Antwort auf Winfried Wolf
Winfried Wolf war Bundestagsabgeordneter der PDS und ist u. a. Verkehrsexperte. Seine Positionen zur Autokultur sind ein gutes Beispiel für die inhaltlichen Grenzen des linksreformistischen Milieus. Seine Antwort auf meinen Artikel weist ein in der Linken leider nicht seltenes Niveau und Vorgehen (u. a.: „Wer zuerst Faschist sagt, hat gewonnen“) auf.
Meinhard Creydt
Replik zum Artikel „Faszination Auto ?“ von Winfried Wolf in der Sozialistischen Zeitung 7-8/2009, S. 23
(erschien in Soz 9/2009)
W. Wolf treibt in seiner Antwort auf meinen Artikel „Keine Verkehrswende ohne Kritik der Autokultur“ einigen Aufwand, um die Bedeutung der Autokultur kleinzureden. W. meint, der Stau entziehe der Freude am Autofahren die Grundlage. Dabei sind über die Hälfte der Autofahrten freizeit- und urlaubsbezogen. Durch größere zeitliche Flexibilität lassen sich Staus hier anders umgehen als im Berufsverkehr. Die Frauen stilisiert W. als an der Autokultur unbeteiligt und reduziert diese auf eine Männersache. Verstiegenerweise meint W. die Freude am Autofahren auf ihren vermeintlichen „Ursprung“ in faschistischen Ideologemen zurückführen und meine Aussagen mit Zitaten von Faschisten vergleichen zu müssen. W. spielt die Arbeitsmarktrelevanz des Autoverkehrs herunter und vergisst u. a. die 2004 gemeldeten 665.900 Beschäftigten im Kfz-Handel, in der Kfz-Reparatur, in Tankstellen. Ökonomisch abenteuerlich vergleicht W. die mehrwertproduktive Autoindustrie mit der von ihm unzutreffenderweise als ebenso „systemrelevant“ eingestuften Lehrerschaft. Und versteht „Bürger“ als „Einwohner“. Wer über die Zahl der Opfer des Autoverkehrs schweige, dürfe W. zufolge von Autokultur nicht sprechen. Dabei hat die Kenntnis der negativen Folgen auch wahre Raucher nicht von ihrem Laster abgehalten. Um die Freude am Autofahren ging es mir und um Sinne und Tätigkeiten, die sich als selbstbezogene Funktionslust am Fahrgeschick und Fahrgefühl bilden. Die Autokultur bildet eine Teilmenge einer Kultur verselbständigter Sinne und Fähigkeiten (vgl. dazu meine ‚Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit’, S. 328-367). Ein großer Teil des Warenangebots liefert Gebrauchswerte, an denen sich solche Sinne entfalten können. Der Gebrauchswert von W.s Artikel erschöpft sich in Stimmungsmache und Sperrfeuer gegen das Thema Autokultur. Umstritten auch der Umgang der Redaktion mit meinem Artikel: Unabgesprochene Kürzungen ohne Auslassungszeichen. Ein Zitat von Straus wird dann Appleyard zugeschrieben. Mein Buch hat allein im o. a. Kapitel und nicht insgesamt „die Problematik der postmoderner Kultur“ zum Thema. Der ungekürzte Text zur Autokultur findet sich in www.meinhard-creydt.de. Dort auch eine ausführliche Kritik des Vulgärfeminismus, den W. teilt: „Männlicher Machbarkeits- und Beherrschungs w a h n“ – ein Klischee als vermeintliche Ursache eines anderen Klischees („Auto w a h n“). Mit diesem Wort sagt W., dass es für ihn hier nichts zu begreifen gibt. Wird als Wahn doch eine nicht nachvollziehbare irrige Vorstellung verstanden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Winfried Wolf: Faszination Auto ? Eine Erwiderung
Der Beitrag von Meinhard Creydt macht zunächst den Eingangsfehler, dass
er die Behauptungen der Auto- und Flugzeugbau-Lobbys kaum hinterfragend
referiert.
Die gesamte Autoindustrie hat aktuell 780.000 Arbeitsplätze - keinewegs,
wie M.C. behauptet, ohne Zulieferer, sondern EINSCHLIESSLICH der
GESAMTEN Auto-Zulieferer. Das sind die Angaben des VDA - des Verbands
der Autoindustrie. Im eigentlichen Fahrzeugbau (Autoindustrie im engeren
Sinn) arbeiten weniger als die Hälfte.
Es gibt Sektoren, die deutlich mehr „syremrelevant“ sind, die aber kaum
je angeführt werden. Zum Vergleich: Im Maschinenbau arbeiten mehr als
eine Million Menschen - ein Drittel mehr als min der Autobranche. Im
deutschen Gaststättengewerbe und in der Hotellerie sind mehr Menschen
beschäftigt als in der Autoindustrie plus den Autozulieferern.
Oder - wohl auch „systemrelevant“, aber in diesem Zusammenhang ebenfalls
nie erwähnt: Es gibt 1,2 Millionen Lehrerinnen und Lehrer, 80 % mehr als
in der Autobranche im weiten Sinn. Würde man nur finnische Zustände an
unseren Schulen und in unseren Kindergärten herstellen (knapp 20
Schülerinnen und Schüler je Lehrkraft bzw. 10 Kinder auf eine
Erzieherin), so wäre allein das PLUS an erforderlichen Beschäftigten
größer als die Zahl aller in der gesamten Autouindustrie Beschäftigten.
M.C. ahnt, dass es sich bei der Behauptung, wonach „jeder siebte
Arbeitsplatz von der Autoindustrie abhänge“, um „eine Übertreibung“
handeln könnte. Das ist jedoch noch eine Untertreibung. Die Zahl ist
eine bewusste FÄLSCHUNG. Die Behauptung beruht, so die Financial Times
Deutschland (20.5.2009) „auf einem simplen Rechentrick des Verbandes der
Autouindustrie (VDA). Der VDA geht davon aus, dass ohne Autoindustrie
… niemand mehr Auto fahren würde, weder deutsche Wagen noch
ausländische Wagen. Damit würden alle Jobs wegfallen, die irgendwie
durch das Auto bedingt sind … Nach Berechnungen des
Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) hängt
dagegen nur jeder 20. Arbeitsplatz von der Autonachfrage ab…“
Auf die psychologischen und massenpsychologischen Aspekte des
Autofahrens ging ich in Veröffentlichungen ausführlich ein (siehe
„Eisenbahn und Autowahn“, 1992, S. 211ff) und Verkehr. Umwelt. Klima -
Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009, S. 305-357). Es war nicht
Aufgabe, darauf in einem gerafften Text für ein europäisches
Schieneninfrastrukturprogramm ausführlicher einzugehen. Natürlich
spielen diese Aspekte eine erhebliche Rolle. Völlig einverstanden bin
ich damit, dass die „in der Autokultur zur Geltung kommenden …
Leidenschaften vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere Menschen …
Gekennzeichnet“ sind.
Man sollte aber auch zur Kenntnis nehmen, dass diese Kultur sich fast
auf ein Geschlecht konzentiert. Diese „Leidenschaften“ haben vor allem
viel mit dem männlichen Machbarkeits- und Beherrschungswahn zu tun,
weswegen es in den genannten zwei Büchern je ein Kapital zu „Patriarchat
und Autogesellschaft“ gibt. Die vielen Zitate, die M.C. über „den Genuss
von Geschwindigkeit“, die „Freude am kraftvollen Motorengeräusch“
anführt, sind eigentlich (fast) nur im Zusammenhang mit einem solchen,
männlich-dominanten Denken vorstellbar (Ich gestehe jedoch, dass ich im
ZDF-Streitgespräch, „Nachtstudio“, vom 22.4.2009, Frau Jutta
Kleinschmidt, als Diskussionspartnerin hatte, die ähnlich argumentierte.
Allerdings handelt es sich da um eine Rallye-Fahrerin, die auch
ansonsten die Probleme der „postmodernen sehr gut verdienenden
Männerwelt“ teilt, nämlich ein Pendel-Leben zwischen Monte Carlo,
California und Bayern führen muss.)
Bei manchen Passagen zur „Freude am Gleiten“ schlage ich vor, sich mal
anstelle des Autofahrens das Fahrradfahren vorzustellen. Es passt oft
weit besser. Vor allem handelt es sich um eine weit freiere, weniger mit
Zwängen verbundene Bewegungsform, die man auch aufrecht, anstelle in
gekrümmter, im Sportwagen gar in embryonaler Haltung absolviert.
Fast alle Zitate, die derart unbeleckt über das Autofahren
schwadronieren, stammen aus der Zeit des unhinterfragten Autowahns
(Braudrillard = 1987; Hornickel = 1968; Klebelsberg = 1982; Straus =
1956). Sie haben ihren Ursprung in Sätzen wie dem folgenden: „Wir
erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit
bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen
Karrosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem
gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen
scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.“ Das Futuristische
Manifest, aus dem die Sätze stammen, konnte vom italienischen Faschismus
nicht nur vereinnahmt werden; ihr führender Kopf, Filippo Tommaso
Marinetti arbeitete ab 1924 als Kulturminister im faschistischen
Kabinett - und blieb Mussolini bis 1944 treu.
M.C. schreibt: „Das Auto verdankt seine positive Besetzung der durch es
möglichen Kontrolle in einer unkontrollierten Umwelt. Die Benutzer
öffentlicher Verkehrsmittel befinden sich gegenwärtig oft in einer
ähnlichen Lage wie Versuchstiere, an denen man das Konzept der gelernten
Hilflosigkeit´ ausprobiert.“
Das liest sich wie:
„Mit der Eisenbahn, so sagte der Führer, habe die individuelle Freiheit
des Verkehrs aufgehört. (…) Im Kraftwagen habe der Mensch dann
Verkehrsinstrumente erhalten, die wieder dienende Mittel zum Zweck
wurden. Nicht der Fahrpkan vergewaltige seine Entschlüsse, sondern sein
Wille bediene sich des ihm ununterbrochen gehorchenden
Verkehrsinstruments.“ (Wilfried Bade, hochrangiger Mitarbeiter in
Goebbels Reichspropagandaministerium).
Darüber hinaus stimmen die Aussagen doch objektiv nicht. Die
Durchschnittsgeshwindigkeit der Pkw-Fahrten in heutigen BRD-Großstädten
liegt bei 28 bis 32 km/h. In der Stadt mit der höchsten Pkw-Dichte, Los
Angeles, bei rund 25 km/h. Das entspricht der Geschwindigkeit eines
sportlichen Radfahrers. Dort wo es ausgebaute, gut funktionierende
moderne Eisenbahnen gibt, sind die Entfernungn zwischen den großen
städtischen Zentren per Shinkasen oder ICE oder TGV weit schneller,
bequemer, selbstbestimmter zurück zulegen als in einem Pkw mit Stop & go
usw.
Im übrigen müssen die Verallgemeinerungen der angeblichen Vorzüge des
Autos doch mit den konkreten Daten korreliert werden: In Berlin hat die
Mehrheit der Haushalte kein Auto. Dieser Anteil WUCHS in den letzten
Jahren. Warum bloss? Haben die Leute die Vorzüge des „freien Gleitens“
noch nicht erfahren? Generell gilt: Je besser die öffentlichen
Verkehrsmittel sind, desto niedriger ist die Pkw-Dichte. Da entscheiden
sich die Menschen doch sehr handfest. Es gilt oft sogar die Relation: Je
niedriger das durchschnittliche Einkommen, desto höher die Pkw-Dichte.
In Kärnten, dem ärmsten österreichischen Bundesland, haben 75 % der
Haushalte einen Pkw; in Wien, dem zweitreichsten Bundesland, nur 45 %.
Was natürlich wieder & auch mit dem - fast fehlenden bzw. passabel guten
- ÖPNV zu tun hat.
M.C. schreibt über die „modernen Bürger“. Sehen wir uns die weltweite
Situation an. Es gibt aktuell weltweit rund 600 Millionen Pkw. Fast 500
Millionen konzentrieren sich auf Nordamerika, Japan, Australien und
Europa. Oder auf 20 % der Menschen. Oder auch: In den vier deutschen
Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, NRW und Sachsen gibt es Pkw als
in ganz Indien und ganz China. Es wird eine Weile dauern, bis auch nur
die Hälfte dieser modernen Weltenbürger die die „zentralen,
ideologischen, psychischen und kulturellen Momente, die das Auto zu dem
machen, was es heute ist“ (M.C.) erfahren.
Bis dahin allerdings sind die Städte endgültig zubetoniert, ist das
Klima unwiderbringlich ruiniert.
Und was immer wieder vergessen und verschwiegen wird: Die so blumig
beschriebenen mit dem Pkw verbundenen Freiheiten sind mit einer
unendlich großen Unfreiheit für Millionen Menschen verbunden. Es ist
allein diese SPEZIFISCHE Form der Mobilität, die Pkw-Mobilität, die
aktuell jährlich eine Million Tote und mehr als zwanzig Millionen
Schwerverletzte fordert.
In der hochmotorisierten und „zivilisierten“ EU (EU-27) - mit relativ
niedrigen Straßenverkehrsopfern! - werden allein in einem Jahrzehnt mehr
als 400.000 Menschen im Straßenverkehr getötet und mehr als sechs
Millionen Menschen im Straßenverkehr schwer verletzt.
Die unterschiedliche Verkehrsleistung berücksichtigt müssten im gleichen
Jahrzehnt im EU-Eisenbahnverkehr 60.000 Menschen getötet werden (real
sind es weniger als 3000).
Wenn schon die hehren Gefühle des Autofahrens derart ausführlich
beschrieben werden, dann müssen doch die ebenso realen Gefühle des
Schmerzes und des Leids dieser Hunderttausenden Menschen ebenfalls
gewürdigt werden.
Anderenfalls bleibt eine solche Darstellung, was sie ist: ideologisch.
Winfried Wolf