Jan
28

(erschien in: Telepolis, 28.1.2022)

Manche Kommentare zu den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie heben die Teilnahme von Rechtsradikalen, die Gewaltaufrufe und Hetze in sozialen Medien hervor. Wir konzentrieren uns auf die Auffassungen der ganz „normalen“ Teilnehmer. Der Artikel befasst sich mit denjenigen, die alle Maßnahmen ablehnen und sie hochstilisieren zum Anlass, in den „Widerstand“ gegen eine „Corona-Diktatur“ zu treten. Ein anderes Thema sind diejenigen, die Einwände gegen einzelne Maßnahmen und einzelnes staatliches Vorgehen haben, aber insgesamt zum Schluss kommen: Maske, Impfung, Kontakteinschränkungen und ähnliches sind das sehr viel kleinere Übel als alles, was ohne diese Maßnahmen droht. Beide Gruppen sind zu unterscheiden. Ein Vergleich kann das verdeutlichen. Es gibt Leute, die staatliche Steuern generell ablehnen, und andere, die bei einzelnen Steuervorgaben meinen: „Hier wird mir im Vergleich zu anderen Gruppen unverhältnismäßig viel abverlangt. Andere werden bevorzugt!“ Da lässt sich endlos über das Für und Wider streiten sowie Belastungen gegeneinander ausspielen.

Die Kritik an einzelnen Schritten in der Covid-Bekämpfung führt zu nichtbeabsichtigten Effekten.
In der öffentlichen Debatte über die Politik gegen die Covid-Epidemie profilieren sich viele im Politikbetrieb und aus den Medien in der Manöverkritik an einzelnen Schritten. Damit geben sie denen ständig Futter, die Ernst machen wollen mit „alles Scheiße, was die Regierung macht“. Schnell lässt sich ein Mangel zu DEM Mangel erklären oder eine kleine Ungereimtheit aufblasen zu „die wissen nicht, was sie tun“.

In der Opposition gegen die Maßnahmen findet sich eine Koalition von Vetogruppen.
Sie lehnen etwas aus untereinander völlig verschiedenen und teils unvereinbaren Motiven ab. Die einen verarbeiten ihre schlechten Erfahrungen mit dem herrschenden Gesundheitswesen zu dessen pauschaler Ablehnung und schwören z. B. auf homöopathische Mittel. Andere haben Vorbehalte gegen die Impfung von Kindern. Wieder andere stören sich auf einmal an den Vorschriften, ohne bisher gegen Ampeln und Verkehrsregeln rebelliert zu haben. Andere nutzen die Demonstrationen, um es „den etablierten Parteien“ mal „so richtig zu zeigen“. Alle diese Gruppen eint nur das Anti. Eine konsistente Vorstellung, wie sich die Covid-Epidemie bekämpfen lässt, haben sie nicht. Und das stört sie auch nicht. „Permanente Aufregung ist Kennzeichen der Ignoranz. Wut ist dumpf, aber entschieden. Sie weiß alles, wovon sie nichts versteht. Ihre Empörung ist ihr heilig. Darunter macht sie es nicht. Und über sie kann sie sich nicht erheben. Der eigene Affekt erscheint nicht verdächtig, er ist vielmehr dieses Bürgers feste Burg. Er setzt sich in Gang, ohne von sich wissen, geschweige denn sich erforschen zu wollen. Er tritt auf als Lösung, nicht als Problem“ (Franz Schandl: Die Wut und ihre Bürger. In: Streifzüge, Wien, Nr. 54, S. 42).

Egozentrismus
„Der Staat darf mir nicht verbieten, ins Restaurant zu gehen und meine Freunde zu treffen“ (Teilnehmerin an Demonstration, Tagesschau 15.1.22). Ihre Bewegungs- und Konsumfreiheit steht der Dame an erster Stelle. Vom Grundgesetz ist bekannt, dass es sich für die freie Entfaltung der Persönlichkeit ausspricht. Beflissen sehen viele davon ab, dass in Artikel 2 die Grenze dieser freien Entfaltung genau dort gezogen wird, wo die individuelle Ausübung der Freiheit die Rechte anderer verletzt. Das schließt den Schutz der Gesundheit und des Lebens anderer ein. Ein Grundrecht, andere anstecken zu dürfen, gibt es nicht. Nicht überall, wo „Einschränkung der eigenen individuellen Freiheit“ drauf steht, ist Schützenswertes im Spiel. Jedenfalls beklagen auch die Gegner des Tempolimits, die Freunde des privaten Waffenbesitzes und der Kinderpornographie bitterlich so manche harte Einschränkung, der sie unterliegen. Marius Müller-Westernhagens Schlager-Parole „Freiheit, Freiheit ist das einzige, was zählt“ ist – vorsichtig gesagt – etwas zu kurz gedacht.

„Es muss jeder wissen, wie er sich persönlich schützt.“ So sprechen Egozentriker. Was die Folgen des eigenen Verhalten für andere sind, ist ihnen gleichgültig. Maskentragen als Schutz davor, andere anzustecken – das mag ihnen nicht einleuchten. Ebensowenig die Impfung als Maßnahme, um dem Virus möglichst wenig neue Gelegenheiten zur Ausbreitung und Mutation zu geben. Die Gegner aller Maßnahmen zur Einschränkung der Covid-Epidemie achten sehr auf ihre eigenen Grundrechte. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit anderer und das Recht auf Leben von Covid-Risikogruppen meinen sie damit nicht.

„Menschen müssen für sich selbst sorgen. Wenn jemand Angst hat, soll er eben zu Hause bleiben“ (Wolfgang Kubicki (FDP) in der Sendung „Anne Will“ vom 10.5.2020). Die heilige Dreieinigkeit dieses Individualismus lautet: Selbstbestimmung – Selbstverantwortung – Selbstbeschuldigung. Die Propaganda ist bekannt: „Wirst Du krank, dann bist Du selbst schuld. Du hast zu wenig für Dein Immunsystem getan.“ Umgekehrt denken viele Covid-Ignoranten: Ich bin jung, ich bin stark, mich triffts schon nicht. Und wer sich stark fühlt, tritt unbekümmert für das Recht des (vermeintlich) Stärkeren ein.

Der maßlose, aber selektive Verdacht und seine Vorbehalte
Pharmaunternehmen machen mit Medikamenten Profit. Viele Covid-Demonstranten verbinden diese „Information“ mit der Erinnerung daran, dass manche Medikamente sich als gefährlich erwiesen haben und vom Markt genommen wurden. Wie hoch dieser Anteil an allen Medikamenten ist, können Impfverweigerer, wenn man sie danach fragt, nicht angeben. Vor dem Gebrauch eines Autos schrecken dieselben Personen nicht zurück. Dabei können sie nicht mit 100%iger Sicherheit ausschließen, dass ein in ihrem Fahrzeug vorliegender Fehler sie möglicherweise in Gefahr bringt. Den Covid-Impfstoffen wird angelastet, sie seien relativ schnell auf den Markt gekommen. Das genügt Impfskeptikern für ihre Ablehnung. Sie beruhigt nicht, dass die „in Deutschland zugelassenen Impfstoffe das übliche Prüfverfahren der EU durchlaufen haben und die hohen europäischen Sicherheitsstandards erfüllen. Das heißt, die Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit der zugelassenen Impfstoffe wurden […] überprüft […] – nur, dass es diesmal schneller ging, weil alle relevanten Schritte parallel statt – wie sonst üblich – hintereinander stattfanden“ (https://www.zusammengegencorona.de/impfen/aufklaerung-zum-impftermin/10-gruende-sich-jetzt-gegen-das-coronavirus-impfen-zu-lassen/)
Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Epidemie haben ein unbestimmtes Misstrauen. Ein vager Verdacht lässt sich nicht ausräumen. Er sichert dem, der ihn hat, das Selbstbewusstsein, nicht naiv zu sein. Das hindert die Betroffenen in vielen Fällen sonst nicht daran, Medikamente mit massiven Nebenwirkungen einzunehmen. Beim Covid-Impfstoff wird die Angst vor Impfschäden aber auf einmal zum Ausschlussgrund. Dabei liegt „das Risiko einer schwerwiegenden Nebenwirkung nach einer Covid-19-Impfung bei gerade einmal 0,02 Prozent. Deutlich größer ist dagegen die Gefahr, dem Coronavirus ungeimpft zu begegnen: Jede zehnte Person, die sich infiziert, muss mit einem schweren Verlauf der COVID-19-Erkrankung rechnen (rund 10 Prozent)“ (Ebd.).
Der Alles-oder-nichts-Logik entspricht auch das Argument: „Es gibt Impfdurchbrüche, also schützt die Impfung nicht“. Wenn z. B. der Impfstoff von BioNTech eine Wirksamkeit von 95 Prozent aufweist, dann reicht das den Impfgegnern nicht aus. Auf die medizinische Erklärung lassen sich diejenigen nicht ein, denen es genügt, irgend etwas Negatives gegen die Impfung zu hören, ohne sich selbst ein umfassendes Bild von der Problematik zu machen. „Um bei einer Atemwegsinfektion komplett geschützt zu sein, brauche ich viele Antikörper direkt auf den Schleimhäuten. So gelingt es dem Organismus direkt am Eintrittsort gegen das Virus vorzugehen. Die Menge an Antikörpern nimmt aber mit der Zeit ab und so kann man sich nach einer gewissen Zeit vielleicht nicht mehr direkt gegen die Infektion wehren. Und dennoch ist man wegen der Gedächtniszellen, die sich zwischenzeitlich gebildet haben, weiterhin vor einer schweren Erkrankung geschützt. Insgesamt infizieren sich Nicht-Geimpfte sechs- bis zehnmal so häufig wie Geimpfte. Über 90 Prozent der Patienten, die mit einem schweren COVID-Verlauf im Krankenhaus liegen, sind ungeimpft“ (Prof. Dr. Carsten Watzl, zit. in https://www.apotheken-umschau.de/krankheiten-symptome/infektionskrankheiten/coronavirus/covid-19-was-experten-zu-impfzweifeln-sagen-821933.html).
Dass sich auch Geimpfte anstecken können, ist ein anderes gern geäußertes Argument. Wer es gegen die Covid-Impfung vorbringt, macht diesen Vorbehalt aber in anderen Situationen nicht geltend. Wenigstens ist die These „Wenn es stark regnet, spann ich den Schirm nicht auf, weil durch Wind oder Richtungswechsel des Regens ich trotz Schirm einen Tropfen abbekommen könnte“ selten zu hören.
Bei den Gegnern aller Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Epidemie ist viel Verdacht anzutreffen, wer alles „eigentlich“ „wirklich“ hinter dieser Politik stecke und „uns“ an der Nase herumführe. Dieser phantasievollen Betätigung des Verstand geht aber einher mit einem Mangel an Vorstellungskraft bei einer naheliegenden Frage: Wie würde es heute aussehen, wenn man vor Jahren nicht die Zwangsimpfung gegen die lebensgefährlichen Pocken mit Erfolg durchgesetzt hätte? Bei Impfungen gegen Covid werden die gleichen Leute rebellisch, die bei jeder Flugreise z. B. nach Afrika sich selbstverständlich impfen lassen. Wenig war bislang davon zu hören, dass Touristen zu Fachleuten in Sachen Impfstoff-Gefahren wurden und sich zu Demonstrationen gegen „die Impf-Diktatur“ zusammenschlossen.

Souveränitätssimulation
Auf einem Plakat bei einer Demonstration war zu lesen: „Gehorsamszeichen wie Hitlergruß, Genossengruß und Alltagsmasken gehören verboten!!!“ Wie ein Kind in der Trotzphase befolgen viele ein Gebot schon deshalb nicht, weil es von außen oder von oben kommt. „Ich kann doch machen, was ich will.“ Zwangsmaßnahmen werden notwendig, weil immer noch über 20 % der Bundesbürger trotz vieler guter Argumente für die Impfung diese unterlassen. Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung der Covidpolitik sehen das genau umgekehrt: Weil es eine Kampagne gibt, deshalb wittern sie einen fremden Willen und Inhalt. Weil konzentriert für ein bestimmtes Verhalten mit Argumenten geworben wird, fühlt sich der selbsternannte Freigeist bevormundet: „Ich lasse mir von niemand reinreden!“ Dass man mir eine Veränderung meines Verhaltens nahelegt, daran nehme ich Anstoß und lasse mich erst gar nicht auf die sachliche Prüfung der vorgebrachten Argumente ein. Autonomie wird mit Trotz verwechselt. Das ausgestellte Freiheitsverständnis ähnelt einem Vulgär-Existenzialismus. Für ihn „ist nicht so entscheidend, w a s ich wähle, als vielmehr dass i c h es bin, der wählt“. Das gleicht einer „Art pubertärer Ethik“ (Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Stuttgart 1997, S. 114).
In einem Interview mit einer Sozialpsychologie-Professorin zu den Demonstrationen heißt es: „Wir stellen auf jeden Fall fest, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gibt, die bei den Protestierenden gehäuft auftreten. Dazu gehören auch Macchiavellismus, also ein hohes Misstrauen gegenüber anderen Menschen und Institutionen und der Glaube, dass man angelogen wird und nichts von sich selbst preisgeben darf. […] Narzissmus spielt ebenfalls eine Rolle, also das Gefühl, man sei etwas Besonderes und die allgemeinen Regeln gelten nicht für einen selbst“ (Julia Becker, Tagesspiegel 1.9.2020).
Es handelt sich bei der großen Mehrheit der Demonstrationsteilnehmern um Leute, die sonst keineswegs protestieren angesichts der Zwänge, denen sie unterliegen. Viele sind lohnabhängig oder als kleine Selbständige abhängig von Bankkrediten und Auftraggebern. Viele sehen die kapitalistische Marktwirtschaft und die Kapital-Akkumulation bei aller Manöverkritik im Einzelnen im Großen und Ganzen als „alternativlos“ an. Sie akzeptieren das Privateigentum an Wohnungen und finden nichts dabei, die Miete und die Steuern zu zahlen. Nur bei Corona wollen sonst fügsame und „verständige“ Untertanen auf einmal sich und anderen beweisen: „ICH lasse mit MIR nicht ALLES machen.“ Dabei meinen sie häufig nur: Wenigstens an einem Punkt soll sich mal etwas nicht ändern. An allerhand Zumutungen des Erwerbs- und Geschäftslebens sind sie gewohnt. In den Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Epidemie bemerken sie etwas, das ihre Gewohnheiten stört und das zu verweigern sie sich zutrauen. „Widerstand“ erscheint hier auf einmal ganz einfach: Die Maske nicht tragen und die Impfung verweigern – das kann jede(r). Dazu gehört nicht viel. Während die meisten sonst keine Möglichkeit sehen, wie sie sich wirksam wehren können, ist das individuelle Unterlassen hier leicht möglich. In dem Maße, wie die „Spaziergänge“ an Zulauf gewinnen, werden sie interessant. Auch viele, die sich bislang nicht sonderlich mit dem Sachthema befasst haben, bemerken: Wir haben endlich mal ein Ventil, unseren diffusen Frust abzulassen, und eine Chance, „denen da oben“ es mal „zu zeigen“. So blind ist dieser Protest, dass er nicht bemerkt, wen die Verweigerung der Impfung durch eine Minderheit tatsächlich trifft.
Auf der Berliner Demonstration am 29.8.2020 sind einige ältere Männer zu sehen mit weißen T-Shirts und dem Slogan: „Ich habe meine Eier wiedergefunden.“ Vielen geht es offenbar mehr um Symbolpolitik und Souveränitätssimulation als um eine sachgerechte Einschätzung der Lage. Corona bildet den Anlass für Leute, die meinen, sich selbst und anderen unbedingt wenigstens einmal demonstrieren zu müssen, wie eigenständig sie seien. Wer daran Gefallen findet, offenbart zugleich die Meinung, seine oder ihre Autonomie bestehe darin, … eine Mund-Nasen-Maske n i c h t aufzuziehen. Das Missverhältnis zwischen dem Engagement für die große Freiheit und der kleinen Maske fällt Corona-Demonstranten nicht auf. Vielmehr lautete – in Anlehnung an Ronald Reagans Parole „Tear down this wall“ in seiner Rede am 2.6.1987 vor dem Brandenburger Tor – eine Parole am 29.8.2020: „Tear down the masks!“ Im Berliner Dialekt hört sich der Einwand zu solch exzentrischen Exaltationen so an: „Hamm ses nich ne Numma kleena?“

Das Freiheitsverständnis
Teilnehmer an der Marktwirtschaft sehen ihre Freiheit darin, ihrem speziellen Privatinteresse, das anderen Privatinteressen entgegensteht, zu folgen. Sie wollen sich dafür die eigene Arbeit, das eigene „Investment“ und die „Geschäftspartner“ aussuchen. In der Marktwirtschaft ist immer der Übergang angelegt von einem individuellen Gebrauch der eigenen Freiheit, der die Interessen anderer bei der Durchsetzung des eigenen Interesses wohl oder übel taktisch-instrumentell berücksichtigt, zu einem Freiheitsverständnis, das sich von dieser Beachtung anderer Interessen löst. Einige Maximen der Marktwirtschaft lauten: „Jeder ist sich selbst der Nächste. Mir hilft niemand, warum sollte ich jemand helfen? Wer sich auf andere verlässt, ist verlassen. Verschon mein Haus, zünd andere an (St. Florians-Prinzip). Wenn andere die Gesetze einhalten, soll’s mir sehr recht sein; meine Ausnahme gönn’ ICH mir!“ Die Auffassungen vieler Demonstranten gegen die Covid-Politik stellen eine Variante dieser ganz normalen ideologischen Auffassungen dar.