(in: Telepolis 2.4.2023)
In der Linkspartei stehen die „linkskonservative“ Position (Wagenknecht 2022, 275) und libertäre Positionen in einer sich gegenseitig bestätigenden und eskalierenden Wechselwirkung.
Die Hausaufgaben abschaffen?
Ein Beispiel für libertäre Auffassungen sind Äußerungen zur Schule. Die Parteivorsitzende Janine Wissler spricht sich für die Abschaffung von schulischen Hausaufgaben aus.
„Der alltägliche Hausaufgaben-Stress vergiftet das Familienleben, bedeutet Streit, Überforderung, Tränen und schürt Aggressionen“, schreibt Wissler in einem Gastbeitrag für den ‚Tagesspiegel‘ am 25.3. Gewiss gibt es Nachteile für Kinder, die aus sog. bildungsfernen Elternhäusern kommen. Sie erhalten weniger oder keine Hilfe bei den Hausaufgaben.
Die angemessene Antwort darauf wären u. a. mehr Förderstunden für entsprechende Schüler. Daran wird an Schulen gegenwärtig am ehesten gespart. Ein Lernen ohne Eigentätigkeit der Schüler auch außerhalb der Schule ist unmöglich. Bspw. bedarf das Lesen-Lernen und das Einmaleins sehr viel Wiederholung bzw. Routine sowie eines direkten Ansprechpartners des Kindes.
In Schulen werden die Schüler in großen Gruppen unterrichtet. Für Lehrer ist ein direktes Eingehen auf die persönlichen Lernschwierigkeiten eines Schülers zeitlich nur jeweils kurz möglich. Diese Eins-zu-Eins-Beziehung können Schulen nicht leisten. Für Kinder, die solche Hilfe zu Hause nicht erhalten, können Lesepaten vermittelt werden. Der Wert einer eigenständigen Bearbeitung von Aufgaben seitens der Schüler außerhalb der Schule ist unumstritten.
Vokabeln kann nur jeder Schüler für sich lernen. Wissler meint hingegen:
Die Abschaffung der Hausaufgaben steht auch als Forderung im Wahlprogramm der Linkspartei für die Landtagswahlen in Bayern 2023.
Noch absurder ist die Position eines im akademischen Umfeld der Linkspartei aktiven Publizisten. Alex Demirovic fordert: „In Alternativschulen entscheiden die Schüler*innen über Lernrhythmen und -inhalte“ (Demirovic 2016, 75).
Diese Vorstellung sieht vom pädagogischen Paradox ab. „Handlungen können dann als pädagogisch legitim gelten, wenn man mit ihnen jene Freiheit ermöglicht, der sie doch als steuernde Eingriffe immer schon entgegenstehen“ (Schäfer 2004, 713). Freiheit hat kein Individuum einfach aus sich heraus, sondern muss zu ihr befähigt werden. Spontanautonomie ist ein Mythos.
Einseitige Parteinahme
Am 9. 9. 2022 kam es in Berlin-Lichtenberg zu einem Polizeieinsatz bei einem syrischen Ehepaar, in dessen Verlauf der Mann auf den Boden geworfen wurde. Die Syrerin sagte zu dem Polizisten: „Das ist mein Haus, geh raus!“ Der wiederum antwortete: „Das ist mein Land und du bist hier Gast!“ Die Frau wirkte mit Händen und mit Schreien auf den Polizisten ein.
Er erwiderte daraufhin: „Du bist hier in meinem Land, du hast dich nach unseren Gesetzen zu verhalten! Schrei mich nicht an und fass mich nie wieder an, ich bringe dich ins Gefängnis.“ Der Linkspartei-Abgeordnete (Landesparlament) Ferat Cozak hat daraufhin eine Pressekonferenz mit den beiden Syrern veranstaltet, in der die Polizei des Rassismus angeklagt wurde.
Es ist richtig, sich gegen Polizeigewalt zu wenden, und es ist angebracht, wenn ausländerfeindliche Äußerungen vorliegen, sie zu kritisieren. Als problematisch erweist sich aber die Einseitigkeit des Linkspartei-Abgeordneten.
Er stellt sich auf die Seite der beiden Syrer und sieht sie allein als Opfer eines Übergriffs. Vom Standpunkt einer Partei, die für ein Gemeinwesen eintritt, das nicht aus lauter Egoisten und Egozentrikern bestehen soll, wären nicht nur übergriffige Polizisten zu kritisieren, sondern auch Leute, die meinen, Gesetze sollten für alle anderen gelten, nicht aber für sie selbst.
Der syrische Mann war dreimal beim Schwarzfahren erwischt worden und bezahlte die fällige Geldstrafe von 750 nicht. Die Polizei rückte nicht nur deshalb an, sondern auch wegen einer Gefährderansprache gegenüber der syrischen Ehefrau. „Nach Tagesspiegel-Informationen wird ihr vorgeworfen, dass sie eine andere Frau mit freizügigen Fotos kompromittiert haben soll. Es geht um Nötigung, Beleidigung und anderes“ (Meltzer 2022).
Empathie zeigt der Linkspartei-Politiker allein für das syrische Ehepaar. Er mag sich anscheinend nicht vergegenwärtigen, was es mit einer Person macht, wenn sie tagtäglich mit Leuten zu tun haben, die praktisch anderen Bürgern oder deren Gesamtheit durch Verstöße gegen Gesetze schaden. Der Bürger meidet den Kontakt mit solchen unangenehmen Zeitgenossen eher.
Polizisten können das nicht, sondern müssen sich ihren ganzen Arbeitstag lang mit Regelverletzungen beschäftigen. Gewiss lässt sich aus den schlechten Erfahrung von Demonstranten mit Polizeigewalt ein pauschales Feindbild entwickeln. Allerdings besteht der Arbeitsalltag von Streifenpolizisten aus etwas anderem.
Dass es sich bei ihnen nicht selten um Personen mit ruppigen Umgangsformen und einem autoritären Bewusstsein handelt, ist die eine Seite der Medaille. Die andere besteht in der Nonchalance von vermeintlich Progressiven gegenüber der Kriminalität. (Zur Kritik dieser Verharmlosung vgl. Creydt 2010.)
Minderheiten stehen an erster Stelle
Bisweilen treten Leute aus der Linkspartei so auf, als wollten sie mit Vorsatz und Fleiß Wagenknechts Vorwürfe bestätigen, es gehe in der Linkspartei zu wenig um die Anliegen der großen Mehrheit der Bevölkerung.
In der Zeitschrift „Luxemburg“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung heißt es bspw. in H. 2/2018 (S. 12):
„Feminismus“ wird in dieser – wie immer – umfangreichen Ausgabe der „Luxemburg“, deren Heftüberschrift lautet: „Am fröhlichsten im Sturm: Feminismus“, so gut wie gar nicht auf die Anliegen der übergroßen Mehrheit der Frauen in Deutschland bezogen. Vielmehr stehen völlig selbstverständlich „queere“ Themen bzw. LGBT-Anliegen sowie Berichte über andere Länder (USA, Nigeria) im Mittelpunkt.
Es spricht nichts dagegen, solche Themen zu behandeln. Fragwürdig ist die Prioritätensetzung.
Zur Fixierung auf Minderheiten und Differenzen vgl. die Analyse und Kritik populärer postmoderner Denkweisen, die der bekannte Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in vielen Publikationen vorgelegt hat. Zur Präsentation seiner Auseinandersetzung vgl. Creydt 2021.
Wagenknecht und ihre Freunde vertreten demgegenüber eine republikanische Position. Sie fordert ein starkes politisches Gemeinwesen, das die Menschen befähigt, „über die partikularen Interessen ihres Daseins als bourgeois (Privatbürger) hinauszuschauen, sie zu transzendieren. In der Rolle des citoyens (Staatsbürger) diskutieren und beschließen sie, wie sie leben wollen; sie verstehen dabei, das Allgemeininteresse von den vielen Einzelinteressen zu scheiden. Demokratie ist in diesem Verständnis der Ort der gemeinsamen Entscheidung über das gemeinsame Leben nach dem Prinzip des Allgemeinwillens“ (Münch 1998, 364).
Probleme erklärt sich diese Position daraus, daß das Gemeinwesen „zu stark in Einzelgruppen gespalten“ oder „durch äußere Verflechtungen in seiner Souveränität beschränkt“ ist (Ebd.). Eine republikanische Position legt Wert auf „die Herausbildung einer gruppenübergreifenden Solidarität der Staatsbürger in einer staatsbürgerlichen Gemeinschaft“ (ebd., 374) im Unterschied zum Rückzug der Bürger in partikulare Gemeinschaften ethnischer, kultureller, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit. Im Unterschied dazu steht bei Libertären an oberster Stelle die Freiheit von Individuen oder Gruppen von allen Beschränkungen – z. B. durch Hausaufgaben oder Gesetze.
Wagenknecht plädiert für „demokratische Gesellschaften mit echtem Wir-Gefühl und Vertrauen zu anderen Menschen“. Ihre Zeitdiagnose lautet:
„Antimonopolistische Demokratie“
Wagenknechts Analyse teilt die weit verbreiteten Auffassungen, die Wert- durch Machttheorie ersetzen (Wendl 2013). Das Finanz- und Monopolkapital herrsche über das übrige Kapital, „die Reichen“ würden die Staatspolitik diktieren, die Politiker korrumpieren und für die Manipulation der Massen sorgen.
Die grundlegenden Fehler dieser Vorstellungen von kapitalistischer Ökonomie, vom Verhältnis zwischen Staat und Politik in der bürgerlichen Gesellschaft und von der Konstitution des politischen Bewusstseins sind seit Jahrzehnten gründlich analysiert und kritisiert worden. Für eine handliche Zusammenfassung vgl. Creydt 2019.
Wagenknecht sowie viele mit ihr nicht Einverstandene in der Linkspartei stehen in der Tradition der Strategie der „antimonopolistischen Demokratie“.
(Heute würde es heißen: „Monopol- und Finanzkapital“.) Herbert Mies war der damalige Vorsitzender DKP, „Unsere Zeit“ ist noch heute deren Zeitung. Die „antimonopolistische Demokratie“ war der zusammenfassende Begriff für die politische Linie der mit der SED und KPdSU brüderlich verbundenen europäischen KPs in den 1970er und 1980 Jahren.
„Wer Demokratie will, muss die Finanzmafia entmachten“ – so lautete auch der Slogan auf einem großformatigen Plakat der Linkspartei mit dem Bild von S. Wagenknecht im Bundestagswahlkampf 2013.
Antisemitismus?
Wie intrigant es innerparteilich in der Linkspartei zugeht, zeigt sich bspw., wenn A. Demirovic Wagenknechts Auffassungen von Ökonomie und Politik „Antisemitismus“ vorwirft. Bekannt ist: Der Antisemitismus umfasst unter anderem auch eine verkürzte Kapitalismuskritik. Daraus folgt aber keineswegs der Umkehrschluss. Nicht jede verkürzte Kapitalismuskritik ist antisemitisch.
Wie sieht Demirovic selbst die kapitalistische Wirtschaft? „Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten“ stellen für Demirovic „Freiheit dar, allerdings die Freiheit einer kleinen Zahl von Menschen, die diese Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten und davon profitieren.
„Die „wirtschaftlichen Prozesse“ seien „Ergebnis von Entscheidungen“ – der kleinen Zahl von raffgierigen Reichen und bösen Börsen-Buben. Sie gelten Demirovic als die Subjekte, die die „Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten“ (Demirovic 2007, 256). Ökonomische Strukturen und Gesetzmäßigkeiten sind Demirovic zufolge Wachs in den Händen der Reichen.
Er stellt sich letztere so vor: Sie unterliegen nicht den Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation, sondern stehen als Autokraten über ihnen und verfügen souverän über sie. Für Demirovic stehen nicht kapitalistische Gesetzmäßigkeiten bzw. Strukturlogiken, sondern individuelle Entscheidungen und das Wirken von Subjekten im Zentrum (Personalisierung, Subjektivierung).
Fassen wir diese dreiste Posse zusammen: Demirovic selbst übt erstens just genau die gleiche verkürzte Kapitalismuskritik, die er Wagenknecht vorwirft. Zweitens ist Demirovic in seinem demagogischen Antisemitismusvorwurf gegen Wagenknecht eines völlig egal: Wer den Antisemitismusbegriff inflationär benutzt, arbeitet den wirklichen Antisemiten in die Hände. Wenn fast alles (z. B. verkürzte Kapitalismuskritik) antisemitisch sein soll, welchen Inhalt hat dann noch der Antisemitismus selbst?
Wagenknechts Übereinstimmung mit dem Linkspartei-Programm
Wagenknecht hat nichts gegen Marktwirtschaft, sondern kritisiert „unregulierte Märkte“ und „globalisierte Marktgesellschaft“. Sie verwirft nicht den Profit, sondern das „grenzenlose Renditestreben“ (Wagenknecht 2022, 274).
Wagenknecht befindet sich mit solchen Positionen im Konsens zum Programm der Linkspartei. Es enthält Kritik am Großkapital, nicht am Kapital. Es missbilligt die Dominanz des Mehrwerts in der Gesellschaft, nicht die Mehrwertproduktion. Es will die allerhässlichsten Auswüchse kapitalistischer Wirtschaft beschneiden. Man möchte gern bürgerliche Verhältnisse ohne deren negative Konsequenzen.
Dabei entwickeln sich bereits in der gegenwärtigen Wirtschaft Kompetenzen sowie Antriebe für wirtschaftliches Handeln, die über das Privatinteresse, die Konkurrenz und die Kapitalakkumulation hinausgehen (vgl. Creydt 2022, 2023). Eine Gesellschaft, die sich durch grundlegend andere Formen und Inhalte wirtschaftlichen Handelns als in der bürgerlichen Gesellschaft auszeichnet, stellt kein programmatisches Anliegen der Linkspartei dar. Sowohl die Freunde als auch die Gegner von Wagenknecht in der Linkspartei wollen daran nichts ändern.
Schluss
Zwischen den beschriebenen libertären Positionen und Wagenknechts „wertekonservativem“ (2022, 275) Votum für Wertegemeinschaft, Gemeinsinn, Zusammenhalt und republikanischen Staat scheint es eine Art Wunschgegnerschaft zu geben. Beide begründen sich stark aus dem Anti gegen die jeweils andere Seite.
Umso schriller die libertäre Seite sich positioniert, desto mehr folgt das andere Lager ihrer volkstümelnden Sympathie für die „ganz normale“ Bevölkerung – und umgekehrt. Die Selbstverortung in der Absetzung vom Gegenteil verkennt die Gegenfixierung.
Die negativen Attribute des Gegenteils dienen als Alibi des eigenen Standpunkts. Die betroffenen Standpunkte bleiben so Gegenstandpunkte, hegen aber von sich selbst die wohlmeinende Auffassung, sie könnten aus sich selbst heraus existieren.
Literatur:
Creydt, Meinhard 2010: Die Ambivalenzen gegenüber kriminellem Handeln. In: Telepolis 12.7.2010
Creydt, Meinhard 2019: Krysmanskis Geschichten von tausend und einer Jacht. Zentrale Fehler regressiver Kapitalismuskritik. In: Kritiknetz August 2019.
Creydt, Meinhard 2021: T. Eagletons Analyse und Kritik populärer postmoderner Denkweisen. RLS-Papers 2021/1
https://www.rosalux.de/publikation/id/45141/terry-eagletons-analyse-und-kritik-populaerer-postmoderner-denkweisen
Creydt, Meinhard 2022: Ist die Existenzberechtigung der Marktwirtschaft ewig haltbar? In: Telepolis
Creydt, Meinhard 2023: Die Antriebe für wirtschaftliches Handeln in einer Gesellschaft des guten Lebens. In: Junge Welt 26.1. 2023, S. 12f. / www.meinhard-creydt.de/archives/1554
Demirovic, Alex 2007: Wirtschaftsdemokratie. In: Ulrich Brand, Bettina Lösch, Stefan Thimmel (Hg.): ABC der Alternativen. Hamburg
Demirovic, Alex 2016: Ihr repräsentiert uns nicht. In: Luxemburg, H. 3
Meltzer, Steffen 2022: Ein Berliner Polizei-Einsatz und die Welle der Empörung. https://www.tichyseinblick.de/meinungen/berliner-polizei-einsatz-empoerung/
Münch, Richard 1998: Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Frankfurt M.
Schäfer, Alfred 2004: Alterität: Überlegungen zu Grenzen des pädagogischen Selbstverständnisses. In: Zeitschrift für Pädagogik, 50. Jg., H. 5
Wagenknecht, Sahra 2022: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt M.
Wendl, Michael 2013: Machttheorie oder Werttheorie. Die Wiederkehr eines einfachen Marxismus. Hamburg