(in: Telepolis 8.10.2023)
Maschinen und Apparate, die auf Basis der sog. Künstlichen Intelligenz (KI) operieren, können die Menschen bei manchen Arbeiten (z. B. Auswertung von Daten) entlasten. Dieser Artikel fragt, ob es möglich ist, zentrale menschliche Fähigkeiten an KI-basierte Technologien abzugeben, zu übertragen oder sogar ihnen anzuvertrauen, und, wenn ja, ob wir das befürworten wollen.
Der Mangel an Urteilskraft
„‚Papa, die Intelligenz habe ich von dir.‘ Der Vater, geschmeichelt: ‚Das freut mich! Wie kommst du darauf?‘ – ‚Na, die Mama hat ihre ja noch!‘“ (Schnabel 2023). Die KI scheitert am Verständnis dieser Mehrdeutigkeit und dieses Witzes. Vermeintlich intelligente Systeme „kennen nur eindeutige Einzelelemente 0 oder 1 – für alles, was mehrdeutig, schillernd oder vage ist, eine atmosphärische Anmutung hat, fehlt ihnen der Sinn. Das Verhältnis zwischen Vordergrund und Hintergrund, Gegenstand und Kontext existiert für sie nicht“ (Fuchs 2020, 45).
Donald Trump twittert häufig. Die KI vermag nicht festzustellen, ob er schwindelt oder es ernst meint. Um das unterscheiden zu können, bedarf es der Urteilskraft. Zusätzlich wird eine Analyse des Charakters von Trumps erforderlich. Sie überfordert die KI. Vergleichsfälle sind schwer aufrufbar. „Verlogenheit, Heuchelei und Bluff kann eine Maschine nicht begreifen“ (Koenig 2022, 118).
Auch auf Finanzmärkten stellt sich die Frage nach dem Stellenwert von menschlicher Urteilskraft. Bleiben die Bedingungen für Investitionen stabil und der Aktienhandel ruhig, so verlaufen die Börsenaktivitäten mittlerweile zum großen Teil automatisiert. Problematisch wird es, wenn „unvorhergesehene Ereignisse eintreten, Krisen oder Innovationen (tail events), oder aber wenn es um Langzeitplanungen geht“ (Ebd.). Entscheidungen über Geldanlagen und Investitionen werden keineswegs vollständig an Computer delegiert. Die erforderlichen Daten bleiben oft unvollständig oder ungenau. Finanzanalysten interessieren sich nicht zuletzt für die Mentalitäten und Stimmungen von entscheidenden Akteuren. „Die KI wird nur die Berufe verschwinden lassen, zu deren Ausführung keinerlei Kontextverständnis, keine Interaktion mit der äußeren Umwelt, keine auf Menschenkenntnis gegründete Initiative erforderlich ist“ (Ebd., 119).
Frank Knight unterscheidet zwischen Risiko und Ungewissheit. Beim Risiko sind alle denkbaren Ergebnisse sowie ihre Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten prognostizierbar. Bei der Ungewissheit ist „die Zukunft nicht berechenbar und Überraschungen geschehen“ (Gigerenzer 2021, 59). In den Situationen der Ungewissheit reicht laut Knight „Rechenleistung nicht aus; stattdessen brauchen wir Urteilsfähigkeit, Intelligenz, Intuition und den Mut, Entscheidungen zu fällen“ (Ebd.). Urteilskraft gehört zu den menschlichen Vermögen, die der KI fehlen.
Sinnhafte Orientierung
Wer meint, alles berechnen zu können, scheitert bereits an einem elementaren Geschehen. Eine solche Person müsste über die Frage „Wollen wir Eltern werden oder nicht?“ mit der quantitativen Abwägung von Belastungen und Befriedigungen entscheiden. Diese utilitaristische Herangehensweise hat jedoch Grenzen. Entscheidende Momente entziehen sich der Berechenbarkeit. Eltern sind bspw. der Auffassung, Kinder seien wichtig für die Bedeutung und den Sinn ihrer Lebensgeschichte.
Wenn Menschen nicht in resignativer Stagnation verharren, streben sie etwas an. „Künstliche Systeme durchlaufen nur Zustände, es geht ihnen um gar nichts. Kein Fühlen oder Streben motiviert und begleitet ihre Prozesse. Ein Torpedo ist zwar mit einem Zielsuchprogramm ausgestattet, das die Abweichung vom programmierten Ziel minimiert und so den Kurs fortlaufend anpasst. […] Nur bewusste Wesen bewegen sich im Raum möglicher Zukunft und erleben ihre Bewegung selbst als zielstrebig“ (Fuchs 2020, 105). Der Computer „ist sich selbst nicht vorweg. Nur bewusstes Erleben nimmt die Zukunft vorweg und ist protentional – wünschend, strebend, erwartend oder befürchtend – auf Mögliches gerichtet“ (Ebd., 47).
Im Unterschied zu Maschinen orientieren sich Individuen an Geschichten bzw. rufen sich „Szenen der Vergangenheit oder der mutmaßlichen Zukunft vor Augen, um sie zu einem Sinnzusammenhang zu verknüpfen“ (Precht 2020, 34). Dieser Bewusstseinszustand ist für das Selbstverhältnis von Individuen zentral. Die KI kennt ihn nicht. Die Orientierung in einem endlichen Leben mit Vergangenheit und Zukunft bildet eine Aufgabe, die sich für die KI erst gar nicht stellt. Im eigenen Leben Erfahrungen gemacht, über sie reflektiert zu haben und dadurch gereift zu sein,
all das lässt sich nicht durch „in Laboren gleichförmig programmierte Maschinen“ (ebd., 142) „leisten“. Wer meint, das Lernen von Maschinen könne dies in Zukunft unnötig machen, hat keinen Bezug zu der in tätiger, sinnlicher und geistiger Auseinandersetzung erworbenen Lebensweisheit und zu den menschlichen Vermögen, die sich nur so bilden.
Sensomotorische Fähigkeiten
Was die KI im Schachspiel vermag, ist bekannt. Zugleich ist „dasselbe Programm nicht in der Lage, das Schachbrett aus dem Regal zu nehmen und die Figuren aufzustellen“ (Gigerenzer 2021, 124). Der Robotik-Experte Hans Moravec stellt fest, es sei „vergleichsweise einfach, Computer mit der Leistungsfähigkeit von Erwachsenen Mathematikaufgaben lösen, Intelligenztests bewältigen oder Schach spielen zu lassen.“ Es sei bislang „hingegen schwer oder unmöglich, sie in Hinblick auf Wahrnehmung und Bewegung mit den Fertigkeiten eines einjährigen Kindes auszustatten“ (Brynjolfsson, McAfee 2014, 40). Die Zeitschrift ‚Economist’ berichtet 2016 über einen vom Pentagon gesponserten Roboterwettbewerb: „Sie fielen aufs Gesicht und sie fielen auf den Rücken. Sie stürzten wie Kleinkinder, falteten sich wie billige Anzüge zusammen oder gingen wie eine Tonne Ziegelsteine zu Boden“ (The Economist: Humanoid Robots: After the Fall, 13.6.2015).
Die Wahrnehmung von Qualitäten
Bereits das subjektive Ansprechen auf die Farbe Karminrot, „der Geschmack von Schokolade oder der Duft von Lavendel“ stellen Erfahrungen dar, in denen Qualitäten wahrgenommen werden. Sie lassen sich nicht in „Daten und Informationen“ repräsentieren (Fuchs 2020, 104). Das gilt auch für Situationen, die das Leben reich machen. Ein Individuum erlebt Freude, wenn es sich seine gelungene Arbeit vergegenwärtigt. Es erfährt Anerkennung durch andere und durch sich selbst. Es ist dankbar für eine langfristige gute Zusammenarbeit, die solidarisch ist und produktive Auseinandersetzungen einschließt. Menschen erfahren persönliche Beziehungen als für sie wesentlich. All das lässt sich nicht „als eine definierte Konfiguration von Einzeldaten wiedergeben oder gar in digitale Zeichen zerlegen“ (Ebd., 27).
Ein Beispiel für den naturwissenschaftlichen Reduktionismus bildet der Satz von Max Planck: „Wirklich ist, was sich messen lässt“ (Max Planck). Wir ziehen demgegenüber eine Unterscheidung von Albert Einstein vor: „Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt!“
Bereits in den modernen Naturwissenschaften gibt es eine starke Tendenz zur „Entwirklichung aller Stoffe und Kräfte in funktionale Beziehungen einiger ‚universeller Konstanten’ (Max Planck), auf die sie die Physik reduziert“ (Wagner 1966, 96). Wenn es nach dem Szientismus ginge, würde die imponierende „Ersatzwelt forscherlicher Errungenschaften“ (ebd., 37) die Lebenswelt ins Abseits drängen. Die KI radikalisiert dies durch das Bestreben, Phänomene auf Informationen zu reduzieren bzw. aus ihnen zusammensetzen zu wollen. (Zur Problematik des Informationsbegriff vgl. Fuchs 2020, 29ff.). Die KI liefert die Präzision einer Welt aus dritter Hand. Diese Welt ist „nicht sehr komplex, dafür aber auffällig geordnet. Sie besteht aus ganzen Zahlen, binären Sequenzen, einer festgelegten Logik, präzisen Definitionen und Algorithmen. [...] Sie ist übersichtlich angeordnet, wohldurchdacht, mathematisch beschreibbar, effizient und auf ihre Weise optimal“ (Precht 2020, 37f.).
Ein charakteristisches Momente humaner Existenz, das in der KI nicht vorkommt, ist die subjektive Binnenperspektive. Im Unterschied zur Außenperspektive ist „jede subjektive Erfahrung an eine zentrierte Perspektive gebunden, die sich nicht in einer objektiven, physikalischen Beschreibung rekonstruieren lässt“ (Fuchs 2020, 182). „Bewusstsein ist überhaupt nicht das geistlose Durchlaufen von Datenzuständen – es ist Selbstbewusstsein“ (ebd., 37) oder „Selbstgewahrsein“ (Ebd., 104).
Bereits die Rede von der „künstlichen Intelligenz“ reduziert den Begriff der Intelligenz bzw. ersetzt sie durch etwas anderes. Das lateinische Wort „intellegere“ bedeutet „einsehen, verstehen, begreifen“. Eine künstliche Intelligenz müsste in der Lage sein, „sich selbst [...] aus einer übergeordneten Perspektive zu sehen.“ Das „Heraustreten aus seinem Mittelpunkt“ ist eine „entscheidende Voraussetzung“ für Intelligenz (Ebd., 43). Im Unterschied zur menschlichen Intelligenz versteht ein Übersetzungsprogramm die Worte nicht, die es übersetzt. Solche Computer führen „nur blind Programme aus, die man als ‚klug entwickelt‘ bezeichnen kann“ (Ebd., 44). „Immer präzisere Mustererkennung und immer leistungsfähigere Statistiksysteme schaffen noch lange keine echte Intelligenz“ (Precht 2020, 25).
„Ausgeblendet bleibt“ in der KI „das Charakteristische des Lebens [...] nämlich das Erleben oder die Innerlichkeit: Empfinden, Fühlen, Streben, Wahrnehmung, Denken. Lebendiges geht nicht in einem von außen beobachtbaren System auf“ (Fuchs 2020, 31).
Neuroreduktionismus
Was „uns erst zu fühlenden und wollenden Wesen macht, lässt sich informationstheoretisch gar nicht erfassen“ (Fuchs 2020, 105). Dieser These widersprechen manche Ideologen, die sich auf die Neurowissenschaft stützen. Die neurowissenschaftliche Beschreibung von Hirnprozessen ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Erklärung oder dem Verstehen von psychischen Prozessen. Letztere sind „nicht einfach bloß physikalische Zustände unseres Gehirns“. Menschen sind mehr als „bloß ein Körper mit seinem brausenden Nervensystem.“ Erforderlich ist eine „Doppelaspekt-Theorie. Man nennt sie so, da sie besagt, dass mein Hineinbeißen in eine Tafel Schokolade in meinem Gehirn einen Zustand oder Vorgang mit zwei Aspekten hervorruft: einen physikalischen Aspekt, der die vielfältigen chemischen und elektrischen Reaktionen einschließt und einen psychischen Aspekt – der Geschmacksempfindung von Schokolade“ (Nagel 2004, 26, 27, 30f.).
Die Verfahren, mittels derer die Hirnforschung zu ihren Ergebnisse kommt, sind kein „wahrheitsgetreues Abbild organischer Vorgänge, wie häufig suggeriert wird, sondern eine computergenerierte Formalsprache, die höchst interpretationswürdig ist“ (Flasspöhler 2012, 75f.). Der Philosoph Jan Slaby, Professor am Sonderforschungsbereich ‚Languages of Emotion’ der FU Berlin erklärt: „Gemessen wird der Sauerstoffverbrauch bei gewissen Stoffwechselprozessen im Gehirn, und das ist höchst indirekt. Das ist so, als ob Sie vom Messen des Benzinflusses oder der Abgase in einem Automobil auf die Funktionsweise des Motors schließen wollen“ (zit. n. Flasspöhler, 76).
Zur These, die menschliche Psyche sei vollständig auf biochemische Prozesse im Gehirn rückführbar, passt der Stand der medikamentösen Behandlung psychischer Krankheiten nicht gut. „Die letzten 20 Jahre haben zu einer großen Ernüchterung im Bereich der Medikamentenentwicklung geführt; es wurden immer große Durchbrüche in Aussicht gestellt, aber das ist ausgeblieben“ (Slaby, zit. n. Flasspöhler, 76).
Weit verbreitet bei Neuro-Ideologen sind die Fehlschlüsse, ein Teil (das Gehirn) mit dem Ganzen (dem menschlichen Subjekt) sowie „Bewusstseinstätigkeiten mit lokalen Gehirnaktivitäten“ zu identifizieren (Fuchs 2020, 188). Geert Keil macht auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam. Die neurowissenschaftliche Aufmerksamkeit dafür, welche Gehirnareale aktiv sind, wenn jemand etwas Bestimmtes tut, ist das eine. Etwas ganz anderes ist die These, „dass in Wirklichkeit nicht ich denke, sondern mein Gehirn“. Diese These ist „nicht schlüssiger als die Auffassung, dass in Wirklichkeit nicht ich den Elfmeter schieße, sondern Teile von mir. […] Die Frage, womit eine Person denkt, ist […] nicht von grundsätzlich anderer Art als die, womit sie […] einen Elfmeter schießt. Solche Fragen sind verblüffend schwierig zu beantworten: Schießt man einen Elfmeter mit dem Fuß? Oder doch eher mit dem Bein?“ (Keil 2009, 141).
Manche Neurowissenschaftler verneinen die Willensfreiheit. „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden“ (Roth 2004, 77). „Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen“ (Roth 2004a, 218). „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. […] Keiner kann anders, als er ist“ (Singer 2004, 30 und 63). Diese Ideologen meinen zu Unrecht, es handele sich um eine Kausalbeziehung, wenn sie von einer „Beziehung zwischen einem mentalen Ereignis und seinem zeitgleichen neuronalen Korrelat oder Substrat“ sprechen (Keil 2020, 95). Zur Klärung, was Willensfreiheit heißt, und zur Auseinandersetzung mit deren Verabschiedung durch manche Neurowissenschaftler vgl. den lesenswerten Text von Keil 2020 sowie Fuchs 2020.
Zur Klärung der Frage, inwieweit die KI menschliche Vermögen ersetzen kann, sind die genannten Unterscheidungen instruktiv. Wären psychische Prozesse reduzierbar auf physikalische Zustände unseres Gehirns, so wäre man damit einen Schritt näher auf dem Weg zur posthumanistischen Utopie. Sie besteht darin, psychische Prozesse an Maschinen auslagern sowie eine Datenkopie des individuellen Gehirns erstellen und die Daten auf so etwas wie die „Festplatte“ eines anderen Gehirns verschieben zu können.
Die technomorphe Formierung menschlicher Sinne und Fähigkeiten durch KI
Die KI ist nicht nur insofern problematisch, als sie zentrale menschliche Vermögen zu marginalisieren droht. Auch dort, wo der KI wohlwollend zugeschrieben wird, Menschen von unerwünschtem Arbeitsaufwand zu befreien, führt sie zu Problemen. Die Nutzung von Chatbots („Sprachassistenten“), die in der Lage sind, einen menschlichen Gesprächspartner nachzuahmen, findet häufig im Online-Kundenservice statt. Im Kontakt mit Chatbots werden die Kunden daran gewöhnt, „eine stärker standardisierte Sprache zu verwenden, um ihre Chancen zu erhöhen, verstanden zu werden. Die Menschen [...] machen sich zu Robotern. Nicht umgekehrt“ (Koenig 2022, 62). Die Nutzung von KI-basierten Navigationshilfen senkt die Anforderungen an das Gedächtnis und den Orientierungssinn. Beide werden in geringerem Maße beansprucht, aber damit auch weniger trainiert. „Offenbar scheint besser im Gedächtnis zu haften, was man sich bewusst erarbeitet. Eine Route, die man im Auto vom Navi geführt verfolgt, kann sich nicht als Erinnerung festsetzen. Sie bleibt rein oberflächlich“ (Wehrs 2018, 284). iMessage bietet Wortvorschläge an: Wenn die Tochter sich bei der Mutter für den Kuchen bedanken will und schreibt: „Der Kuchen war …“, so bekommt die Anwenderin verschiedene Adjektive vorgeschlagen (lecker, zu gut, super usw.). „Warum sollte sie sich gerade jetzt mit dem Herumsuchen in den Feinheiten der [...] Sprache langweilen? [...] Wie wächst man in einer Welt auf, in der die Worte für uns ausgesucht werden?“ (Koenig 2022, 152).
Das instrumentell Relevante und das für das gute Leben Zentrale
Viele kritisieren an der KI, dass sie die Überwachung erleichtert, oder machen sich Sorgen infolge der Annahme, die KI verringere die Zahl der Arbeitsplätze. Andere wiederum begrüßen an der KI, sie befreie von schlechter Arbeit. Sie unterschätzen, dass viele bisherigen technologische Neuerungen unter Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie dazu geführt haben, dass bestimmte Arbeitsplätze wegfielen, dafür aber viele andere, qualitativ nicht minder fragwürdige entstehen. Wir konzentrieren uns in diesem Artikel auf ein anderes Thema und fragen, was die KI selbst bei ihren Nutzern sowie Anwendern mit deren Mentalitäten und Lebensweisen immer schon macht, bevor sie individuell mit der Technik umgehen oder kollektiv diese politisch regulieren.
Es gilt, der Abwertung genuin menschlicher Fähigkeiten und Vermögen entgegenzutreten. Not-wendig wird ein Bewusstsein dafür, dass die Schnelligkeit im Erledigen von Rechenoperationen nur dann ihren Wert hat, wenn sie nicht gegen die Menschen ausgespielt wird, als seien diese nur die defizitäre Vorstufe einer Maschinenintelligenz. Wir haben menschliche Fähigkeiten geschildert, die sich nicht durch die KI ersetzen lassen, und uns auf Vermögen bezogen, die für die Lebensqualität alles andere als randständig sind. Diese Fähigkeiten entwickeln sich in Auseinandersetzungen mit Objekten, Personen und gesellschaftlichen Problemen. Die Reifung bzw. Bildung menschlicher Vermögen folgt einer anderen „Logik“ und bildet einen anderen Wert als das durch technische Problemlösungen Erreichbare. Letztere orientieren sich an der Effizienz. Schon ein höher entwickeltes Tier sieht gemessen an diesem Maßstab schlecht aus. „Die Leistung der Alge, aus Sonnenlicht Energie zu gewinnen, ist unendlich effizienter als die Leistung des Adlers, mit aufwendigem Flugspektakeln ein Kaninchen zu fangen“ (Stanislaw Lem).
Für den Eigenwert menschlicher Fähigkeiten, Sinne und weit verstandener Reflexionsvermögen blind zeigt sich das technizistische Verständnis. Es strebt eine Allzuständigkeit der Technik an. Dem Technizismus fehlt das Organ für die praktische Bildung der menschlichen Subjektivität. Diese Bildung findet statt in vier Praxen: In der Arbeit und Tätigkeit, in den sozialen Beziehungen, im sinnvollen Bezug der eigenen Produkte und Dienstleistungen auf die Entwicklung der Lebensqualität und in der Gestaltung der Gesellschaft durch die Bevölkerung. Erst in diesen Praxen vermögen Menschen, „sich von sich selbst lösen zu können, sich gegenüberzutreten wie einem Dritten, gestaltend, erkennend, wertend, und erst in dieser Form das Bewusstsein ihrer selbst zu gewinnen“ (Simmel 12, 221). Die auf diese vier Praxen bezogenen menschlichen Fähigkeiten und Sinne sind für die Menschen nicht nur faktisch für ein komfortables Überleben notwendig oder ein nettes Hobby, sondern für ihr gutes Leben essentiell.
Um die „Selbstverwirklichung“ des Individuums im Sinne einer gegenseitigen Spiegelung von Selbstbetätigung und Selbst handelt es sich nicht. In ihr dominiert das letztlich egozentrisch bleibende Selbstbewusstsein des Individuums. Es interpretiert all das, was das Individuum tut, selbstwertdienlich. Für die eitle Selbstgenügsamkeit, nur „sich selbst“ zu „produzieren“, gilt: Dieses Individuum kann, „da es weiß, dass es in seiner Wirklichkeit nichts anderes finden kann als ihre Einheit mit ihm oder nur die Gewissheit seiner selbst in ihrer Wahrheit, und dass es also immer seinen Zweck erreicht, nur Freude an sich erleben“ (Hegel 3, 299f.).
Im Unterschied dazu beziehen sich die von uns angesprochenen menschlichen Vermögen auf die Auseinandersetzung mit Fragen, die die vier genannten Praxen aufwerfen. Sie betreffen die Lebensinhalte der Menschen bzw. ihr In-der-Welt-Sein und übersteigen ihr instrumentelles Verhältnis zu den Lebensbedingungen bzw. der Umwelt. Der Hype um die KI entspricht der „Geistesöde der bürgerlichen Kultur, die sich nur mehr für technische Fortschritte zu begeistern vermag, dagegen für allen Glauben an höhere Formen der Menschheitskultur und der Gesellschaft nur Spott und das klägliche Argument des Utopismus bereit hat“ (Adler 1926, 227).
Technologiepolitik
Not-wendig werden gesellschaftliche Bewegungen, die eine normative Technologiepolitik auch gegenüber der KI durchsetzen sowie die heute dominante permissive und reaktive Technologiepolitik überwinden. Permissive Technologiepolitik fördert die Innovationen pauschal. „Digitalisierung first, Bedenken second“ hieß ein Slogan der FDP zur Bundestagswahl 2017.
Eine reaktive Technologiepolitik „wartet zunächst, bis bestimmte technische Entwicklungen bereits eine gewisse Gestalt angenommen haben, und untersucht erst dann, ob sie wünschenswert sind oder nicht“ (Ropohl 1985, 236). Eine normative Technologiepolitik setzt an den beschriebenen menschlichen Vermögen an. Sie sorgt dafür, dass diese menschlichen Fähigkeiten nicht unter die „Räder“ von technologischen Offensiven wie der KI kommen. Sie leitet aus der Definition einer wünschbaren Lebensqualität Zwecke ab und aus ihnen Aufträge für die Entwicklung entsprechender Technologien. Sie orientiert sich nicht an einer absoluten Autonomie, sondern weiß: Die notwendigen technologischen Bedingungen einer Gesellschaft des guten Lebens können ihr gegenüber Fremdes und sie Infragestellendes enthalten. Keine differenzlose Harmonie der Hauptsache (des guten Lebens) mit ihren äußeren Bedingungen ist das Ziel, sondern eine Zusammensetzung, in der die Gesellschaft des guten Lebens über die externen Voraussetzungen ihrer selbst überzugreifen und es sich ein- und unterzuordnen vermag.
Literatur:
Adler, Max 1926: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung. Berlin
Brynjolfsson, Erik; McAfee, Andrew 2014: The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. Kulmbach
Flasspöhler, Svenja 2012: Wir sind mehr als unser Gehirn. In: Psychologie Heute, H. 1, S. 73-77
Fuchs, Thomas 2020: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin
Gigerenzer, Gerd 2021: Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten. München
Hegel: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Hg. v. Moldenhauer, Eva; Michel, Karl Markus. Frankfurt M. 1970
Keil, Geert 2009: Ich und mein Gehirn? Wer steuert wen? Das Geist-Körper-Problem und die Hirnforschung. In: Herbert Schnädelbach u. a. (Hg.): Was können wir wissen, was sollen wir tun? Reinbek bei Hamburg
Keil, Geert 2020: Willensfreiheit und Determinismus. Stuttgart
Koenig, Gaspard 2022: Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz. Berlin
Nagel, Thomas 2004: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Stuttgart
Precht, Richard David 2020: Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens. München
Ropohl, Günter 1985: Die unvollkommene Technik. Frankfurt M.
Roth, Gerhard 2004: Worüber Hirnforscher reden dürfen – und in welche Weise? In: Hirnforschung und Willensfreiheit. Hg. v C. Geyer. Frankfurt M.
Roth, Gerhard 2004a: Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen. In: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt M.
Schnabel, Ulrich 2023: Unsere neue Denkaufgabe. In: Die Zeit, Nr. 21, 17.5. 2023, S. 31
Simmel, Georg: Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt M. 1989ff.
Singer, Wolf 2004: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In: Chr. Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt M.
Wagner, Friedrich 1964: Die Wissenschaft und die gefährdete Welt. München
Wehrs, Thomas 2018: Störfall Mensch. Berlin