in puncto Dezentralisierung und 3D-Drucker sowie das Votum für die dezentrale Produktion. Selbst ein so anspruchsvolles Objekt wie das Auto soll „vor Ort“ in Eigenarbeit „gebaut oder ausgedruckt“ werden (Habermann).
Diese Vorstellungen laufen auf e i n e Botschaft hinaus. Sie lautet: Dezentrale Allrounder können in ihren autonomen Kommunen fast alles produzieren und sind nur für einen verbleibenden kleinen Rest angewiesen auf externe Spezialisten und auf gesamtgesellschaftliche Infrastrukturen. Das dünnt die Vergesellschaftung radikal aus. „Die Idee, alles überall machen zu können, weil man es in digitaler Form doch überall hin zu transportieren vermöge, verzichtet auf die Chancen der Arbeitsteilung und Spezialisierung, die erst die Konzentration auf bestimmte Probleme und damit die Akkumulation von entsprechender Erfahrung ermöglichen, ohne die eine Vertiefung und Weitergabe des technologischen Wissens nicht möglich ist“ (Fischbach 2016, 160f.).
In dieser radikalen Ausdünnung der Vergesellschaftung besteht eine materielle Voraussetzung dafür, die Tauschlogik und das Geld zu vermeiden. Das würde umso leichter fallen, desto autonomer, wenn nicht autarker die Kommunen sind.
Die gute alte Zeit
Diese Prämisse macht auch verständlich, warum der Rückgriff auf eine mittelalterliche Vergangenheit bei manchen Freundinnen des „Commonismus“ eine so große Rolle spielt. „In der mittelalterlichen Vorstellung […] war es nicht erlaubt, andere von etwas auszuschließen, was selbst nicht genutzt wurde. Mit anderen Worten: Es gab kein Eigentum. Im Grunde war alles Commons“ (Habermann 2024). Zwar gesteht Habermann vorsichtshalber unverbindlich zu, das mittelalterliche Dorf sei nicht zu idealisieren. Zugleich zitiert sie affirmativ den Begriff des „Dorfkommunismus“.
Auch Silvia Federici (2017, 33) meint: „Die ‚Allmende’ stellt sich als Vorschein einer Welt dar, in der Güter geteilt werden und gesellschaftliche Beziehungen von der Solidarität zehren, nicht von dem Wunsch nach selbstsüchtiger Erweiterung.“ Dem liegen massive Missverständnisse der früheren Allmende und ihres Stellenwerts im Dorf zugrunde. (Vgl. dazu NN 2010.)
Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlbilanzen
Märkte werden erst dadurch zur dominanten Form der ökonomischen Interaktionen, dass die Arbeitskraft Warenform annimmt. In der „Neuen Linken“ ab den 1970er Jahren gab es ein Bewusstsein dafür, dass die Marktwirtschaft selbst und nicht „nur“ das Kapital-Arbeit-Verhältnis notwendigerweise massive negative Folgen aufweist. „Marx wollte die Welt nicht allein von den mit dem Privateigentum verbundenen Ungleichheiten befreien, sondern von der mit dem Marktsystem verbundenen Entfremdung” (Weisskopf 1992, 12).
Commonisten nehmen mit ihrer Ablehnung der „Tauschlogik“ dieses Problem auf ihre Art auf. Wie soll aber die Alternative zur Tauschlogik aussehen? „Ich höre mich manchmal etwas scharf an, habe aber wahnsinnige Sympathien für Niko Paech oder Christian Felber. Sie stehen zwar für etwas anderes – aber es ist zu erkennen, dass wir dasselbe wollen“ (Habermann 2019).
Bilanzen, die qualitative Indikatoren berücksichtigen und das volle Spektrum der Wirkungen eines Betriebs vergegenwärtigen, bilden ein wesentliches Moment einer anstrebenswerten Wirtschaftsweise. Jedoch „führen sie durch eine Punktbewertung der unterschiedlichen Qualitätsdimensionen gleichsam hinten herum Elemente der Gelddimension wieder ein. Das hat insbesondere die Konsequenz, dass eine Aufrechnung unterschiedlicher qualitativer Dimensionen gegeneinander möglich wird, die geeignet ist, sowohl Mängel in der einen Dimension als auch Erfolge in der anderen zu nivellieren“ (Freimann 1984, 41). Das spricht nicht gegen die „Gemeinwohlbilanz“, die Felber propagiert, wohl aber gegen die Vorstellung, sie sei „dasselbe“ wie „geldfreies“ Wirtschaften.
Die Aufgaben einer modernen Wirtschaftsordnung und der Umgang mit komplexen Wirkungsgefügen
Die mittelalterlichen Bauern, auf die sich Federici und Habermann positiv beziehen, waren kaum vergesellschaftet mit Bauern aus anderen Dörfern. Moderne Gesellschaft weisen aber bekanntlich eine gesamtgesellschaftliche Vernetzung und Verflechtung auf. Wie stellen sich Verfechter des „Commonismus“ die gesamtgesellschaftliche Proportionierung der vielen wirtschaftlichen Aktivitäten vor? Bei dieser Regulation stellen sich folgende Fragen:
a) Wie können verschiedene Vorgänge, Arbeiten und Tätigkeiten gemessen und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden (K o m m e n s u r i e r u n g s p r o b l e m), ohne dass entsprechende Abstraktionen (z. B. durch Bepreisung) sich zum Nachteil der Qualität von Gütern und Arbeiten auswirken? Es scheint ein Dilemma zu existieren: Ein „sogenannter Dashboard-Ansatz“ gleicht einem „Auto-Armaturenbrett, wo verschiedene Informationen abgebildet werden. Dort würden dann auch Kategorien wie Umweltverschmutzung oder Lebenserwartung angezeigt.“ Das Problem bei der Bepreisung „ist, dass man alles in Geldwert darstellen müsste. Man müsste beispielsweise bepreisen, was eine Vogelart wert ist. Das ist schwierig und angreifbar.“ Beim Dashboard-Ansatz aber „können die Abbildungen sehr komplex und unübersichtlich werden“ (Dullien 2024).
b) I n f o r m a t i o n s p r o b l e m: Wie lassen sich Informationen über Bedürfnisse, technische Neuerungen, Lagerbestände, Produktionskapazitäten u. ä. erlangen? Wie kommen diese Informationen dort an, wo sie gebraucht werden? Wie wird eine interkollektive Diffusion von Neuerungen und Erfahrungen (zwischen den verschiedenen Gruppen bzw. Belegschaften) möglich – im Unterschied zur Zurück- oder Geheimhaltung von Informationen infolge von Ressortdenken, Abteilungs- und Betriebsegoismus? Wie wird der strategische Umgang mit Informationen und Kompetenzen vermieden? (Gemeint ist die Manipulation des Auftraggebers durch die Beauftragten. Letztere haben oft einen Informations- und Kompetenzvorsprung.)
c) Wie lässt sich erreichen, dass diejenigen die Ressourcen bekommen, die mit ihnen sowohl am effizientesten wirtschaften als auch Produkte bzw. Dienstleistungen anbieten, die den Bedürfnissen entsprechen? (A l l o k a t i o n s p r o b l e m)
d) S t e u e r u n g s p r o b l e m e: Wie ist zu gewährleisten, dass Steuerungsimpulse dort ankommen, wo sie wirken sollen?
e) Wie ist zu erreichen, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Betriebe und Organisationen einander zuarbeiten, also gute Leistungen füreinander erbringen? Wie lässt sich vermeiden, mit einer bestimmten Vorgehensweise, die eines der genannten Momente (a-d) betrifft, ein anderes Moment zu beschädigen? (I n t e g r a t i o n s p r o b l e m) Ein Beispiel: Subventionen können politisch gewollt, in Bezug auf „Kostenehrlichkeit“ aber problematisch sein. In der DDR war das Brot so billig, dass es als Viehfutter Verwendung fand.
f) Wie werden Angebote und Nachfragen miteinander abgestimmt?
In einer anstrebenswerten nachkapitalistischen Gesellschaft wird es den politischen Willen geben, Arbeitsprozesse dann weniger „effizient“ (in Bezug auf die Relation zwischen dem eng gefassten Aufwand und dem direkten Ergebnis) zu organisieren, wenn die „Effizienz“ die Arbeit für die Arbeitenden enervierend und menschlich verarmend macht. Eine solche Entscheidung setzt aber ein Wissen über die mit ihr verbundenen Einbußen (z. B. an materiellem Output) sowie Verbesserungen (z. B. Abnahme der Arbeitsbelastungen und der mit ihnen verbundenen gesundheitlichen Probleme) voraus. Je weiter man den Kreis der Voraussetzungen und Folgen zieht, desto schwieriger wird es, die verschiedenen Auswirkungen miteinander ins Verhältnis zu setzen, die bereits die Veränderung eines Faktors nach sich zieht.
In Bezug auf das Wirtschaften in einer nachkapitalistischen Gesellschaft stellt sich z. B. die Frage „Soll der Produktionszweig A expandieren?“ Zur Beantwortung wird es erforderlich, die Kosten und Erträge dieser Expansion zu ermitteln. Dafür muss geklärt werden, wie sich die Expansion der Branche A auf die Branchen B, C, D auswirkt. Entspricht dem Wachstum in Branche A eine Schrumpfung oder ein Wachstum der Branchen B, C, D? „Jede einzelne Entscheidung hängt in einem Prozess gegenseitiger Determinierung von allen andern ab“ (Lindblom 1983, 124).
Im Vergleich zu Gemeinschaften und auf ein jeweiliges Thema bezogenen Projekten (wie den Commons) weisen die Vernetzungen der Handlungsketten und Wirkungen in einer Gesellschaft einen weit höheren Grad an Komplexität auf. Komplexität bezeichnet (nach Willke 1982, 15) den Grad, in dem ein Entscheidungsfeld sachlich, sozial und zeitlich (a) jeweils verschiedene Ebenen beinhaltet, (b) diese interagieren und es sich (c) um vernetzte Wirkungsgefüge handelt mit indirekten, nichtintendierten und intransparenten Neben- und Fernwirkungen, Wechselwirkungen, Rückkopplungen und Eigendynamiken. Der Umgang mit solchen Gefügen ist alles andere als einfach. Dietrich Dörner schildert plastische Beispiele in seinem Buch „Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen.“
Die Vorstellung von der Ausweitung des Commoning hin zum „Commonismus“ weist eine große Leerstelle auf. Sie betrifft die bewusste gesamtgesellschaftliche Koordination und Regulierung bzw. den Umgang mit den kognitiven und praktischen Problemen, die für diejenigen Personen entstehen, die sich der gesamtgesellschaftlichen Vernetzungsgefüge bewusst werden und sie gestalten wollen.
Konzepte einer nachkapitalistischen modernen Gesellschaft, die darlegen, wie in ihr die Aufgaben einer modernen Wirtschaftsordnung erfüllt werden können, sind bislang tatsächlich rar. Das hat negative Folgen. „Ein Grund der gegenwärtigen Schwäche der europäischen Linken ist ihr Unvermögen, in ausreichendem Detail zu spezifizieren, was ihre alternative Vision beinhaltet und wie sie mit den mannigfaltigen Komplexitäten des sozialen Lebens in modernen Gesellschaften umgeht.” (Breitenbach u. a. 1990, IX).
„Antworten“ ohne Problembewusstsein
In den zitierten Darstellungen zum „Commonismus“ fällt auf: Das Bewusstsein dafür fehlt, dass es sich bei der gesamtgesellschaftlichen Regulierung der Wirtschaft überhaupt um ein Problem handelt. Der ausführliche und affirmative Wikipedia-Artikel zum „Commoning“ präsentiert Beispiele für es. Sie würden aber gründlich missverstanden, wenn sie dafür dienen, das Thema einer gesamtgesellschaftlichen Vernetzung der Wirtschaft verschwinden zu lassen und eine Problemverschiebung zu veranstalten. Projekte wie die „Solidarische Landwirtschaft“, das „MietshäuserSyndikat“ sowie open source-Software sind begrüßenswerte Commons. Es besteht jedoch ein grundlegender Komplexitätsunterschied zwischen den Koordinations- und Regulationsleistungen innerhalb der Commons und der Synthesis in einer gesamtgesellschaftlichen Vernetzung wirtschaftlicher Aktivitäten. „Synthesis (hält) das Mannigfaltige der darin (in der jeweiligen Gesellschaftsform – Verf.) gegebenen arbeitsteiligen Abhängigkeiten der Menschen voneinander zu einem lebensfähigen Ganzen zusammen“ (Sohn-Rethel 1973, 19). Für die zitierten Vertreter des „Commonismus“ ist es charakteristisch, die Problematik dieser Synthesis auszublenden. Insofern gleicht dieser „Commonismus“ einer geistigen Übersprungshandlung. Er gibt „Antworten“, aber diese erreichen gar nicht das Level, auf der sich die Fragen einer Regulierung gesamtgesellschaftlich vernetzter wirtschaftlicher Aktivitäten stellen.
Das Verhältnis zwischen Wikipedia und ihren Autoren ist keine Antwort auf eine Volkswirtschaft
Eine Lösung für die wirtschaftliche Koordination zwischen Betrieben und Arbeitenden ist erforderlich. Die „Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft“ (2018, 14) meinen: „So wie sich Menschen heute auf elektronischem Wege zu ‚Events? verabreden, könnten beispielsweise Landkommunen bekanntgeben, wann Erntehilfe willkommen wäre, und jeder könnte verfolgen, ob er noch gebraucht wird oder nicht“. Ein Vordenker des „Commonismus“ schreibt: „Eine von jemand begonnene Arbeit hinterlässt Zeichen (gr. Stigmata), die andere dazu anregen, sie fortzusetzen. Ein wichtiger Teil der Kommunikation besteht darin, anderen solche Zeichen zu hinterlassen, etwa durch To-Do-Listen und Bug-Reports in Softwareprojekten und durch ‚rote Links’ (auf fehlende Artikel) in der Wikipedia“ (Siefke 2009, 254).
Bei Wikipedia arbeiten Personen punktuell und sporadisch an einzelnen Artikeln mit und gehen dann wieder ihrer Wege. Wird ein Artikel nicht geschrieben, hat das wenig Auswirkungen. Hoch flexible Kontakte bei loser und spontaner Verknüpfung bilden kein Modell, das sich auf die Prozesse in der industriellen Produktion, in der Energieversorgung oder in Infrastruktureinrichtungen übertragen lässt. Hier sind die verschiedenen Arbeiten eng miteinander gekoppelt. Viele Prozesse benötigen eine bestimmte Vorlaufszeit und Planung. Anders als bei Wikipedia existiert in der Wirtschaft einer Gesellschaft ein starker Abstimmungsbedarf. Ist die Koordination nicht gewährleistet, wird die Versorgung unsicher. Es fehlt dann an Produkten sowie Dienstleistungen, und die Arbeitskräfte sind nicht dort, wo sie benötigt werden. Analoges gilt für die Idee eines „Aufgabenversteigerungssystems“ (Habermann 2011).
Die Entscheidungen in einer nachkapitalistischen Volkswirtschaft haben „Voraussetzungen im Bildungsbereich, im Bausektor, in der medizinischen Forschung, in der Rohstoffgewinnung – und auch überall da, wo bestimmte Ressourcen aufgrund der Entscheidung nicht (mehr) einsetzbar waren. Der Zusammenhang von Ziel und Voraussetzung ist in der Realität zu vermittelt, als dass die Bedürftigen und diejenigen, die Abhilfe schaffen können, über To-do-Listen miteinander kommunizieren könnten. Ein Baukollektiv kann selbst weder beurteilen, ob es genug Ärzte gibt, noch, ob es eher an Krankenhäusern oder eher an Arzneifabriken mangelt. Letzteres ist aber ein Problem, wenn beide Anforderungen gleichzeitig auf To-do-Listen im Netz stehen. Die Informationen liegen lokal nicht vor beziehungsweise müssen von Spezialisten interpretiert und priorisiert werden. Und das ist kein politisch neutraler ‚technischer? Prozess, sondern ein Vorgang, der Macht generiert, Macht, mit der in der befreiten Gesellschaft bewusst umgegangen werden müsste“ (Mats 2017).
Knappheit: Für Anhänger des „Commonismus“ kein Problem
„Wenn das Herz nur warm ist und schlägt,
wie es schlagen soll, dann friert man nicht“ (Pippi Langstrumpf).
Ein Grund dafür, die Frage nach der Proportionierung und Regulierung der wirtschaftlichen Aktivitäten in einem Land (oder in einer Allianz mehrerer Länder) gar nicht erst zu stellen, besteht in Annahmen über die Knappheit. Sie kommt bei vielen „Commonisten“ nur als „künstliche Knappheit“ vor, die verursacht oder begünstigt werde durch Marktpreise. „Da der Markt über einen Preis funktioniert und damit nur, wenn nicht alle, die im Grunde das Produkt gerne hätten, es auch bekommen, gilt das Prinzip künstlicher Knappheit für alle Güter“ (Habermann 2022). (Meines Erachtens ergibt dieser Satz nur Sinn, wenn nach „damit“ die beiden folgenden Worte fortfallen.)
Bei Habermann (2011) heißt es: „‚Wie aber kann eine komplexe Gesellschaft entlang des Prinzips des bedingungslosen Gebens funktionieren?‘, fragt Veronika Bennholdt-Thomsen und antwortet selbst: ‚Sicher ist, dass Gesellschaft jahrtausendelang nach diesem Prinzip funktioniert hat.‘ Bereits in der Struktur des Tausches stecke im Keim die Angst vor der Knappheit, die schließlich zum Ausgangspunkt der modernen Ökonomie geworden ist. Der Tausch werde stets von der Beunruhigung begleitet: ‚Bekomme ich auch genug zurück?‘. Gesellschaften hingegen, deren materielle Kommunikation dem Prinzip des Gebens folge, gingen von der Fülle aus. Die Gaben stünden allen gleichermaßen zur Verfügung“
Es handelt sich um eine alte Wunschvorstellung. Ihr zufolge verschwinden in einer Überflussgesellschaft alle Gegensätze zwischen verschiedenen Interessen und wirtschaftlichen Zwecken. Dann falle die Situation weg, in der die Verwendung von Ressourcen für einen Zweck in Konflikt steht zur Verwendung für andere Zwecke. Frühere Kommunisten haben diese „Fülle“ für eine spätere kommunistische Gesellschaft vorgesehen. Bennholdt-Thomsen meint, die Marktwirtschaft habe die gute alte Zeit des „bedingungsloses Gebend“ beendet, in der „die Gaben allen gleichermaßen zur Verfügung standen.“
Leider besteht eine so beschaffene Vergangenheit nur in der Phantasie dieser „Commonisten“. Ihre Rede von der „Fülle“ steht auch in einem seltsamen Kontrast zu den Anforderungen, die diejenigen „Commonisten“ anerkennen, welche auch aus ökologischen Motiven für eine radikale Beschränkung wirtschaftlicher Aktivitäten eintreten und z. B. Niko Paechs Vorstellungen unterstützen (Habermann 2019). (Paechs Maxime „All (!) you need is less“ wirkt angesichts der gegenwärtigen massiven Unterfinanzierung vieler notwendiger Arbeiten und Tätigkeiten recht kurzschlüssig.)
Schluss
„Ich mach mir die Welt, so wie sie mir gefällt“ kann zwar manchmal erfrischend klingen. Autosuggestion nützt aber nicht wirklich bei der notwendigen Suche nach Konzepten für eine gesellschaftliche Alternative zur kapitalistischen Ökonomie. (Vgl. zu ihnen auch www.meinhard-creydt.de) Die skizzierten Ideen von Anhängern des „Commonismus“ erweisen sich als der Komplexität einer anstrebenswerten nachkapitalistischen Gesellschaft nicht gewachsen. Zum Teil richten sie sich in einem pseudoradikalen Paralleluniversum ein neben jeder gesellschaftlichen Realität. Es wäre schön, wenn die negativen Effekte der Marktwirtschaft und des Geldes – oder gleich sie selbst – in einer ganz anderen Gesellschaftsform so einfach und ohne problematische Folgewirkungen fortfallen könnten, wie sich die genannten Autoren das vorstellen. Sie suggerieren sich und anderen die Leichtigkeit einer tauschlogik- und geldfreien Wirtschaft. Sie verschaffen sich die wünschenswerte Distanz zur Übermacht des sog. „Realismus“, der nichts anderes kennt als die Markt- und Geldwirtschaft, leider nur um den Preis des Realitätsverlustes.
Literatur:
Breitenbach, Hans; Burden, Tom; Coates, David 1990: Features of a Viable Socialism. New York
Dullien, Sebastian 2024: Gerechtes Wachstum. In: Das Parlament, Nr. 1-3, 2024, 30.12.2023, S. 2
Federici, Silvia 2017: Caliban und die Hexe. Wien
Fischbach, Rainer Fischbach 2016: Mensch Natur Stoffwechsel. Köln
Fischbach, Rainer 2017: Gegen eine Politik des Wünsch-Dir-was: Die Linken sollten nicht alle denkbaren utopischen Erwartungen auf eine imaginäre „Digitalisierung“ projizieren. Neues Dtschld, 12.8.2017
Freimann, Jürgen 1984: Überwindung der Geldökonomie – Ansätze einer qualitativen Bewertung betriebswirtschaftlicher Strukturen und Prozesse. Kassel
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft 2018: Umrisse der Weltcommune
Habermann, Friederike 2011: Gutes Leben mit Ecommony. In: Streifzüge, Nr. 51. Wien
Habermann, Friederike 2016: Ecommony: UmCARE zum Miteinander. Sulzbach
Habermann, Friederike 2019: Das „gute Leben für alle“ muss tauschlogikfrei sein. In: https://greennetproject.org
Habermann, Friederike 2022: Das Märchen vom Tausch. In: Streifzüge, Nr. 84. Wien
Habermann, Friederike 2024: Aus Commons wurde Eigentum. In https://keimform.de
Lindblom, Charles E. 1983: Jenseits von Markt und Staat. Frankfurt M.
Mats, Rüdiger 2017: Termiten aller Länder, vereinigt euch! In: Konkret 1/2017
NN 2010: Was war die Allmende? In: Wildcat, Nr. 88
Pezzel, Kristina 2020: Risse in der Kette. In: Das Parlament, Nr. 30-32, S. 5
Siefke, Christian 2009: Ist Commonismus Kommunismus? In: Prokla, Nr. 155. Münster
Sohn-Rethel, Alfred 1973: Geistige und körperliche Arbeit. 2. Aufl. Frankfurt M.
Weisskopf, Thomas E. 1992: Towards a Socialism for the Future. In: Review of Radical Political Economics. Vol. 24, No. 3/4
Willke, Helmut 1982: Systemtheorie. Stuttgart