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(in: der Freitag, Nr. 38, 19.9.2024, S. 18 unter der Überschrift „Wir bereisen nur uns selbst“)

Es ist wieder diese Jahreszeit. Nach den Sommerferien hat man was zu berichten. Besonders in Schulen, seitens der Schüler und auch des Lehrpersonals. Nehmen wir eine ganz normale Grundschule in einem weder armen noch reichen Viertel: Eine Lehrerin kurz vor der Pension erzählt, sie sei ja schon fast überall in der Welt gewesen. Aber diesen Sommer hätte es doch noch mal etwas ganz Besonderes sein sollen.

So nahm sie an einer geführten Reise durch das Hochland von Madagaskar teil und zahlte dafür mit ihrem Mann pro Person 13.000 Euro. Und eine Klassenlehrerin berichtet: Die Eltern eines Drittklässlers schreiben ihr aus dem Urlaub: Leider „mussten“ wir unsere Rückreise verschieben, es ergab sich unverhofft doch noch in letzter Minute die ersehnte Gelegenheit für einen Ausflug zu einem entlegenen Tempelkomplex in Indien, den man nur selten besuchen kann. Diese außergewöhnliche Gelegenheit sich entgehen zu lassen, das wäre unverzeihlich gewesen. Insofern, so erwarten die Eltern, die Klassenlehrerin möge diese guten Gründe dafür nachvollziehen, dass der Sohn erst am Beginn der zweiten Schulwoche wieder am Unterricht teilnehmen könne. In den Osterferien waren die Eltern mit ihm in Kanada, in den letzten Herbstferien in Mexiko und konnten dort eine Woche in einem Baumhaus wohnen. Wenn der Junge in der fünften Klasse ist, wird er schon alle Erdteile gesehen haben.

Wer touristisch diesem Erlebnisdrang folgt, fährt irgendwo kurz hin, um sich einen Eindruck zu verschaffen und um sich beeindrucken zu lassen. Man will sich und anderen sagen können: Da war ich auch schon, das habe ich gesehen. Neudeutsch spricht man von einer „Bucket List“ der Reiseziele. Was man von dem Gesehenen verarbeitet hat, ist drittrangig. Vorrangig hingegen ist der Kick des Neuen und Anderen. Um so etwas wie Erfahrung geht es dabei nicht, sondern um eine Art von Erlebnis, die „das Punktuelle, das Highlight als isolierte emotionale Intensität“ aufsucht, wie der Erziehungswissenschaftler Jürgen Hasse einmal in einer Zeitung schrieb.

Ein derartiges Erlebnis steht für das Außergewöhnliche. Ein entsprechender Tourismus arrangiert seine Wirklichkeiten so, dass sie dafür Anlass sind. Der Tourist möchte sich der Wirklichkeit, die er besucht, nicht nähern, indem er sich auf sie einlässt oder sich mit ihr beschäftigt. Diese Wirklichkeit soll dem Tourist vielmehr Gelegenheit geben für ein Icherlebnis. Er möchte von anderen Farben, Gerüchen und Klimata angeregt sein. Dieser Tourismus nimmt teil an einer Aufwertung einer zweiten Wirklichkeit, die bereits mit der Romantik begann: „Nicht dass die Wirklichkeit völlig unwichtig wäre; aber sie hat nicht die Funktion, Erlebnisinhalt, sondern nur Erlebnisreiz zu sein“, schrieb der Erziehungswissenschaftler Lothar Pikulik in seiner Untersuchung zur ‚Romantik als Ungenügen an der Normalität‘.

Der Tourist möchte sich als in einen anderen Zustand versetzt erleben. Die sogenannten sozialen Medien verstärken mit einer unübersehbaren Flut audiovisueller Inszenierung den Imperativ, überwältigende Atmosphären seien für das „intensive“ Leben unerlässlich. Friedrich Nietzsche bringt die Suggestion in ‚Der Fall Wagner’ auf den Punkt: „Wer uns umwirft, der ist stark; wer uns erhebt, der ist göttlich; wer uns ahnen macht, der ist tief.“

Der Drang, unbedingt etwas erleben zu müssen, führt dazu, dass man sich selbst einredet, man erlebe etwas. Der Betroffene versetzt sich selbst in die Stimmung, die er von sich selbst erwartet. Die Erlebnishungrigen und -bedürftigen rechnen das gelingende Erlebnis zu großem Anteil ihrer „Erlebnisfähigkeit“ zu. Sie stehen unter Druck, sich als erlebnisfähig zu bewähren, und das entsprechende Erlebnis wird zum Beweis für diese Fähigkeit. Wer will schon ein Freizeitversager sein? Der Erlebende ist Prüfling und Prüfer in Personalunion. Spätestens die Selbstsuggestion löst dann ein, was das Individuum mit seinem Erlebnisdrang meint, sich schuldig zu sein.

Die Orientierung auf diese Art von Erlebnis ist nicht neu. Bereits die pietistische Suche nach Erbauung war der „Versuch, im Bewusstsein etwas zu erleben, was im Sein nicht da ist“, analysierte der Theologe Paul Tillich in seiner ‚Vorlesung über Hegel’. Der Pietismus und „Erweckungsbewegungen aller Schattierungen“ „rufen den Wunsch nach Emotionen wach, die nicht echt, sondern künstlich produziert sind“, so Tillich im zweiten Band seiner ‚Systematischen Theologie’. Historisch neuartig ist am touristischen Drang etwas anderes: die Abstraktheit des Erlebnisses sowie seine Trennung von religiösen, moralischen und politischen Inhalten. Das Ausmaß und die Dominanz, mit der hier eine „Funktionalisierung der äußeren Umwelt für das Innenleben“ stattfindet, bewegt sich auf ungekanntem Niveau, stellt der Soziologe Gerhard Schulze in seinem Werk ‚Die Erlebnisgesellschaft’ fest.

Viele der in Musik- und Sportveranstaltung, aber eben auch auf Reisen gesuchten und gefundenen Effekte verdanken sich starken Reizen und Zeichen. Als „stark“ werden sie v. a. erlebt von Geschwächten, Übermüdeten und Überarbeiteten.

Wie es eine problematische Intensität gibt, so auch eine problematische Extension oder Vielheit. Viele Touristen tun so, als ob „das fortwährende ‚Angeregtsein’” sowie „das bloße Kennen oder Genießen von tausend Dingen“, über das schon der Soziologe und Philosoph Georg Simmel in der Aufsatzsammlung ‚Philosophische Kultur’ schrieb, gleichbedeutend sei mit gutem Leben. Dabei führt die aufgebotene und genossene Breite und Fülle der Angebote zu einem ebenso „impressionistischen” wie „flachatmigen Stil des Erlebens“, der vom „raschen Wechsel der Eindrücke” lebt. Das stellte bereits vor Jahrzehnten der Psychologe Philipp Lersch in seinem Buch ‚Der Mensch in der Gegenwart’ fest. Die innere Verarbeitung kommt zu kurz, wenn das eine Angebot das andere ablöst, noch ehe der Rezipient Zeit hatte, es nachklingen zu lassen und bei ihm verweilen zu können. Ein Teufelskreis entsteht zwischen einer flachen und extensiven Subjektivität und ebensolchen Konsumangeboten. „Die Augen werden satt, aber das Herz bleibt leer, Vergnügungen Ihrer Neugierde, so viel Sie wünschen, Freuden feiner Geselligkeit keine“, so Charles de Brosses, ein französischer Jurist und Philologe des 18. Jahrhunderts.

Mit solcherart Erlebnissen geht es um Doping. Sie verheißen, die Erlebtheit von Geschehnissen über alles wirklich Erlebbare hinaus zu steigern. Das Erlebnis soll intensiver als das Leben sein. Man will sich überwältigt sowie in Beschlag genommen fühlen. Das Leben sei ebenso fade wie alltäglich ohne solche Vitalitätskonzentrate, die den Lebendigkeitstonus erhöhen. Das Erlebnis soll der Existenz eine starke Dosis Leben verabreichen.

Wo der „Kick“ des Neuen im Vordergrund steht, muss immer wieder etwas anderes als Anregungs- und Beeindruckungsobjekt aufgesucht werden. Wie bei der Sucht geht das auf Dauer nur mit steigender Dosis. Die Suche nach Highlights und Überwältigendem führt wie beim Schnapstrinker zur Umempfindlichkeit für weniger Aufregendes und Scharfes, weniger Bombastisches und Faszinierendes.

Der Erlebnisdrang und die Misere des Alltagslebens bilden zwei Seiten einer Medaille. Henri Lefebvre analysiert in seinen lesenswerten Büchern zum Alltagsleben, wie diesem nach und nach das „eigentliche Leben“ vermeintlich entzogen, das „emphatisch Menschliche“ scheinbar außeralltäglichen Sphären wie Staatspolitik und „Hochkultur“ u. a.) überantwortet und von ihrem Standpunkt der Alltag abgewertet wurde.

Oft hört man, Alltag sei ein Synonym für Banalität und Stress. Damit es nicht dabei bleibt, sind grundlegende Veränderungen der Gesellschaft und Lebensweise erforderlich. Wie lässt sich die Arbeit so gestalten, dass sie nicht nur instrumentell zählt? Dann würden die menschlichen Fähigkeiten in der Arbeit nicht nur benutzt, sondern könnten sich in ihr auf eine für die Arbeitenden erfüllende und im guten Sinne persönlichkeitsbildende Weise entwickeln.

Weitere Fragen zu Erfolgskriterien für das, was als wirkliche gesellschaftliche Alternative („anders leben, anders arbeiten, sich anders vergesellschaften”) gelten kann, schließen sich an: Kann ich mich durch die Produkte und Dienstleistungen sinnvoll auf deren Empfänger beziehen? Bin ich eingebunden in zwischenmenschliche und soziale Beziehungen, die nicht durch Privateigentum, Konkurrenz und Profilneurose verunstaltet werden? Wie können die gesellschaftlichen Strukturen so umgebaut werden, dass sie sich nicht länger gegen die wohlverstandenen Bedürfnisse der Bevölkerung verselbständigen?

Der Erlebnisdrang bleibt überwertig, solange das Alltagsleben sich gesellschaftlich nicht als gutes Leben gestalten lässt.

 
 

PS: Weiterführend zum Thema:
Meinhard Creydt 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
(Leseprobe)

Zu Henri Lefebvres Analyse und Kritik des Alltagslebens vgl. Meinhard Creydt 2010: Die not-wendige Veränderung des Alltagslebens. Zur Aktualität von Henri Lefebvre. In: Sozialismus H. 11, Nr. 347, 37. Jg., Hamburg
und http://www.meinhard-creydt.de/archives/270