(in: Telepolis 18. 12. 2021)
Mit dem Wort „Machtspiele“ wird häufig etwas bezeichnet, das alles andere als spielerisch ist. Personen, die sich gern als „Alpha-Tiere“ aufführen, freuen sich an ihrem Überlegenheitsgefühl und Dominanzverhalten. Sie sind stolz auf ihre Fertigkeiten, anderen gegenüber Geringschätzung zu zeigen, sie kleinzumachen und an den Rand zu drängen. Sie leisten es sich, ihre Backen aufzublasen wie ein Ochsenfrosch, um mit aggressivem Imponierverhalten autosuggestiv genügend Stärke aufzutanken. Viele trainieren ihre Überheblichkeit und ölhäutige Unirritierbarkeit. Sie wollen Helmut Kohls und Joseph Fischers einschüchternden Machtgebärden gegenüber Parlamentariern oder Journalisten nacheifern: „Mir kann keiner! Gegen mich habt Ihr keine Chancen und seid nur kleine Wichte!“ Wer nicht Chef sein kann, dies aber unbedingt sein möchte, verhält sich zumindest bossy und arrangiert möglichst viele Situation so, dass sie sich für die Selbstermächtigung zum kleinen Nebenherrscher eignen. Solche Zeitgenossen meinen stark zu sein, wenn sie eine andere Person ab- oder entwerten. Sie wollen als „Bestimmer“ auftreten, andere entweder aus einem Feld ausschließen oder sie dominieren, kontrollieren oder manipulieren. Es gilt solche Situationen herzustellen, in denen im Unterschied zu Solidarität und Kooperation ein oben/unten-Gefälle möglich wird. Gesucht wird zudem nach Claqueuren, die dem Dominanzverhalten Beifall zollen.
Individuelle Macht über andere Individuen unterscheidet sich von Konkurrenz auf anonymen Märkten. Hier setzt sich der Anbieter durch, der ein gegebenes Produkt mit geringstmöglichen Kosten produziert oder ein qualitativ besseres Produkt auf den Markt bringt. Der eine Anbieter wirkt meist nicht direkt auf einen anderen Anbieter ein. Die Macht von Privatpersonen über andere Individuen unterscheidet sich auch von Hierarchien in Betrieben und Organisationen. Die Individuen finden hier Ordnungen vor, die festlegen, wer auf welcher Stufe gegenüber welchen untergeordneten Stellen in Bezug auf welche Aspekte weisungs- oder kontrollbefugt ist. Persönliches Machtgebaren gegenüber anderen Personen kann sich in formalisierten Hierarchien, wie sie in Betrieben und Organisationen existieren, einnisten. Es bestimmt aber nicht deren hauptsächliche Zwecke und Wirkungen, sondern hat Einfluss auf die jeweiligen subjektiven Um- und Durchsetzungsvarianten.
In der bürgerlichen Gesellschaften herrscht die Fremd- und Selbsterwartung, das Individuum möge ein starkes Subjekt sein. Dem Individuum werden Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung und Selbstverantwortung als Aufgaben zugeschrieben. Es versteht sich auch selbst im Horizont dieser „Herausforderungen“. Die Diskrepanz zwischen ihrer Realität und den Fremd- und Selbsterwartungen, ein starkes Subjekt zu sein, verarbeitet die betroffene Person häufig so, dass sie ein eigenes Versagen annimmt. Dieses Gefühl möchte sie verdrängen. Angriff erscheint vielen als die beste Verteidigung. Die Diskrepanz zwischen Soll und Ist gilt es zu überspielen – mit „Aufschneiderei, expansiver, selbstdarstellerischer Aggressivität, Gewalttätigkeit gegenüber Schwächeren“ (Holzkamp-Osterkamp 1976, 446). „Die Ohnmachtsangst“ wird „durch unkritische Selbstüberschätzung, die passive Auslieferung [...] durch gewaltsame Überaktivität in Schach gehalten“ (Richter 1979, 30).
Verarbeitung von Erfahrungen mit Konkurrenz und Hierarchien
Andere Motive für Machtspiele resultieren aus einer recht speziellen Verarbeitung von negativen Erfahrungen mit Konkurrenz und Hierarchien. Individuelles Machtverhalten soll häufig die Erfahrung kompensieren, nichts das Sagen zu haben und kein starkes Subjekt zu sein. Das Einverständnis mit Konkurrenz und Hierarchien sowie die Bejahung von Privateigentum und von Einzelkämpfertum begünstigen Machtspiele. Der bürgerlichen Form des Subjekts ist die Dreieinigkeit von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung eigen. Die Neigung, sich in Machtspielen zugunsten der eigenen Person zu engagieren, fällt umso größer aus, desto mehr die Überzeugung herrscht, jede Person sei für ihre Position in der Konkurrenz selbst verantwortlich und ihres Glückes Schmied. Misserfolg zieht dann Selbstbeschuldigung nach sich. Diese motiviert manche Personen dazu, ihre Soll/Ist-Bilanz subjektiv dadurch aufzubessern, dass sie Negativ-Vergleiche anstellen. Ein ungünstiger Boden für individuelle Machtspiele besteht allerdings dort, wo die Betroffenen kollektiv ihre Lage verbessern wollen. Dann folgen sie nicht einer individuellen Rette-sich-wer-kann-Orientierung zulasten der eigenen Kollegen. Persönliches Machtverhalten wird umso wahrscheinlicher, desto weniger das Individuum in der Lage ist, überhöhte (überkompensatorische) Erwartungen an sich selbst zu korrigieren oder die Kluft zwischen eigenem Soll und Ist mit der Entwicklung eigener Fähigkeiten und Vermögen bzw. mit produktiver Wirklichkeitsaneignung zu begegnen oder an entsprechende kollektive Formen des Engagements teilzuhaben. Individuelle Machtspiele sind umso wahrscheinlicher, desto stärker in der Gesellschaft „man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität“ (Elias 1987, 21).
Einen Verstärker für individuelle Machtspiele bilden negative Einschätzungen bzw. das entsprechende Menschenbild: Menschen seien nun einmal, so heißt es dann, egoistisch und unzuverlässig, unfähig und undiszipliniert. Unter Voraussetzung dieser Sichtweise erscheint das eigene Macht-Verhalten als realistisch. Gewiss wird heute niemand offen sagen „Bei so viel Untermenschen braucht es Übermenschen.“ Viele, die an individuellen Machtspielen Gefallen finden, denken aber so. Es gebe eben wenige Vollwertige wie man selbst und (zu) viele Minderwertige.
Die Willkür persönlicher Überlegenheit
Die bestehenden Rang- und Positionsunterschiede in den Bereichen, auf die es gesellschaftlich wirklich ankommt (Wirtschaft und Politik), bilden den Resonanzboden für persönliche Machtspiele. Wer sich für seine individuelle Selbsterhöhung allerdings nicht auf die gesellschaftlich maßgeblichen Kriterien berufen kann, sucht nach anderen Möglichkeiten. Die kulturellen Lebensstile bilden ein Terrain, in dem allerhand Distinktionsgewinne im „Spiel sich gegenseitig ablehnender Ablehnungen“ (Bourdieu 1982, 107) möglich sind. Die Distanzierung von anderen Geschmacksgruppen kann mit „Ekel“ und „Abscheu“ einhergehen. „Die ästhetische Intoleranz kann durchaus gewalttätig werden“ (Ebd., 105). Der Blick verschiebt sich sukzessive von den gesellschaftlich anerkannten Maßstäben in Geschäft und Arbeit zu eigenen, subjektiv und privat definierten Maßstäben. Schließlich geht es nur noch um denjenigen Vergleich, in dem man selbst stärker und besser dasteht. Zuletzt werden die Inhalte, auf die sich die Konkurrenz bezieht, gleich so definiert, dass man in ihr Sieger ist. Besonders bei Jugendlichen, aber auch im sog. abweichenden Verhalten gibt es eine Tendenz dazu, sich unabhängig von der gesellschaftlich maßgeblichen Konkurrenz als Sieger zu behaupten und Auseinandersetzungen zu provozieren, bei denen man als Sieger mit hoher Wahrscheinlichkeit feststeht. Per körperlicher Gewalt etablieren Jugendliche eine eigene Hierarchie. Die gängigen Inhalte der Konkurrenz beziehen sich auf das Geschäfts- und Erwerbsleben. Diese Inhalte verlieren dort subjektiv an Wert, wo die Kränkung des Selbstbewusstseins beim Misserfolg in der Konkurrenz wichtiger erscheint als die damit verbundenen materiellen Einbußen. Die Konkurrenz wird nun imaginär von diesen Anliegen getrennt und um das beraubt, was sie als Konkurrenz ausmacht: Dass es Sieger und Verlierer gibt. Nun geht es nur noch um eines: den Vergleich partout zugunsten der eigenen Person ausfallen zu lassen. „Die Absicht, unbedingt Sieger zu sein und als überlegene Person anerkannt zu werden, hat keinen anderen Inhalt als eben diesen. Diese (gewalttätigen – Verf.) Jugendlichen wollen ganz abstrakt die Überlegenen sein. Wo der Vergleich in der bürgerlichen Konkurrenz die Entscheidung über die Versetzung, einen Arbeitsplatz oder den Geschäftserfolg bringt, da kehrt sich bei ihnen alles um: Die Vergleichsinhalte – die Kleidung, die Gossensprache, die Körperkraft, die Waffen etc. – taugen nur soviel, wie sie das Ziel, im Vergleich den eigenen Sieg sicherzustellen, auch garantieren. Ihre Maßstäbe heißen also schlicht ‚Sieg’, ‚Macht’ über andere – ohne ein davon getrenntes ‚wofür’ und ‚in welcher Hinsicht’“ (Huisken 1996, 16). Außerhalb der objektiven maßgeblichen Hierarchien auf Märkten, in Betrieben und Organisationen wollen viele das darstellen können, was sie dort faktisch nicht sind: Vorgesetzter, Bestimmer, Entscheidungsträger über den Platz, den andere einzunehmen haben, Platzanweiser oder Torwächter am Eingang zu „wichtigen“ und begehrten Territorien. Wer die Verortung in der Position des „oben“ gegenüber anderen, die „unten“ stehen, meint unbedingt brauchen zu müssen, macht sich Gelegenheiten dafür zurecht. Die damit möglichen Praktiken unterscheiden sich nach dem Grad der individuellen Willkür, mit der ihr Inhalt ge- oder erfunden wird. Er bildet häufig nur den Vorwand, um individuelles Machtgebaren inszenieren zu können.
Das Persönlichkeitsideal
Eine andere Ursache für Machtspiele liegt im Persönlichkeitsideal. Verständlicherweise möchte das Individuum nicht nur ein Rädchen im Getriebe sein. Es bemerkt die negativen Effekte der Unterordnung, der Spezialisierung sowie der vielfachen gegensätzlichen Handlungsanforderungen, denen es ausgesetzt ist. Die vielbeschworene persönliche „Identität“ wird in dem Maße problematisch, wie das Individuum mit „Selbstsorge“ dafür zu sorgen hat, dass gegensätzliche Anforderungen es nicht zerreißen. Die faktisch stattfindende individuelle Existenz soll es als „eigenes“ Leben auffassen, wenn nicht sogar zum eigenen „Entwurf“ umdeuten. Das erfordert, wenigstens subjektiv Ordnung zu bewerkstelligen – bei objektiv-gesellschaftlicher Unordnung und untereinander nur schwer oder nicht zu vereinbarenden Handlungsanforderungen sowie undurchsichtigen Voraussetzungen und unabsehbaren Konsequenzen des individuellen Handelns. Von der „Identität“ geht das Individuum über zur „Persönlichkeit“.
„‚Menschen ohne Welt’ waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, ‚nicht für sie gebaut’ (Morgenstern), nicht für sie da ist (Anders 1993, XI). In problematischer Verarbeitung seiner Heimatlosigkeit in der Gesellschaft möchte das Individuum als vereinzelter Einzelner nicht nur selbstwirksam (Subjekt) sein. Als Persönlichkeit will es selbständig, abgeschlossen, ganz und eine Welt für sich sein. Als Persönlichkeit will das Individuum „etwas ganz für sich Bestehendes, auf sich selbst Beruhendes, aus sich selbst Erwachsenes, in sich selbst Vollendetes“ darstellen (Kranold 1923, 40). Die Sozialbeziehungen und das individuelle Sein-in-der-Gesellschaft erscheinen der Persönlichkeit als sekundär und als Terrain von peripheren „Außenhandelsbeziehungen“. Die Persönlichkeit pflegt von sich selbst den Schein, sie könne sich auf die Realität vorrangig nach Maßgabe ihrer persönlichen Souveränität einlassen. Die real beschädigte und zerrissene Existenz des Individuums in der Gesellschaft interpretiert die Persönlichkeit selbstwertdienlich als bloß äußere Schranke der inneren „eigentlichen“ Vollkommenheit. Dass die Selbstabrundung und Selbstaneignung dem Individuum oft nicht gelingt, daran leidet es. Das hält es aber keinesfalls davon ab, am Persönlichkeitsideal festzuhalten. „Der Lügner reagiert auf die Entlarvung seiner Lügen mit neuen Lügen, der Illusionist auf die Ernüchterung mit neuen Illusionen. Desillusionierung ist nicht nur Enttäuschung, sondern auch Beseitigung des Bedürfnisses nach Illusionen, sie ist die ermutigende Erkenntnis, das man ohne diese auskommen [...] kann“ (Sperber 1981, 124).
Die Gegensätze zwischen dem Persönlichkeitsideal des Individuums und seiner realen Existenz in der Gesellschaft kann es auf verschiedene Weise verarbeiten. Die einen kultivieren eine von der Außenwelt abgehobene Innerlichkeit. Sie inszenieren sich als distanzierte Person und pflegen ihren Abstand zur „Masse“. Die anderen widmen ihre Energie der Aufgabe, überall gegen wirkliche oder vermeintliche Verletzungen ihrer vorgestellten reichen Subjektivität zu protestieren. Wieder andere versuchen, per Machtspielchen sich als souveräne Persönlichkeit erleben zu können, denen es gelingt, im Kampf gegen Mitmenschen diese als misslungene Persönlichkeiten aussehen zu lassen oder hinzustellen.
Selbstschädigendes Verhalten
Persönliches Machtverhalten ist für die es aktiv betreibende Person um so attraktiver, desto weniger sie Bewusstsein für die mit diesen Praktiken verbundenen Selbstschädigungen hat. Wer auf herablassendes Dominanzgrinsen (à la Jack Nicholson) trainiert, dem sieht man bald an, dass er Verbundenheitslächeln nicht kann. „Weil sie nichts mehr für vertrauenswürdig halten, was von außen kommt, können sie keinem anderen zugestehen, über sie zu bestimmen. Beziehungen zu Mitmenschen sind ihnen nur dann erträglich, wenn sie darin eine herrschende Rolle einnehmen. [...] Ihr ganzes Leben geht also dahin, ihre Umwelt so zu manipulieren, dass sie sich zumindest beständig einbilden können, ihr Leben vollständig aus dem eigenen Willen zu bestimmen“ (Richter 1979, 32). Wem es auf die Selbsterhöhung durch Macht gegenüber anderen ankommt, der kann nur schwer zu Beziehungen gelangen, in denen es darum geht, die andere Person selbständig sein und eine freie Entwicklung nehmen zu lassen. Denjenigen Personen, die sich an Machtspielen orientieren, fallen vertrauensvolle Beziehungen zu „gleichrangigen“ Personen schwer. Kleine Machthaber bzw. diejenigen, die so etwas gern sein wollen, ähneln einem „Ritter, der nur mit geschlossenem Visier und geschwungenem Schwert einherzugehen wagt, und der nicht den Mut hat, seinen Panzer abzulegen. Im Grunde traut er niemandem außer denen, die er sich restlos unterworfen hat. Wirkliche Freundschaft, Bundesgenossenschaft oder Liebe hält er für Einbildungen, die es nur in Büchern gebe“ (Künkel 1954, 18). Vertrauensvoller Gedanken- und Gefühlsaustausch verträgt sich weder mit Überlegenheitsstreben noch mit dem Willen zum Schein (scheinhafte Stärke und Persönlichkeit). Das sich an persönlicher Macht orientierende Individuum folgt der Illusion, für die Friedrich Schiller in „Wilhelm Tell“ die Formel „Der Starke ist am mächtigsten allein“ geprägt hat. Sich an persönlichen Machtgefällen orientierende Personen verfügen zwar über Kenntnisse und Spürsinn, wie sie andere Personen instrumentalisieren können. Wem es aber massiv an Empathie und Wohlwollen fehlt, der verarmt existenziell. Und wem das „oben bleiben“ oder „nach oben kommen“ wichtiger ist als die Inhalte, um die es dabei geht, dessen Substanz verarmt und wird zusehends hohl.
Macht durch Schwäche
Ausgeklammert bleibt hier bislang diejenige Macht von Personen, die andere mit ihrer wirklichen oder vermeintlichen Schwäche, schlechten Gesundheit und anderen als ungerecht empfundenen „Defiziten“ oder „Schicksalsschlägen“ unter Druck setzen. Die Adressaten der wirklich oder vermeintlich Hilfebedürftigen leisten häufig Versorgungsdienste, um sich nicht schuldig fühlen zu müssen. Schon das verwöhnte und verzärtelte Kind lernt, sich selbst Schwierigkeiten und Anstrengungen zu ersparen, indem es andere Personen in seinen Dienst stellt und sie zu seinen Beschützern macht. Der „Krankheitsgewinn“, der sich mit Krankheitssymptomen erzielen lässt, trägt zu ihrem Fortbestand bei. „Bei vielen Menschen bedeutet die Angst nichts anderes, als dass jemand da sein muss, der sich mit ihnen beschäftigt. Wenn nur gar jemand das Zimmer nicht mehr verlassen kann, muss sich alles seiner Angst unterordnen. Durch das den anderen auferlegte Gesetz, dass alle anderen zu ihm kommen müssen, während er zu niemandem zu kommen braucht, wird er zu einem König, der die anderen beherrscht“ (Adler 1966, 209). Und die „zierliche Schelmerei und rührende Ohnmacht (des „Kindweib“ – Verf.) versetzen den, der sie wahrnimmt und erlebt, in jenen leichten Rausch von Selbstgefälligkeit und Edelmut, in dem er zu den sogenannten größten Dummheiten bereit wird“ (Rühle-Gerstel 1932, 97f.). Darüber hinaus existieren noch andere Möglichkeiten, Macht auszuüben: „Er liebt den Hausfrieden und unterwirft sich gern ihrem Regiment, um sich nur in seinen Geschäften nicht behindert zu sehen. Sie scheut den Hauskrieg nicht, den sie mit der Zunge führt und zu welchem Behuf die Natur ihr Redseligkeit und affectvolle Beredtheit gab, die den Mann entwaffnet“ (Kant 1964, 649). Selbstverständlich können auch Männer ihren Willen durch Demonstration ihrer Schwäche gegenüber Frauen durchsetzen oder dies zumindest immer wieder versuchen.
Schluss
Bereits 1925 heißt es: „Die neue Seelenkunde [...] zeigt, wie das gereizte Streben nach Geltung und Überlegenheit die Menschen seelisch distanziert und isoliert. [...] In einer Unmenge privater Konflikte und Kämpfe wird ein Riesenmaß seelischer Energie vergeudet“ (Rühle 1975, S. 163). Sebastian Herkommer hat auf dem Soziologentag 1991 in Leipzig zu Recht bemerkt, Bourdieu verallgemeinere das Bedürfnis nach Distinktion und setze es als von allen Gesellschaftsformen unabhängiges Bedürfnis ihnen voraus und behandele es insofern als eine quasi anthropologische Konstante. Wir haben demgegenüber in diesem Artikel einige für die bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie spezifische Voraussetzungen und Ursachen skizziert, die das Auftreten von individuellen Machtspiele allererst (objektiv) möglich und (subjektiv) nötig machen. Michel Foucault hat großes Aufheben von der unzutreffenden These gemacht, vor ihm sei Mikromacht noch nie analysiert worden. An Foucaults Darlegungen zur Mikromacht fällt auf, dass in ihnen die skizzierten negativen Momente von Macht keinen Raum bekommen. Dabei sorgen die Machtspiele und die für sie trainierten Destruktivqualifikationen für massiv abträgliche Effekte. Diese betreffen sowohl die Person, die individuelle Macht aktiv ausübt, als auch die Person, die sie erleidet. Die beschriebenen vielen kleinen Machtpraktiken haben verheerende Wirkungen auf die Lebensqualität und das Psychosozialprodukt. Sie verschmutzen die Innenwelt und vergiften die Sozialität.
Literatur:
Adler, Alfred 1966: Menschenkenntnis. Frankfurt M.
Anders, Günther 1993: Mensch ohne Welt – Schriften zur Kunst und Literatur. München
Bourdieu, Pierre 1982: Die feinen Unterschiede. Frankfurt M.
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Elias, Norbert 1987: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt M.
Holzkamp-Osterkamp, Ute 1976: Motivationsforschung. Bd. 2. Frankfurt M.
Huisken, Freerk 1996: Jugendgewalt – Der Kult des Selbstbewußtseins und seine unerwünschten Früchtchen. Hamburg
Kant, Immanuel 1964: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kant – Werke in zwölf Bänden, Bd. XII. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt M.
Kranold, Albert 1923: Die Persönlichkeit im Sozialismus. Jena
Künkel, Fritz 1954: Jugendcharakterkunde. Konstanz
Richter, Horst-Eberhard 1979: Der Gotteskomplex. Reinbek bei Hamburg
Rühle, Otto 1975: Der autoritäre Mensch und die Revolution. In: Ders.: Zur Psychologie des proletarischen Kindes. Frankfurt M.
Rühle, Otto; Rühle-Gerstel, Alice 1972: Erziehung und Gesellschaft. Berlin (Nachdruck der Zeitschrift ‚Am anderen Ufer – Blätter für sozialistische Erziehung?. Dresden 1924, 1925)
Rühle-Gerstel, Alice 1932: Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Analyse. Leipzig
Sperber, Manès 1981: Individuum und Gemeinschaft. Versuch einer sozialen Charakterologie. Frankfurt M.