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(in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 139, Sept. 2024, S. 143-153)

Ehe wir „über die beste Staatsverfassung“ eine Untersuchung anstellen,
ist „zunächst genau zu bestimmen, welches Leben das wählenswerteste ist.
Ist dies nämlich unklar, muss auch die beste Staatsverfassung unklar sein“ (Aristoteles: Politik, 1223a14).

Viele wollen mit effizienteren Mitteln die heute vorherrschenden Zwecke effektiver umsetzen. Im Unterschied dazu transformiert eine radikale Gesellschaftsveränderung die normativen Maßstäbe sowie die Standards der Selbst- und Fremdanerkennung. Wir vergegenwärtigen zunächst Einstellungen, für die schon heute Teile der Bevölkerung Sympathie zeigen. Bereits vor dem Hintergrund dieser Wertungen erweisen sich viele gegenwärtige Bedürfnisse und Arbeitsplätze als problematisch. Diese Einstellungen lassen sich ausweiten und vertiefen in der Richtung einer nachbürgerlichen Lebensqualität sowie einer nachkapitalistischen Weise, zu leben, zu arbeiten und sich zu vergesellschaften.

Schädliche und problematische Produkte und Dienstleistungen
Der Anteil fragwürdiger Gebrauchswerte ist in der kapitalistischen Marktwirtschaft hoch (vgl. Creydt 2021). Bspw. produziert die Lebensmittelindustrie – z. T. in steigendem Ausmaß (vgl. Maurin 2024) – Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzanteil. Sie tragen zu Übergewicht und Krankheiten bei. Firmen verdienen in großem Stil am eingebauten Verschleiß. „Müssten die Verbraucher nicht ständig neue Produkte kaufen, weil die alten zu früh kaputtgehen, blieben ihnen im Jahr 100 Milliarden € übrig“ (Süddeutsche.de, 20.3.2013). Vgl. Kreiß 2014.

Vorzuziehen ist eine Gesellschaft mit sinnvollen Produkten und Dienstleistungen. Was wir als „sinnvoll“ erachten, entwickeln wir in diesem Text. Nicht nur die Umweltverschmutzung bildet ein zentrales Problem, auch die Schädigung durch Verkäufermentalität, Marketingorientierung und marktwirtschaftlichen Zynismus.

Das Partikulare und das Umfassende
Der „Fachidiot“ genießt gemeinhin weniger öffentliche Wertschätzung als jemand, der ein Problem aus mehr Perspektiven wahrzunehmen weiß. Massive Vorbehalte gibt es zu Recht gegen Vorteilsnahme zu Lasten anderer. Dieser engen Perspektive entspricht z. B. die Frage „Welche Art von Schule wünsche ich für meine Kinder?“ Zur demgegenüber vorzugswürdigen weiträumigeren Perspektive passt die Frage „Was ist ein gutes öffentliches Bildungssystem für unsere Kinder?“ (Barber 1994, 279). Die erste Frage „erlaubt Bürgern, Bildung für eine Sache persönlicher Vorlieben zu halten und ermutigt sie, die Generationsbande zwischen ihnen und ihren Kindern von den […] Bindungen zu trennen, die sie (und ihre Kinder) mit anderen Eltern und Kindern verbinden“ (Ebd.). Gegenüber der Frage „Wie setze ich meine Interessen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse am besten durch?“ ziehen wir die Frage vor „Welche Gesellschaft ist für alle am besten?“

Problematische Gegensätze und Widersprüche
Wir ziehen eine Gesellschaft vor, in der die Arbeitenden nicht in entgegengesetzte Handlungsanforderungen eingespannt werden. Widersprüche bestehen in der kapitalistischen Ökonomie zwischen der Erhaltung der Arbeitskraft und ihrer Überanstrengung aus Ursachen der Konkurrenz und Profitproduktion, zwischen dem individuellen Einzelinteresse in der Konkurrenz und der notwendigen Kooperation, zwischen den Interessen am „Erfolg“ und der Aufmerksamkeit für die mit ihm häufig verbundenen charakterlichen Deformationen.

Problematisch ist eine Ökonomie, in der das Bedürfnis des anderen nur Mittel oder Anlass dafür ist, ein Geschäft aufzuziehen. Um die Entwicklung eines sinnvollen Reichtums geht es den Marktteilnehmern nicht oder nur sekundär, sondern um ihren privaten, d. h. andere ausschließenden finanziellen Nutzen. Wir streben eine Ökonomie an, in der die Arbeitenden daran interessiert sind, dass ihre Produkte und Dienstleistungen zur positiven Entwicklung der Sinne und Fähigkeiten der Empfänger bzw. Kunden beitragen. Wir lehnen eine Gesellschaftsform ab, in der die Menschen so beansprucht werden, dass ihre Energie und Fähigkeiten für Care-Tätigkeiten darunter leiden.

Kompensation und problematischer „Reichtum“
Vorzugswürdig ist es, Probleme direkt anzugehen und nicht Angebote nachzufragen, die unter Fortbestand der Problemursachen und des jeweiligen Problems Kompensation versprechen. Viele Firmen leben vom Desinteresse an vorsorglicher Problemvermeidung und von der Problemvermarktung. Die kapitalistische Wirtschaft bringt häufig eine schlechte Lebensqualität im Arbeiten und in den Sozialbeziehungen hervor und möchte sie mit einem Überreichtum an Waren und Dienstleistungen vergessen machen. Nicht nur an Kindern zeigt sich die Koexistenz von Vernachlässigung und Verwöhnung.

Von „Überkonsum“ reden wir umfassender als Ökologen, die mit ihm „die Menge an Gütern“ bezeichnen, „die wir nicht kaufen würden bzw. könnten, wenn sie nicht durch Externalisierung verbilligt wären“ – z. B. auf Kosten der Umwelt (Dahm, Scherhorn 2008, 194). Wir beziehen die „Kostenehrlichkeit“ auf die indirekten Kosten des Konsums. Sie entstehen, insofern er zusätzliche menschlich unattraktive Arbeit erfordert. Zudem absorbiert er die Aufmerksamkeit durch eine Unmenge von Unterschieden (z.B. infolge von Produktdiversifizierung), die in puncto wohlverstandener Lebensqualität keinen wirklichen Unterschied machen.

Proportioniertheit
In der gegenwärtigen Gesellschaft können die Individuen häufig ihre Fähigkeiten nur sehr einseitig bzw. auf Kosten anderer Fähigkeiten oder der ganzen Person entwickeln. Gute Lebensqualität verträgt sich nicht mit einer solchen Zusammensetzung der verschiedenen Anteile der Person, in der manche übermäßig gesteigert werden und andere verkümmern. Häufig koexistieren äußere „Erfolge” und innere Armut.

Menschen bewegen sich in verschiedenen Dimensionen: Höhe und Weite, Raum und Zeit, Aktivität und Passivität sowie eigenständiges Sich-etwas-erarbeiten und Lernen von anderen. Kommt es zum Missverhältnis zwischen diesen Dimensionen, so folgt daraus nicht allein das Übermaß der einen Dimension gegenüber der anderen. Wer sich „versteigt“, orientiert sich allein an der Höhe und vernachlässigt die Weite seiner Existenz. Die Verstiegenheit führt nicht zu einer hohen Qualität, sondern zum Gegenteil. Den inneren Zusammenhang der verschiedenen Momente bekommt erst in den Blick, wer versteht, wie sie günstigenfalls einander stärken, ungünstigenfalls aber das eine Moment das andere schwächt.

Nach den Ursachen und Gründen des als unmittelbar Erscheinenden fragen
Die utilitaristische Maxime lautet: „Wofür Käufer etwas bezahlen, das ist bereits deshalb legitim.“ Am Absatz lässt sich aber kaum der Wert des Produkts oder der Dienstleistung für die Entwicklung menschlicher Vermögen ablesen. Bedürfnisse nach Drogen, Pornographie und käuflichem Sex machen diese Angebote nicht schon dann anerkennenswert, wenn die Kunden mit ihnen zufrieden sind. Die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs resultiert aus dem Abbau der Bahnverbindungen seit dem 2. Weltkrieg, aus dem massiven Angebot an Autos sowie aus der Autokultur. (Zu ihr vgl. Creydt 2017, 98-101.) Wer in der Autoindustrie arbeitet, schafft ein Produkt, das technisch hoch anspruchsvoll ist, aber in seiner Verallgemeinerung sich sozial als höchst problematisch erweist. Es trägt bei zur „autogerechten Stadt“, zur Gefährlichkeit des Straßenverkehrs und zur Gewöhnung daran, dass jeder Autofahrer alle anderen Verkehrsteilnehmer als lästige Hindernisse seiner „freien Fahrt“ wahrnimmt.

Die Aufmerksamkeit für Institutionen und Strukturen im Unterschied zur Personalisierung und Moralisierung
Eine weit verbreitete moralisierende Interpretation sieht den Grund für problematische Verhaltensweisen in der mangelnden Orientierung an moralischen Prinzipien bzw. Werten. Wir ziehen es vor, die „personalisierende Sichtweise“ zu verlassen, also die „Tendenz, die Menschen unmittelbar für ihr Verhalten verantwortlich zu machen bzw. die Schuld an den miesen Beziehungen sich gegenseitig in die Schuhe zu schieben“ (Holzkamp-Osterkamp 1984, 51). Stattdessen gilt es „der Frage nachzugehen, unter welchen Bedingungen man es sich leisten kann, Rücksicht auf andere zu nehmen, sich auf deren Situation einzulassen, ohne fürchten zu müssen, von diesen ausgenutzt und mit Haut und Haaren verschlungen zu werden“ (Ebd.). Es handelt sich dann darum, welche gesellschaftlichen Strukturen es begünstigen und nahelegen, sich Vorteile auf Kosten anderer zu verschaffen bzw. andere auszunutzen. Und es geht darum, wie sich diese Strukturen umbauen lassen. Die Aufmerksamkeit für Institutionen und Strukturen löst die Fixierung auf die individuelle Zuschreibung von Verantwortung und die Moralisierung ab.

Die Grenzen der Verantwortung des vereinzelten Einzelnen sind eng. „Man wird keinen einzelnen Akteur dafür verantwortlich machen können, dass er ein genuin kollektives oder systemisches Problem nicht gelöst hat“ (Bühl 1998, 25). Im Unterschied zu einem auf das einzelne Individuum zentrierten Verantwortungsbegriff und gegenüber einem unfassbaren, weil in die Abstraktion ‚Mensch’ oder ‚Menschheit’ aufgelösten und damit zu nichts verpflichtenden Handlungssubjekt machen wir die Gesellschaftsstrukturen zum Thema. „Systemverantwortung“ „zwingt unausweichlich dazu, die Architektonik des Systems, seine Programmierung und seine Entwicklungstendenzen zu ermitteln“ (Ebd., 27f.). Es „verschiebt sich das Verantwortungsproblem zunehmend von der unmittelbaren Handlungsverantwortung zur vorgelagerten Designverantwortung“ (Ebd., 29).

Unter Voraussetzung ihrer Vereinzelung liegen den Individuen nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten nahe. Freunde der Gesellschaft des guten Lebens befürworten solche gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen, die es den Individuen ermöglichen, die eingeschränkte Handlungsfähigkeit zu überwinden. Sie besteht in der Enge ihres Horizontes, in der Präferenz für den Weg des geringsten Widerstands und in der Vorteilsnahme zulasten anderer. „Nur wenn hinreichend abgesichert ist, dass ein neuer Weg nicht nur erfolgversprechend, sondern auch einigermaßen sicher ist, wird er von den vorsichtigen Normalmenschen beschritten. […] Durchgreifende gesellschaftliche Neuerungen müssen daher stets von nachhaltigem institutionellem Wandel begleitet, nein: durch ihn vorbereitet und abgesichert sein“ (Esser 2000, 17). Die Aufmerksamkeit für institutionelle Regelungen und für gesellschaftliche Strukturen tritt einer Orientierung entgegen, die dort auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ und „Eigenverantwortung“ setzt, wo diese den Individuen abverlangen, strukturelle Probleme durch individuelles Do-it-yourself zu verwinden.

Wir treten für gesellschaftliche Strukturen und Institutionen ein, die für einen Relevanzverlust der Konkurrenz und des Privateigentum sorgen, den Stellenwert von Märkten in der Ökonomie verringern und der Gesellschaft Souveränität über die Ökonomie ermöglichen.

Die Unterscheidung zwischen einer höheren und einer schlechteren Qualität menschlicher Fähigkeiten und Vermögen, Selbstreflexion und Subjektivität
Im Alltag bemerken wir häufig, dass eine Person „weit unter ihren Möglichkeiten bleibt“, dauerhaft „hinter sich zurückfällt“ oder „nicht mehr an ihre starke Zeit anzuknüpfen“ vermag. Viele fragen sich: „Ist das, was ich tagtäglich tue, wirklich ein Beitrag dazu, die beste Version meiner selbst zu werden?“ (Förster, Kreuz 2013, 185).

Vorzuziehen ist eine Gesellschaft, in der die Fehlentwicklung der Subjektivität nicht systematisch begünstigt wird. Dies geschieht durch gesellschaftliche Teufelskreise. Sie bestehen in der gegenseitigen Steigerung zwischen den beiden Polen eines Gegensatzes. Es handelt sich z. B. um

  • die Fokussierung auf das Privateigentum und den schlechten Zustand der Gemeingüter,
  • die Instrumentalisierung der anderen durch mich und das Instrumentalisiertwerden von mir durch die anderen,
  • die Schwächung bestimmter sozialer Motive, Fähigkeiten und Zusammenhänge durch Märkte und die Legitimation von Märkten mit dem Hinweis auf die Schwäche der Sozialität.

Diese Abwärtsspiralen sind Momente einer Wirtschaft, die die Produktivkräfte und die Gebrauchswerte in einer problematischen Weise oder auf einer schiefen Ebene entwickelt.

Einer Rangordnung zwischen höheren und niedrigeren Lebensinhalten stehen Vertreter der Marktwirtschaft ablehnend gegenüber. Sie immunisiert sich gegen alle Fragen nach der Lebensqualität. „An die Stelle von normativen Bewertungen des Verhältnisses von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlbefinden rückte das Sozialprodukt. Es wurde, imprägniert mit der Aura der Objektivität, zum Surrogat“ (Lange 2004, 330). Heute gilt deshalb dringender denn je: Wir müssen uns „befähigen, der Mode und dem Werbezauber eine autonome Einschätzung des Gebrauchswerts der Produkte entgegenzustellen […], dem neokapitalistischen Konsum- (und Produktions-)Modell eine eigene Rangordnung der Bedürfnisse entgegenzustellen“ (Gorz 1967, 95).

Wer eine Unterscheidung zwischen höheren und niedrigeren Stufen der Subjektivität ablehnt, tut dies oft aus Vorbehalten gegenüber dem Anspruch einer Elite, exklusiv über die Inhalte des Vorzugswürdigen bestimmen zu können. Aus der Zurückweisung dieses Anspruchs folgt aber nicht, dass es keine qualitativen und inhaltlichen Wertunterschiede gibt. Der „Aberglaube, wonach in Ermangelung jeder Möglichkeit vernünftiger Entscheidung unter Menschen zuletzt alles nur von Willkür abhängt“ oder von der Mehrheitsentscheidung (Nelson 1971, 555), verneint vernünftige Wertmaßstäbe. „Freie Kritik hat nur da Bedeutung, wo es erlaubt ist und einen Sinn hat, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden“ (Ebd., 522f.).

Konträr zu einem erziehungsdiktatorisch-paternalistischen Vorgehen steht die gemeinsame Verständigung und Beratung, Erwägung und Debatte über die Inhalte des guten Lebens. In diesen Prozessen werden die Menschen füreinander Mittler zwischen dem, was sie unmittelbar wollen, und dem, was sie als menschlich wesentlich erachten. Der Ausdruck „Mittler“ meint: Der Mensch braucht den anderen Menschen als ihm in seiner Entwicklung hilfreichen Mit- und Gegenspieler.

Das Grundgesetz erhebt die Würde der Person zum Höchstwert und versteht sie recht immateriell. Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zufolge gelten die lebenslange Haftstrafe und die geringen Sozialleistungen keineswegs als Verletzung der Menschenwürde. Im Unterschied dazu stellt die Entwicklung der Subjektivität und des Psychosozialprodukts in der Gesellschaft des guten Lebens eine Querschnittsaufgabe dar. Diese Entwicklung bildet das Leitkriterium bzw. das letztendliche Worumwillen aller Objekte und Praxen.

Im Konstrast zu frustrierenden Erfahrungen in Arbeit und Alltag profiliert sich diejenige überkompensatorische Erfahrungsverarbeitung, in der das Individuum sich in sich selbst eindreht und sich selbst zu einer Art Gesamtkunstwerk stilisiert. Ihre menschliche Vermögen gelten einer solchen ansprüchelnden Persönlichkeit als Ausweis ihrer Einzigartigkeit und als Mittel ihrer Distinktion. Uns geht es im Unterschied dazu um diejenige Bildung der menschlichen Vermögen, die sie zugleich im Individuum, zwischen den Individuen und in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sinnvoll aufeinander bezieht.

Was heißt „sinnvoll“? Zunächst halten wir uns an eine frei nach Wilhelm Busch formulierte Erkenntnis: „Sinn, und dieser Satz steht fest, ist der Unsinn, den man lässt.“ „Unsinn“ ist für uns dasjenige, von dem wir dargelegt haben, es sei zu überwinden. Im nun folgenden letzten Drittel dieses Textes kommen wir zum Anstrebenswerten bzw. „Positiven“.

Die zentralen Inhalte der Gesellschaft des guten Lebens
Dasjenige, mit dem sich das Individuum arbeitend bzw. tätig auseinandersetzt, wird für es gerade durch die Arbeit und Tätigkeit in einer Weise deutlich, die sich nicht ersetzen oder überspringen lässt. „Die Arbeit hilft wesentlich mit bei der Überwindung der Verschwommenheit und Flüchtigkeit des Beachtens. […] Wer aber etwas kennt, hat seine Kräfte an ihm erprobt“ und „mit seinen Fähigkeiten verbunden. Kennen und Können hängen eng zusammen. Zu allem Verstehen, überhaupt zu allem Auffassen […] ist einer um so begabter, je fähiger er in dem betreffenden Gegenstandsgebiet zum Gestalten ist (Krüger). Ich kenne ein Ding, wenn ich die Gesamtheit seiner Wirkungsmöglichkeiten auf mich und meiner Wirkungsmöglichkeiten auf es kenne“ (Conze 1932, § 314-320).

Die Tätigkeits-, Wahrnehmungs- und Reflexionsvermögen entwickeln sich in dem Maße, wie das Individuum sich im Arbeiten und in Tätigkeiten mit dem (weit verstandenen) Gegenstand auseinandersetzt. Erst in diesen Prozessen werden ihm seine Sinne, Fähigkeiten und sein Denken zum Thema. Der Abstand zu sich selbst bzw. die Dezentrierung bildet ein Moment ihrer Entwicklung. Wir schätzen das Sich-Einlassen auf das „Objekt“ sowie die tätige Auseinandersetzung mit dem „Gegen“ des Gegen-Standes.

Ein zentrales Moment der Gesellschaft des guten Lebens bildet erstens diejenige Organisation der Arbeit, die die Arbeit nicht länger allein als Mittel (zur Erstellung des Produkts bzw. zur Erbringung der Dienstleistung) nutzt und vernutzt, sondern als einen zentralen Bereich der Entwicklung menschlicher Vermögen gestaltet. D.h., an Arbeitenden „ihre baumeisterliche Kraft, ihr handwerkliches Können, ihre Schaffensfreude und ihren Gestaltungswillen und Verantwortungsgefühl“ wertzuschätzen und diese Praxen gesellschaftlich zu stärken (Hardensett 1932, 86f.).

Wir kommen nun zu einem zweiten Moment des guten Lebens. Zentrale „Gaben“ eines Individuums sind ihm nicht vorgegeben. Es entwickelt sie erst im intensiven Kontakt zu einer anderen Person, die ihm auf persönliche Weise begegnet. In diesem Sinne ist niemand selbstgenügsam oder entwickelt sich allein aus sich selbst heraus. Zwischenmenschliche Beziehungen versetzen die Individuen erst in die Lage, sich mit ihren Schwächen und „blinden Flecken“ konstruktiv auseinanderzusetzen. Beziehungen ermöglichen es dem Individuum, seine Egozentrik zu überwinden. Es lernt, sich in andere hineinzuversetzen, sich mit deren Augen wahrzunehmen und sich selbst über die Schulter zu schauen. Um sich entwickeln zu können bedürfen Individuen der Koevolution, also Mitspieler und Gegenüber, die bestimmte Sinne und Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissen entwickeln konnten. Das schließt auch die Bildung des Charakters ein. Zwischenmenschliche Beziehungen sind nur dann von hilfreicher Anteilnahme und an der Entwicklung des Gegenübers interessierter Auseinandersetzung erfüllt, wenn in ihnen nicht Konkurrenz, Angst und Neid sowie Distinktion dominieren. Abträglich wirkt sich auch diejenige Zirkularität zwischenmenschlicher Beziehungen aus, in der beide Beteiligten meinen, jeweils nur auf die andere Person zu „reagieren“, während sie in Wirklichkeit die eigene Problematik an der anderen Person abhandeln.

Bereits Claire Huchet-Bishop (1950, 13) charakterisiert die Gesellschaft des guten Lebens durch die „Verlagerung des Zentrums des Problems der menschlichen Existenz […] von der Herstellung und dem Erwerb von Dingen zur Entdeckung, Förderung und Entwicklung menschlicher Beziehungen,
von einer Zivilisation der Gegenstände zu einer Zivilisation der Personen – oder besser gesagt, zu einer Zivilisation der zwischenmenschlichen Beziehungen.“

Soziale Beziehungen Zum guten Leben gehört drittens, dass sich die Arbeitenden und Tätigen daran orientieren, mit den eigenen Produkten oder Dienstleistungen die Entwicklung der menschlichen Vermögen der Empfänger zu sichern und zu fördern. Das wohlverstandene tätige Interesse an der Entwicklung anderer kann unter Bedingungen von Privateigentum, Konkurrenz und Kapitalverwertung nicht oder nur sehr eingeschränkt und gebrochen zustande kommen.

Im Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten werden sich in der Gesellschaft des guten Lebens beide Seiten gegenseitig vergegenwärtigen,

  • welche ex- und impliziten Aufforderungs- und Ermöglichungsgehalte in bestimmten Produkten und Dienstleistungen stecken,
  • welche Arbeitsbelastungen die Konsumenten von den Produzenten für welche Produkte und Dienstleistungen verlangen können, und welche Bedürfnisse bedient werden sollen. Das schließt die Frage ein, ob diese Produkte bzw. Dienstleistungen solche Belastungen menschlich „wert“ sind,
  • in welchem Verhältnis das gute Leben in der Arbeit zur effizienten Erbringung von Produkten und Dienstleistungen stehen soll.

Das vierte Moment der Gesellschaft des guten Lebens besteht darin, sie so einzurichten, dass zentrale Strukturen z. B. der Ökonomie sich nicht gegen das Wohl der Bevölkerung verselbständigen. Solchen Teufelskreisen bzw. sich selbst reproduzierenden Eigendynamiken entspricht in der Bevölkerung das Bewusstsein, kaum Macht und Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft zu haben. Die Verselbständigung gesellschaftlicher Strukturen gegen die Bevölkerung abzuwenden, das sehen wir als ein maßgebendes Kriterium für die Einrichtung der Ökonomie an. Wir messen sie nicht allein an ihrem Output, sondern auch daran, inwieweit sie die demokratische Gestaltung zulässt (im Unterschied zu Merkels „marktkonformer Demokratie“).

Es wird Zeit, das Arbeiten und die Tätigkeiten als Praxen zu begreifen, die zentral dafür sind, ob und wie sich die menschlichen Kräfte und Sinne, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Reflexionsvermögen bilden. Analoges gilt für die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen sowie für die Gestaltung der Gesellschaft durch die Bevölkerung.

Diese Praxen haben insofern ihren Eigenwert, als in ihnen eine weit verstandene Reflexion oder Bildung stattfindet. Sie besteht darin, „sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend, und erst in dieser Form das Bewusstsein seiner selbst zu gewinnen“ (Simmel 12, 221). Die in den vier Momenten des guten Lebens stattfindende Bildung ist in der Reihe der Güter nicht das höchste Gut (summum bonum), sondern dasjenige, das die Unterscheidungs- bzw. Urteilskraft aufbaut und wach hält (bonum bonorum). Die der Bildung menschlicher Vermögen eigene Reflexion „trägt und erschüttert“ das „Gut-Sein“ der Güter (Tillich 1986, 130). Sie bildet im günstigen Falle ihr „immerlebendes Feuer“ (Heraklit).

Anders als bei der Bildung der menschlichen Vermögen geht der „Fortschritt“ der modernen Marktwirtschaft „ins Leere, ein Sättigungspunkt ist nicht vorgesehen. […] Die Frage, ob es zu etwas nütze ist oder nicht, wird mit dem Argument beiseite gewischt, dass ohnehin niemand weiß, was gut oder böse ist, nützlich oder schädlich, des Menschen würdig oder unwürdig“ (Schumacher 1980, 50). Erst im Horizont eines in sich differenzierten und integrierten Leitbild des guten Lebens, das die verschiedenen menschlichen Daseinsweisen umfasst, wird die Frage nach dem Grenznutzen oder dem Optimum der Aufwände für Produkte und Dienstleistungen bestimmbar.

Das gute Leben und das Reich der Notwendigkeiten
Für das beschriebene gute Leben bildet die kapitalistische Ökonomie das Haupthindernis. Aber selbst wenn sie überwunden worden wäre, hätten wir es mit einem anderen Problem zu tun: Diejenigen Produktionen, Diensten, Verwaltungen und Infrastrukturen, die für moderne Massengesellschaften notwendig sind, weisen (auch) Effekte auf, die dem guten Leben nicht gut tun. Bspw. gilt es Massen von Materien abzuarbeiten, denen allein mit hoher Spezialisierung, langen Handlungsketten und deren unübersichtlicher Vernetzung sowie mit administrativen Abstraktionen beizukommen ist. Die Bewältigung des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur, die effektive Zuteilung von Ressourcen auf die verschiedenen Zwecke und die Regulation der modernen Gesellschaft weisen eigene Probleme und Zugzwänge auf. (Zu den Unterschieden und Zusammenhängen zwischen kapitalistischen und modernen Strukturen vgl. Creydt 2014, 267-288, 304-318, Creydt 2016, 59-73.)

Wer sich an einer Gesellschaft des guten Lebens orientiert, sieht in dieser modernen gesellschaftlichen Zivilisation erstens notwendige materielle Bedingungen. Mangelt es an ihnen, so dominieren Sorge und Beschaffungsmentalität. Zweitens handelt es sich um wesentliche Bedingungen. Ein Beispiel: Technologische und naturwissenschaftliche Denkkompetenzen sind für das gute Leben relevant, bilden für sie eine mentale Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung. Drittens stellt die moderne gesellschaftliche Zivilisation die Gesellschaft des guten Lebens infrage, insofern sie das Gravitationszentrum der Aufmerksamkeit hin zu ökonomischen, technologischen und organisatorischen Rationalitäten verschiebt, also zu etwas für das gute Leben Notwendigem, aber von ihm Unterschiedenem. Viertens handelt es sich um einen wesentlichen Engpass. Bleibt die Durchdringung der Heteronomiesphären (des Reichs der Notwendigkeiten) mit gutem Leben quantitativ und qualitativ unterhalb einer bestimmten Schwelle, so überwiegt die Divergenz zum guten Leben.

Die äußeren Bedingungen eines anzustrebenden gesellschaftlichen Leitbilds können nicht maßgeblich werden für dessen Inhalt, lassen sich aber nicht übergehen. In der Gesellschaft des guten Lebens existieren verschiedene Ebenen. Die „höheren“ Strukturen, die zu den dominierenden Inhalte der Gesellschaft des guten Lebens passen, lassen sich auf der Ebene „niedriger“ Strukturen (den äußeren notwendigen Bedingungen) nicht begreifen. Wir haben es
zu tun mit Divergenzen zwischen dem guten Leben und denjenigen Heteronomien, die aus der modernen gesellschaftlichen Zivilisation bzw. aus dem Stoffwechsel mit der Natur herrühren.
Die Gesellschaft des guten Lebens kann diese Divergenzen verringern, aber nicht aufheben.

Erforderlich wird ein Vorgehen, das sich aus drei Momenten zusammensetzt. Die Priorität der vier Momente des guten Lebens und der ihnen eigenen Bildung gilt es erstens zu begreifen und wertzuschätzen. Erforderlich ist es zweitens, diejenigen Sphären einzuhegen und zu begrenzen („so viel wie nötig, so wenig wie möglich“), die solche notwendigen Voraussetzungen und Bedingungen der modernen Gesellschaft beinhalten, welche infolge ihrer Divergenz zu den vier Momenten des guten Lebens dessen Priorität und Dominanz infrage stellen. Ein Beispiel dafür bildet die Verhärtung und Vereinseitigung des Individuums in der Arbeit.

In der Gesellschaft des guten Lebens verändert sich die Beweislast. Nicht länger wird gefragt, wie weit die menschlichen Vermögen entwickelt werden können, ohne die wirklichen oder vermeintlichen Sachzwänge und die Maxime der Effizienz in der Produktion, Organisation und Zirkulation einzuschränken. Drittens ist gesellschaftlich daran zu arbeiten, so weit wie möglich, diese Heteronomiesphären (oder das „Reich der Notwendigkeiten“) mit dem guten Leben zu durchdringen.

Schluss
„Die bloße Abwesenheit der alten Armut“ ist nicht charakteristisch für den „neuen Reichtum“ der Gesellschaft des guten Lebens (Kühne 1885, 224). Dieses Gemeinwesen ist anstrebenswert, insofern es eine andere Lebensqualität als die der herrschenden Gesellschaft ermöglicht und nicht deshalb, weil es deren Inhalte effizienter realisiert oder deren Ideale verwirklicht.

PS: Warum wir uns nicht die Maßstäbe von bürgerlicher Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sowie der Menschenrechte zu eigen machen, haben wir an anderer Stelle ausgeführt.*) Zu den neuen Institutionen und gesellschaftlichen Formen, die zu den neuen Inhalten passen, vgl. Creydt 2022.

*) Vgl. vom Verfasser: „Ich bin so frei“ (Junge Welt 12.3. 2024),
„Der Wert der Menschenwürde und die ihr eigenen Grenzen“ (Junge Welt, 27.6. 2024),
„Die Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind“ (Telepolis, 15.12. 2023). Zu Grund- und Menschenrechten vgl.
„Demokratie als Form“, Teil 2. In: Streifzüge Nr. 42, 2008. Wien.
Alle Artikel finden sich auf www.meinhard-creydt.de

Literatur:
Barber, Benjamin 1994: Starke Demokratie – Über die Teilhabe am Politischen. Hamburg
Bühl, Walter L. 1998: Verantwortung für soziale Systeme. Stuttgart
Conze, Eberhard 1932: Der Satz vom Widerspruch. Hamburg (Reprint Frankfurt M. 1976)
Creydt,Meinhard 2014: Wie der Kapitalismus unnötig werden kann. Münster (2. Aufl. 2016)
Creydt, Meinhard 2016: 46 Fragen zur nachkapitalistischen Zukunft. Erfahrungen, Analysen, Vorschläge. Münster. (2. Aufl. 2021)
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Creydt, Meinhard 2021: Der Überfluss an problematischen Produkten und Dienstleistungen. In: Junge Welt 23.12.2021
Creydt, Meinhard 2022: Sieben konstruktive Fragen zur „Weltcommune“. In: https://communaut.org/de/sieben-konstruktive-fragen-zur-weltcommune
Dahm, Daniel; Scherhorn, Gerhard 2008: Urbane Subsistenz. Die zweite Quelle des Wohlstands. München
Esser, Hartmut 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 5: Institutionen. Frankfurt M.
Förster, Anja; Kreuz, Peter 2013: Hört auf zu arbeiten! Eine Anstiftung, das zu tun, was wirklich zählt. München
Gorz, André 1967: Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus. Frankfurt M.
Hardensett, Heinrich 1932: Der kapitalistische und der technische Mensch. München
Holzkamp-Osterkamp, Ute 1984: Marxismus – Feminismus – Arbeiterbewegung. In: Das Argument, Sonderbd. 106. Berlin
Huchet-Bishop, Claire 1950: All Things Common. New York
Kreiß, Christian 2014: Geplanter Verschleiß. Berlin
Kühne, Lothar 1985: Haus und Landschaft. Dresden
Maurin, Jost 2024: Studie von Lebensmittelforschern: Wurst fettiger als vor 7 Jahren. In: Taz, 19.6.2024. https://taz.de/Studie-von-Lebensmittelforschern/!6014745/
Nelson, Leonard 1971: Demokratie und Führerschaft (zuerst 1927). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 9. Hamburg
Schumacher, Ernst Friedrich 1980: Das Ende unserer Epoche. Reinbek bei Hamburg
Simmel: Georg Simmel Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt M.
Tillich, Paul 1986: Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925. Hg. von Werner Schüßler. Düsseldorf