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Literatur: Was versprechen sich Leser von der Lektüre fiktionaler Texte? – Ein Anstoß zur kritischen Ernüchterung

(Erschien in: der Freitag, Nr. 41, 17.10. 2024, S. 15)

Ist öffentlich von der Rezeption von Literatur die Rede, dann fast immer so: Unterstrichen wird ihre hohe Bedeutung für das kulturelle Niveau. Selten treffen wir auf eine umsichtige Analyse des Leserinteresses, die es grundlegend infrage stellt. Wer etwas über dergestalt radikale Literaturkritik erfahren will, sollte mit Christian Enzensbergers 1977 erschienenem Theorie-Buch Literatur und Interesse beginnen. Der Münchner Literaturprofessor (1931-2009) ist auch bekannt für seine Übersetzung von Alice im Wunderland (1963) und den Roman Was ist was? (1987).

Als idealen Leser können wir uns Enzensberger zufolge eine Person vorstellen, der die soziale Wirklichkeit als disparat, komplex sowie undurchschaubar erscheint, und die deshalb ein – nicht übermäßiges – Unbehagen empfindet. Im Kontrast hierzu schaffe der literarische Autor etwas, das in all seinen Teilen untereinander sowie auf sein Ganzes bedeutungshaft bezogen ist. Im Kunstwerk stehen alle Details in einem Verhältnis einsichtiger Notwendigkeit oder sinnvollen Zusammenspiels zueinander. Manchmal braucht das Publikum einige Zeit, um das herauszufinden. Die anspruchsvolle Lektüre sieht sich als gelungen an, wenn des Lesers Kennerblick zu folgendem Urteil gelangt: Alles im jeweiligen Werk „ist bezogen, alles bedeutet, alles heißt, alles ist interpretierbar“. Literatur stellt eine „Sinnmaschine“ dar, schrieb Enzensberger einmal in der Zeit: Literatur ordnet die dargestellten Elemente „zu eben jener Struktur an, die ich in meiner eigenen Existenz dauernd vermisse“.

Erschrecken und beruhigen

Bei der Lektüre kommt es also auf ein Resultat an, das der Philosoph und Mathematiker Bernhard Bolzano bereits 1845 in seinem Text Über den Begriff des Schönen beschrieben hat: „Am Ende, wenn wir noch einmal alles überblicken, sehen wir, wie jedes Wort dem Zwecke, welchen der Dichter bei seiner Arbeit gehabt, (…) entspreche. Dass wir das eine zu ahnen, das andere noch hinterher einzusehen vermögen, (…) ergötzt uns als Beweis unserer Denkfertigkeit, und darin liegt der Grund, dass wir die Dichtung schön finden.“

Literatur antwortet auf eine Erfahrung. „Wir können einander nicht verstehen, es sei denn in groben Umrissen (…); wir können, selbst wenn wir möchten, uns nicht rückhaltlos geben; was wir Intimität nennen, ist nur ein Notbehelf; völliges Vertrautsein eine Illusion“, beobachtete schon der britische Autor Edward M. Foster (1879-1970). Im Roman aber „können wir die Menschen durch und durch kennenlernen und (…) einen Ausgleich für ihre Undurchschaubarkeit im wirklichen Leben finden“: Allerdings findet eine Verschiebung statt: Das literarische Kunstwerk simuliert Verständnis, indem es das zu Verstehende ästhetisch zu Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit transformiert.

Der Autor geht ähnlich vor wie ein Einbrecher. Dieser wirft dem Hund, der das Haus beschützen soll, ein Fleischstück hin, um ihn abzulenken. Der Autor beschäftigt den Leser mit bestimmten Motivgruppen und Problematiken. Ästhetisch entscheidend ist die Form. Literatur „holt sich mittels der Form eine Überprüfbarkeit zurück; aber nicht an der Erfahrungswirklichkeit, sondern immer nur innerhalb ihrer selbst“, so Enzensberger 1981 in der veränderten zweiten Auflage von Literatur und Interesse. Die Schreibweise des Autors hat attraktiv und in sich stimmig zu sein. Die „Selbstübereinstimmung der poetischen Werke tritt an die Stelle der Übereinstimmung von nicht-poetischen Aussagen mit Sachverhalten“, bemerkt Jochen Hörisch 2005 in dem Aufsatz Warum lügen und was wissen die Dichter. Die Erfahrungen in der Literatur „stimmen nicht, weil darin alles stimmt“, so Enzensberger 1981.

Literatur soll also nicht nur Sinn stiften, sie kann auch nicht anders, vermag sie doch Sinnlosigkeit „aus Sinnzwang“ nicht adäquat wiederzugeben. Eine heile Welt ist damit nicht gemeint. Geheimnisvolle und rätselhafte Werken der Hochliteratur erinnern in einer Hinsicht an die negative Theologie. Sie fordert angesichts der Unangemessenheit menschlicher Vorstellungen vom Absoluten, es allein durch die Verneinung positiver Aussagen zu vergegenwärtigen. Aber um Sinn-Inhalte geht es hier nicht. Selbst wenn im Text inhaltlich erschreckende Botschaften dominieren, „nistet“ sich Enzensberger zufolge noch „jedesmal durch formale Sinnkonsistenz die poetische ‚Notwendigkeit’ und der ‚tiefere’ Sinn wieder ein“.

Elfriede Jelinek lässt in ihren Texten keine Abgründe aus und stellt sie zugleich in eine Reihe des Austauschbaren. Jelineks Schreibweise jedoch sorgt zuverlässig dafür, dass „die bitteren Tropfen niemanden zum Würgen bringen, sie lassen sich problemlos schlucken wie auf einem Stück Zucker“, so Andreas Heinz 2011 in der Zeit. Der anspruchsvolle Leser genießt die ästhetische Meisterschaft, Kaputtes in Kunst zu verwandeln.

Literatur bearbeitet ihre Themen auf eine bestimmte Weise. Sie will sie nicht primär deutlicher, klarer und überschaubarer machen. Es gehe ihr – Enzensberger zufolge – um etwas anderes: „Ihre Erlebtheit wird über alles real Erlebbare gehoben, sie werden existenziell durchgängig beziehbar gemacht, und nur in dieser illusionären Qualität“ sind sie dem wirklich Erfahrenen überlegen. Die literarische Bearbeitung soll das Dargestellte „wirklicher als die Wirklichkeit“ machen; das „Erdichtete“ soll „intensiver erlebt werden“ als das Reale. Besonders passionierte Leser stört dann an der Realität, dass sie nicht so sei wie ein Roman. Aus der Perspektive der großen Kunst, so formuliert Arno Schmidt, erscheint die prosaische Wirklichkeit als lachhafte Kopie.

Exzesse der ästhetischen Selbstbezüglichkeit finden sich in Gedichten: „Zucker eignet sich zum Süßen des Kaffees“, befand der 1969 verstorbene Schriftsteller Witold Gombrowicz in seiner Polemik Gegen die Dichter, „nicht aber dazu, mit dem Löffel vom Teller gegessen zu werden wie Grütze. An der reinen, in Versen geschriebenen Poesie quält mich das Übermaß; das Übermaß an Poesie, das Übermaß an poetischen Wörtern, das Übermaß an Metaphern, das Übermaß der Sublimierung, endlich das Übermaß der Kondensierung und der Säuberung jeglicher antipoetischer Elemente – Gedichte gleichen derart einem chemischen Produkt.“

Eine zu große Nähe zwischen Kunstwerk und Rezipient ist dem ambitionierten Leser wiederum suspekt. In seiner Begegnung mit dem exquisiten ästhetischen Text will ein avancierter Leser sich herausgefordert fühlen. Er will die „Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren (…). Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess ein Ziel in sich und muss verlängert werden“, bemerkte der russische Literaturtheoretiker Viktor B. Slovskij in seiner Theorie der Prosa. Die Lektüre soll bloß nicht zu schnell enden.

So geben manche Schriftsteller ihren Lesern schier unendliche Entschlüsselungsarbeiten auf. In seinem Buch Die Bildungs-Lüge schildert Werner Fuld prägnant, wie Literatur sich nur noch auf andere Literatur bezieht. Bspw. arbeitet Arno Schmidt in Zettels Traum „ständig mit verdeckten Zitaten, Anspielungen und Vieldeutigkeiten, so dass der Leser den Sprachspuren wie ein Detektiv folgen muss. Nehmen wir nur die erste Zeile: Links steht ‚Anna Muh-Muh!’ So, ‚ana moo-moo’ rufen die Eingeborenen in Poes Gordon Pym. Die deutsche Lautschrift sagt uns, dass wir vor einer Kuhweide stehen, deren Stacheldrahtzaun wir in der ge-x-ten Doppelreihe erkennen. Er wird in der Mitte auseinandergedrückt, um die Personen durchzulassen, wobei eine hängen bleibt, was den Metallton ‚king’ und den nur angedeuteten Fluch ‚fu’(cking) verursacht. Das ist aber nicht alles, denn das umrahmte ‚king!’ bedeutet nämlich vor allem: Jetzt tritt König Arno auf, der sich hier seinen Traum erfüllen wird. Der Titel Zettels Traum verweist natürlich auf die seit Wielands Erstübersetzung ‚Zettel’ genannte Figur aus Shakespeares ‚Sommernachtstraum’, deren originalen Namen Bottom man aber auch mit Arsch übersetzen könnte, womit wir bei Ar(no) Sch(midts) und Po(e)s Traum angelangt wären.“

Volker Stelzmanns Aufsatz über Erkenntnis und Genuss ist ein Beispiel für die geschäftige Kunstbegleit-Rhetorik. Sie lobt ebenso vorhersehbar wie gratismutig die „Verweigerung bequemer Identifikation“ und flechtet solchen Lesern Lorbeerkränze, die die „widersprüchliche Komplexität produktiv annehmen.“ Selten sprechen professionelle Kunstbewunderer jedoch derart unverblümt aus, was ihnen vorschwebt: Der Künstler solle bei seinem Rezipienten nicht nur „Mühe fordern“, sondern … „schwierige Übereinstimmung“.