(in: Telepolis 8.5.2022)
Verbreitet ist die Parole “Wer einem Erpresser nachgibt, ermuntert ihn”. Wie sehen die Folgerungen aus?
Befürworter von deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine betonen gern, wie wichtig es sei, vor der russischen Aggression nicht zurückzuweichen. Werde die russische Armee nicht auf das entschiedenste bekämpft, so wisse niemand, in welche Länder Putin demnächst einmarschiere.
Dieses Argument sieht beflissen von einer Kleinigkeit ab: Auch der russischen Führung dürfte nicht verborgen geblieben sein, auf welche Schwierigkeiten sie mit ihrem Militäreinsatz bereits auf ukrainischem Boden trifft. Die jährlichen Ausgaben für das Militär in Russland beliefen sich 2021 auf 65,9 Milliarden US-Dollar, in Deutschland auf 56, im Vereinigen Königreich Großbritannien auf 68,4 und in den USA auf … 801 Milliarden US-Dollar.
Das russische Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2021 (1.648 Milliarden US-Dollar) war so groß wie das von Belgien und den Niederlanden zusammen und betrug ein Zehntel der Wirtschaftsleistung der EU. Wer der russischen Armee zutraut, bis zur Ostsee vorzustoßen, muss über ein exklusives Spezialwissen verfügen.
Gibt es nicht doch noch einen riesigen Geldschatz und eine konventionelle zweite russischer Armee mit gigantischer Personal- und Waffenstärke? Blieben beide bislang in den unermesslichen Weiten des russischen Hinterlands sicher versteckt?
Verbreitet ist die Parole “Wer einem Erpresser nachgibt, ermuntert ihn.” Diejenigen, die diese Krimi-Weisheit auf den militärischen Kampf gegen die russische Armee in der Ukraine übertragen, haben keine Antwort auf die russische “Eskalationsdominanz” (Johannes Varwick). Das konventionelle Eskalations-potenzial der russischen Armee weist enge Grenzen auf (vgl. dazu den instruktiven Artikel von Andreas Rüesch in der NZZ vom 5.5.2022).
Der Unterschied
Aber die russische Armee verfügt über Atomwaffen. Das unterscheidet sie von vielen anderen Armeen in Gegenwart und Vergangenheit. Wer heute die historische Erfahrung mit der Appeasement-Politik gegenüber Hitler ins Feld führt, betont eine Gemeinsamkeit: In einem rein konventionellen Krieg wären das Nazi-Deutschland von 1938 und das gegenwärtige Russland besiegbar. Der Appeasement-Hinweis übergeht aber den entscheidenden Unterschied: Nazideutschland verfügte über keine Atomwaffen, Russland schon.
Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright starb einen Tag, bevor die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. “Meine Denkweise ist München”, war ein von Albright (Jahrgang 1937) häufig zu hörender Satz, der auf das Münchner Abkommen 1938 anspielte, mit dem die Tschechoslowakei Nazi-Deutschland einverleibt wurde. Albright musste mit ihrer jüdischen Familie aus der Tschechoslowakei fliehen.
Manche zogen und ziehen aus der Ablehnung der Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland problematische Schlüsse. Albright hat exzessive Sanktionen gegen als zutiefst “böse” angesehene Regimes für legitim erachtet.
Cyrus Salimi-Asl: Notfalls auch mit Gewalt
Das Statement von Außenministerin Baerbock zu den Sanktionen gegen Russland – “Das wird Russland (!) ruinieren” (Die Welt, 25.2.22) – ist also noch steigerungsfähig.
Wer betont, er würde sich durch den russischen Atomwaffenbesitz nicht erpressen lassen, gibt seine Gesinnung als mutige Privatperson kund. Politische Mächte stellen sich den Realitäten. Und das gilt auch und gerade für diejenige Nation, die die Ukraine am stärksten unterstützt: die USA.
Am 5. Mai teilen Patrick Diekmann und Johannes Bebermeier mit:
Patrick Diekmann und Johannes Bebermeier, Vier Szenarien im Ukraine-Krieg
Der Einsatz dieser Sorte kleineren Atomwaffen “würde wahrscheinlich zu einer schnellen Aufgabe der Ukraine führen und wäre vor allem dann denkbar, wenn Putin keinen anderen Ausweg mehr sieht. Für diesen Fall haben Länder wie die USA schon angekündigt, dass sie nicht unbedingt in der Ukraine intervenieren würden. Das steigert natürlich auch die Versuchung im Kreml.”
Das Risiko des Einsatzes kleiner Atomwaffen steigt in dem Maße, wie die russische Führung keine Erfolge im Ukraine-Krieg vorweisen kann und es für sie keinen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Konflikt gibt. Diese Aussage über die Realität zu treffen, heißt nicht, das russische Vorgehen zu verharmlosen oder gutzuheißen.
Faktische Eskalationsdynamik und normative Bewertung des Kriegsgeschehens
Die Beschreibung der faktischen Eskalationsdynamik und die normative Bewertung des Kriegsgeschehens sind strikt auseinanderzuhalten. Niemandem in der Ukraine nutzt es, auf der moralisch richtigen und legitimen Seite zu stehen, wenn eine Region der Ukraine durch einen Atomwaffeneinsatz zerstört wird. Wer sich das Recht der Ukraine auf territoriale Integrität auf die Fahne schreibt, soll dieses Recht ins Verhältnis setzen zu den Opfern, die der Einsatz kleiner Atomwaffen fordern würde.
Wer auf diese Gefahr hinweist, ist kein Putin-Freund. Im Gegenteil. Florian Harms schreibt zu Recht:
Einerseits wird in der deutschen Öffentlichkeit Putin nach Kräften dämonisiert. Andererseits verdrängen Befürworter eines Kriegs für westliche Werte gegen Russland auf dem Boden der Ukraine mit Fleiß das atomare Risiko.
Zur Dämonisierung Putins bzw. der russischen Staatsführung gehört, in der imperialen großrussischen Rhetorik von Putin einen willkommenen Beleg für das eigene Feindbild zu sehen. Dann braucht ein Motiv für das Vorgehen gegen die Ukraine gar nicht mehr in der Diskussion vorzukommen.
Reaktionäre Ideologeme und Realismus
Es besteht darin, dass die russische Führung das Zurückdrängen Russlands (Nato-Osterweiterung, Engagement des Westens in der Ukraine) nicht länger widerstandslos hinnehmen will und auf frühere russische Verhandlungsbereitschaft vom Westen nicht eingegangen wurde (vgl. zur Vorgeschichte des Konflikts die informative und solide Darstellung von Jürgen Wagner).
Reaktionäre Ideologeme in den Köpfen der russischen Staatsführung sind das eine. Von großrussischen Visionen und demagogischen Versuchen, Akzeptanz für den Krieg zu mobilisieren, lässt sich aber nicht umstandslos auf die realen Motive und strategischen Ziele der russischen Seite schließen. Staatenlenker wollen sich nicht nachsagen lassen, sie seien nur kalte Technokraten und hätten weder Vision noch Mission.
Das politische Führungspersonal meint von Zeit zu Zeit, es brauche sinnstiftende und mobilisierende Worte an die Bevölkerung. Viele haben früher die Rhetorik von George W. Bush (”Ich bin ein Kriegspräsident, wenn ich Entscheidungen treffe, dann denke ich immer an den Krieg”) sowie die von Ronald Reagan (”Die Sowjetunion – das Reich des Bösen”) für gefährlich gehalten, ohne sie mit den realen Zielen der US-Politik zu verwechseln.
Von Madeleine Albright stammt übrigens der Satz “Aber wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann deshalb, weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation” (Interview 1998 mit dem US-Fernsehsender NBC).
Konsequenzlogische Stringenz und konkrete Lage
Der Einwand “Wer Putin jetzt Zugeständnisse macht, kann übermorgen sicher mit seiner nächsten Erpressung rechnen” beansprucht ein logisches Argument. In der Politik geht es aber um konkrete Lagen und Räume, nicht um konsequenzlogische Stringenz. Selbst der “üble Mensch” Putin macht keinen beliebigen Gebrauch von der Drohung mit dem Einsatz kleiner Atomwaffen.
Die russische Staatsführung weiß, dass ein Angriff auf Nato-Länder den Bündnisfall und damit den dritten Weltkrieg auslösen würde. Die USA haben klargestellt, dass dies für den Einsatz von kleinen Atomwaffen auf dem Boden der Ukraine nicht gilt. Bernie Sanders erklärt zu Recht:
Bernie Sanders
Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Er betont zu Recht die Notwendigkeit “kluger Realpolitik”.
Gregor Gysi spricht am 6. Mai in einem Interview mit dem Deutschlandfunk von der Unterscheidung zwischen einer faktischen und einer juristischen Anerkennung.
Manchen reaktionären Staatsführungen in Osteuropa, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht viel im Sinn haben, kommt der Ukraine-Krieg wie gerufen. Endlich sind ihre Differenzen mit der EU kein Thema mehr. Besonders die polnische Regierung drängt andere Staaten zu einer militärischen Unterstützung der Ukraine, die den Krieg nur verlängert und eskaliert.
Mariana Sadovska hat den häufig anzutreffenden Fanatismus auf den Punkt gebracht. Die ukrainische Sängerin und Komponistin, die seit 2002 in Köln lebt, tat das nicht irgendwo, sondern auf einer Veranstaltung am 28.3. im Kanzleramt. Einige Minuten, nachdem dort Kanzler Scholz geredet hatte, sagte Sadovska:
In den letzten Wochen ist in der deutschen Öffentlichkeit nur noch von Militär und nicht mehr von Diplomatie die Rede. Aber die Notwendigkeit der beschriebenen diplomatischen Lösung bleibt ebenso bitter wie absolut.