(in: Telepolis, 26.5.2021)
Es kann gute Gründe dafür geben, staatliche Politik und staatliches Handeln zu kritisieren. Auf den Umkehrschluss ist aber kein Verlass: Keineswegs jede Person, die staatliche Maßnahmen beanstandet, tut dies aus Gründen, deren Inhalt Anerkennung verdient. In der Covid-Epidemie konzentrieren sich manche auf allerlei Kritik am „Obrigkeitsstaat“. Auffälligerweise fragen sie selten, welcher normative Standpunkt dieser Zeitdiagnose zugrunde liegt. Er besteht – so die These dieses Artikels – häufig in Missverständnissen über Freiheit in einer bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Marktwirtschaft.
Im Unterschied zu segmentären Gesellschaften mit sich selbst versorgenden Gemeinschaften finden wir gegenwärtig in Deutschland ein Gemeinwesen mit hoher Vernetzung von Produzenten und Konsumenten vor. Wir haben es mit einer vorher nicht erreichten „sozialen Dichte“ (Durkheim) zu tun und zugleich mit „marktlich induzierten Gleichgültigkeitsbarrieren“ (Novy 1986, 196) zwischen Produzenten, Konsumenten sowie von Produktion und Konsum indirekt Betroffenen. Es „wächst mit der Entwicklung der Geldverhältnisse [...] der allgemeine Zusammenhang und die allseitige Abhängigkeit in Produktion und Konsumtion zugleich mit der Unab-hängigkeit und Gleichgültigkeit der Konsumierenden und Produzierenden zueinander“ (Marx 1974, 78f., vgl. a. 74).
Innerhalb der Marktwirtschaft haben die Individuen wohl oder übel ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Der Vertrag bildet die Normalform der Geschäftsbeziehungen. Inhaltlich sind die Interessen der Vertrags„partner“ oft einander entgegengesetzt. Im marktwirtschaftlichen Tausch (Geld gegen Ware bzw. Dienstleistung) verfolgen die Teilnehmer ihren Sondervorteil oder ihr Privatinteresse. Zugleich müssen sich die Teilnehmer an Waren-, Konsum- und Arbeitsmärkten an die rechtlichen Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung halten. Diese überwinden allerdings nicht die Ursachen, die aus Kooperation eine antagonistische Kooperation machen. Die Motive dafür, Transaktionen mit anderen Marktteilnehmern einzugehen, und die für sie notwendige allgemeine Verkehrsordnung stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zu einander. Damit ist ein Übergang als Möglichkeit angelegt: Die an ihrem eigenen Privatinteresse Interessierten pflegen häufig einen instrumentellen Umgang mit den Regeln, die für die vertraglichen Interaktionen zwischen Marktteilnehmern vorgesehen sind. Sie nehmen diese Regeln nicht so genau, legen sie einseitig zu ihrem Vorteil aus, dehnen und übertreten sie und wissen Schlupflöcher auszunutzen. Manche gehen gar zu Betrug oder Gewalt über. Den meisten leuchtet hingegen ein, dass die Überwindung der Willkür – d.h. der Durchsetzung des eigenen Zwecks ohne die Berücksichtigung des anderen Subjekts mit seinen Zwecken – und der Verzicht auf kurzfristige Vorteilsnahme, Übervorteilungen, Vertragsverletzungen oder offene Gewalt letztlich auch im eigenen Interesse liegen: Im Unterschied zu einer Raub- und Abenteuerwirtschaft lassen sich die Geschäfte in dauerhaften und gesicherten Bahnen langfristig ertragreicher realisieren. Unabhängig von den in der Marktwirtschaft angelegten Motiven dazu, ihre Regeln zu übertreten, ist in ihr sowohl das Instrumentalisieren anderer für eigene Vorteile weit verbreitet als auch die „mir sind die anderen praktisch egal“-Variante. Letztere muss sich gar nicht offensiv artikulieren. Die Maxime „Rücksicht nehmen ist mir zu anstrengend“ reicht schon.
Im unmittelbaren Egoismus hat die Person einen egozentrischen Horizont. Sie sieht nur, dass eine andere Person ihr nutzen soll, nicht, dass im Tausch ein Verhältnis gegenseitigen Nutzens vorliegen muss, sich also zwei verschiedene Personen mit andere ausschließenden Privatinteressen miteinander einigen müssen. Egozentriker sehen allein ihre spezielle höchstpersönliche Freiheit und nicht die Erfordernisse, die daraus entstehen, dass eine Vielzahl von Personen im eigennützigen Gebrauch ihrer individuellen Freiheitsrechte nicht die Rechte anderer Personen (z. B. auf Schutz vor vermeidbarer Ansteckung) gefährden. Das bürgerliche Recht hegt den unmittelbaren oder einseitigen „Egoismus“ mit einer Verkehrsordnung unter den „Egoisten“ ein, nicht aber die Orientierung der Beteiligten an ihrem Sondervorteil und Privatinteresse. Auf Märkten gelten die „verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs“ dem Individuum „als bloßes Mittel für seine Privatzwecke, als äußere Notwendigkeit“ (Marx 1974, 6). Unter diesen Bedingungen ist es immer möglich, dass beim Individuum seine Erste-Person-Perspektive verwildert. Die individuelle Vorstellung vom Privatinteresse („Unter’m Strich zähl ich“ – Postbank) kann sich leicht gegenüber dem System des Privatinteresses und dessen Erfordernissen verselbständigen.
Wer andere in Bus oder U-Bahn fragt, ob sie vielleicht gerade das Tragen ihrer Maske vergessen haben, bekommt häufig zu hören: „Kümmern Sie sich doch um ihre eigenen Angelegenheiten!“ Bei dieser Antwort fehlt der Gedanke, dass die Angelegenheit des einen (der Wunsch nach Schutz seiner Gesundheit vor Ansteckung) die Willkürfreiheit des anderen („ich kann selber entscheiden, was ich mache“) legitimerweise einschränkt. Die Privateigentümer „sind niemandem etwas schuldig, sie erwarten sozusagen von niemandem etwas; sie gewöhnen sich daran, stets von den anderen gesondert zu bleiben, sie bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen“ (Alexis de Tocqueville 1987, 149). Kooperation und Solidarität sind in diesem Horizont nicht oder nur randständig vorgesehen. Wäre das nicht so, bedürfte es keines staatlichen Gebots bspw. zum Tragen einer Schutzmaske. In modernen Gesellschaften treffen viele Menschen zusammen. Ohne Staat müssten sich die Einzelpersonen untereinander verabreden. Ein solches Vorgehen dürfte in größeren Orten recht aufwendig und zeitintensiv sein. Insoweit die hohe Anzahl von Individuen die Chancen für ihre selbstorganisierte Kooperation verringert, wird staatliches Handeln erforderlich. Der Staat „muss jene Verdünnung des Vertrauens ausgleichen, die dadurch entsteht, dass sich die Menschen in großen Gruppen nicht mehr unmittelbar beobachten und korrigieren können und dass sie nicht mehr so ganz voneinander abhängig sind“ (Esser 2000, 160). Der Staat handelt, wenn er denn so handelt, als exogener Förderer der Kooperation. „Gerade in der regelmäßigen Ausführung von Verhaltensweisen, die ohne eine gezielte Einflussnahme auf den Handelnden nicht oder jedenfalls nicht häufig genug ‚von selbst’ seinen Absichten entsprechen, ist mithin ein entscheidender Aspekt der sozialen Ordnung lokalisiert. Eine Hauptsäule dieser Ordnung bilden soziale Handlungen, die nicht allein durch natürliche oder ‚spontan’ entstehende, sondern nur durch ‚künstliche’ Verhaltensdeterminanten herbeigeführt werden können“ (Baurmann 1998, 254f.). Den in ihren Privatinteressen und ihrem Egozentrismus befangenen Bürgern erscheint die Beachtung der Maßnahmen, mit denen sie sich gegenseitig vor Ansteckung schützen können, als illegitime Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Staat, nicht als ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen.
Die Willkürfreiheit
Weit verbreitet ist die Überzeugung „Ich kann doch machen, was ich will“. In der Covid-Pandemie ist diese Parole häufig ausgerechnet dann zu hören, wenn um die Einhaltung der Schutzregeln gebeten wird. Die Freiheit der Willkür, innerhalb der Grenzen, die durch die Rechtsordnung gesetzt sind, souverän und nicht rechtfertigungspflichtig über das eigene Eigentum verfügen zu können, ist für die bürgerliche Gesellschaft zentral. „Die subjektiven Rechte emanzipieren die Präferenzen der Individuen von allen sittlichen, ethischen oder ästhetischen Qualifikationen: Das Wollen eines Rechtssubjekts ist nicht deshalb berechtigt, weil es etwas Gutes oder Vernünftiges will, sondern allein deshalb, weil es das Wollen eines Rechtssubjekts ist (vgl. dazu Menke 2015, 198-225)“ (Loick 2017, 165).
Der formell freie Wille ist derjenige Wille, der seine (Willkür-)Freiheit, sich so oder anders entscheiden zu dürfen. Hayek (2011, 99f.) bezeichnet diese Freiheit als „das höchste Ziel“ von Gemeinwesen. Der freie Wille im Sinne des bürgerlichen Rechts ist derjenige Wille, der allein eine solche Freiheit will, die mit der Freiheit anderer Personen koexistieren kann. Der formell freie Wille bildet ein weiteres Moment, das der Verwilderung des Willens Vorschub leistet. Zur eigenen Meinung pflegen viele eine Beziehung wie zu ihrem Hund: „Wir zwei verstehen uns.“ Gedanken werden weniger nach der Seite ihres Inhalts, sondern als Privatbesitz oder als Attribut einer Persönlichkeit gewürdigt. „Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer anders haben kann; – eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke“ (Hegel 18, 30). Die Gewissheit, es verhalte sich so in der Wirklichkeit, wie man es in der Meinung von ihr annimmt, wird zugleich dementiert. Der auf seine Meinungen Stolze will gar nicht wirklich wissen, ob es sich so verhält, wie er meint. „Kritik und Einwände sind in dieser Sicht ein einziger Anschlag auf die Freiheit, zu denken, wie man will. Dies ist konsequent. Für Subjekte, die durch die Gedanken und Überlegungen, die sie anstellen, nichts als ihre Individualität unterstreichen wollen, ist ein Argument nichts weniger als ein Attentat wider die Ehre und Selbstbestimmung der eigenen Person; es wird damit zur Ursache eines Konflikts. Dessen Lösung besteht in der wechselseitigen Versicherung, für sein Teil habe jeder der Beteiligten Recht, wenn auch nur seines“ (Dorschel 1992, 233).
Misstrauen
Viele Demonstranten gegen die Corona-Politik übertreffen mit ihrem Egoismus und Egozentrismus noch das in der Marktwirtschaft übliche Ausmaß. Die Marktwirtschaft schwächt Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht empfindlich. Viele, die die Maßnahmen gegen die Seuche pauschal ablehnen, zeigen gegenüber den international anerkannten Virologen und Epidemiologen einen extremen Mangel an „Zutrauen zu einem Menschen“, das „seine Einsicht dafür ansieht, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, behandeln wird“ (Hegel 7, 478). Die Skepsis gegenüber unbegründeter Vertrauensseligkeit ist legitim. Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Politik wird eine Mentalität deutlich, die wenigstens auf dieses Thema bezogen keine positive Gesellschaftlichkeit kennt. Damit bezeichne ich hier Verhältnisse, in denen im Rahmen der Arbeitsteilung andere in meinem wohlverstandenen Interesse für mich arbeiten. Der Handwerker, der Lehrer oder der Arzt sind, wenn sie gute Arbeit leisten, meine Repräsentanten. Sie sind dann meine Treuhänder in Feldern, in denen ich mich nicht auskenne. Als endliches Individuum kann und will ich kein Alleskenner und Alleskönner sein. Ich weiß um die Gefahr der Ausnutzung von Kompetenzen bzw. Expertise und ebenso um soziale Mechanismen, die das verhindern. Ich bin weder leichtgläubig noch voller pauschalem Misstrauen. Unter der Voraussetzung der Gegensätze zwischen Privatinteressen entsteht jedoch eine Mentalität, die sich nicht vorstellen kann, dass die einen für die anderen arbeiten, weil es zum Verständnis ihrer Arbeit als gute Arbeit gehört, mit dem Arbeitsprodukt oder der Dienstleistung das Wohl des Empfängers des Guts oder des Adressaten des Dienstes zu fördern. Eine solche gute Arbeit hat „einen intersubjektiv teilbaren Sinn“ und ist nicht „e i n z i g ein Mittel zur Einkommenserzielung“ (Thielemann 2010, 347). Sie orientiert sich nicht allein an einem strategischen Handeln. „Für die Konsumenten eine ‚gute’ Leistung zu erbringen heißt, sich nicht opportunistisch an manifeste Kundenwünsche anzupassen und noch weniger, im Kunden bloß die Kaufkraft zu erblicken“ (Ebd., 348). Das gehört zum Anforderungsprofil von Professionen.
So etwas können sich Leute mit einem generalisierten bzw. pauschalen Misstrauen nicht vorstellen. Sie müssen annehmen, dass alle alle anderen betrügen. Die Ausnutzung von Kompetenzvorsprüngen zum Betrug gilt diesem Bewusstsein als d a s Merkmal der Gesellschaft. Wer so denkt, kann sich nur vorstellen, durch direkte Präsenz in jedem arbeitsteiligen Feld und durch eigene Kontrolle dem „Betrug“ Herr zu werden. Das ist praktisch unmöglich. Je mehr sich das misstrauische Bewusstsein auf diese Perspektive versteift, „desto geringer mein Vertrauen, dass ein selbständig handelnder anderer auch Sachen richtig macht, die mich betreffen, – desto größer mein Misstrauen, dass der andere nur seinen eigenen Vorteil verfolgt“ (Suhr 1975, 296). Eine solche Mentalität „gebiert das Misstrauen, dass niemand anders als nur ich die Sachen richtig machen kann, die mich betreffen. Und sie gebiert es nicht nur, sondern ist die Erscheinungsform dieses bodenlosen Misstrauens in den Menschen, das immer von neuem den misstrauischen Menschen produziert“ (Ebd., 297). Dieses Misstrauen fokussiert sich auf die Interessengegensätze in der Marktwirtschaft, ignoriert aber deren Doppelcharakter. Selbst in ihr existiert nicht nur Tauschwert, sondern auch Gebrauchswert, nicht nur Antagonismus, sondern auch Zusammenarbeit von Geschäfts„partnern“. Auch profitorientierte Unternehmen verarbeiten Vorprodukte und nutzen fremde Dienstleistungen. Würden alle alle betrügen, funktionierte keine Kooperation, keine Lieferkette und keine Kundenbindung. Niemand könnte sich auf die sachgerechte Qualität eines Gebrauchswerts oder einer Leistung verlassen. Gewiss gibt es täuschende Gebrauchswertversprechen und eingebauten Verschleiß. Das pseudoradikale Misstrauen nimmt die Gesellschaft aber als extremer und d.h. als widerspruchsloser wahr, als sie ist. Wer sie als eindimensional auffasst, kann selbst ihr immanentes Funktionieren nicht begreifen.
Das bürgerliche Subjekt
Kritiker des vermeintlichen Obrigkeitsstaats in der Covid-Pandemie tun gern so, als ob der gegenwärtig vorherrschende Sozialcharakter der gehorsame Untertan sei. Gewiss gibt es auch diesen Typus. Aber selbst eine Partei wie die AfD tritt in der Covid-Pandemie nicht mit einem Votum für preußische Orientierungen hervor, als da sind: „Gehorsam, Disziplin, Unterordnung, Treue, Hingabefähigkeit, Dienstwilligkeit“ (Niekisch 1929, 292). Ein Kernmoment des modernen bürgerlichen Leitbildes besteht in der Mündigkeit als Fähigkeit des vereinzelten Einzelnen, eigenverantwortlich für sein Wohlergehen, seine äußere und innere Selbstbehauptung und freie Persönlichkeitsentfaltung sorgen zu können. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung haben ihr reales Fundament in der Warenzirkulation. Hier tritt das Individuum als Anbieter seiner Arbeitskraft und als Käufer von Waren auf. Das Individuum, das in einem kapitalistischen Betrieb arbeitet, ist im Unterschied zu Leibeigenen und Zwangsarbeitern rechtlich frei darin, den Arbeitsvertrag einzugehen und zu kündigen. Mehr ist nicht verlangt, damit Freiheit im bürgerlichen Sinne existiert. Ambitioniertere Erwartungen erweisen sich als sachfremd.
Freiheit hat in der bürgerlichen Gesellschaft ihren Preis. Das bürgerliche Individuum fragt sich in seiner Selbstverantwortung sorgenvoll, ob es seine Kräfte oder sein Budget falsch einteilt, Gelegenheiten versäumt, über seine Verhältnisse lebt usw. Verena Kast schreibt in der für sie charakteristischen Mischung aus Indikativ und Imperativ: „Urheber und Urheberin des eigenen Tuns sein heißt, sich nicht ständig zu verstecken hinter ‚dem Schicksal’ , der Gesellschaft, die einem keine Chancen ließ, den Eltern, die einen schlechten Einfluss auf einen hatten. Wir haben nicht nur ein eigenes Selbst, sondern wir müssen auch die Verantwortung für dieses eigene Selbst übernehmen“ (Kast 2012, 192f.).
Die Kollision zwischen dem imaginären Größenselbst und gesellschaftlichen Regeln
Unter der Herrschaft der Kapitalverwertung sind dem Vorhaben enge Grenzen gesetzt, das Arbeiten, die Produkte und die Sozialbeziehungen im Sinne des guten Lebens zu gestalten (vgl. Creydt 2017). Die Menschen beziehen sich auf Märkten mit ihren Privatinteressen aufeinander und stehen in Konkurrenz zueinander. Die Entfaltung anderer Menschen durch Güter und Dienstleistungen ist in einer am Profit orientierten Wirtschaft oft nicht der objektiv maßgebliche Zweck des Arbeitens oder der Tätigkeiten. Häufig nimmt das Individuum in der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht an dieser Problematik Anstoß, sondern an der Nichtbeachtung seiner wirklichen oder vermeintlichen Besonderheit. Gegen die festgestellte „Nivellierungserfahrung“ wenden sich solche Persönlichkeiten mit einem „exaggerierten Subjektivismus“ (Simmel 18, 382). Hier macht sich die Kehrseite der Arbeitsteilung geltend, die zwar die Individuen allein mit einem zur Austauschbarkeit objektivierten Segment beansprucht. Zugleich aber „saugt“ das verobjektivierte Ganze „seine Elemente nicht so vollständig in sich ein, dass nicht ein jedes noch ein Sonderleben mit Sonderinteressen führte“ (Simmel 6, 629f.). Darauf kaprizieren sich nun die Individuen. Daraus entsteht ein Vorbehalt gegen jede Anforderung, die das gesellschaftliche Zusammenleben an das Individuum stellt. Zwar stellen solche Mitmenschen die Zwänge, auf die es wirklich ankommt – z. B. ihre Lohnabhängigkeit – nicht in Frage. Aber bei der Covid-Epidemie können sie ihr ebenso anspruchsvolles wie schmeichelhaftes Selbstbild der reich entfalteten Persönlichkeit und ihres Individualismus einmal praktisch werden lassen – im passiven Widerstand und in vielerlei abenteuerlichen Verdächtigungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche. Sonst fügsame und „verständige“ Bürger wollen auf einmal sich und anderen beweisen, dass sie „mit sich nicht alles machen lassen“. Auf der Demo am 29.8.2020 in Berlin sind einige ältere Männer zu sehen mit weißen T-Shirts und dem Slogan: „Ich habe meine Eier wiedergefunden.“ Vielen geht es offenbar mehr um Symbolpolitik und Souveränitätssimulation als um eine sachgerechte Einschätzung der Lage. „Die medizinisch-soziale Maßnahme wird in eine symbolisch-politische umgedeutet“ (Georg Seeßlen, Neues Deutschland 22.8.2020). Covid bildet den Anlass für Leute, die es sich schuldig sind, sich selbst und anderen einmal zu demonstrieren, wie eigenständig sie seien. Wer daran Gefallen findet, meint, seine oder ihre Autonomie bestehe darin, … eine Mund-Nasen-Maske nicht aufzuziehen oder sich nicht impfen zu lassen.
Als antiautoritär dünken sich auch Personen, die bereits die Existenz anderer Mitmenschen als Einschränkung ihrer eigenen Willkür erachten. „Meine persönliche Freiheit – eigentlich nur: meine Nicht-Beeinträchtigung – wiegt schwerer als Ideen von Mitmenschlichkeit oder, altmodisch gesagt: Gesellschaft“ (Georg Seeßlen, Neues Deutschland 22.8.2020). Auf das Selbstbild vieler Mitglieder der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft trifft folgende Beschreibung zu: „Die Welt konstituiert sich durch das tägliche ‚Nein’ aller Weltbürger, der Konsens aller ist der Dissens der Individuen, der Mitläufer hat sich totgelaufen, es gibt nur noch das Weltkönigreich des inneren Exils und der äußeren Partisanentätigkeit“ (Beltz 1985, 56). Als Sozialcharakter dürfte gegenwärtig der pseudoindividualistische Subjektivitätstyp („homo irregularis“) weiter verbreitet sein als der autoritäre. Hier ist „Autonomie in bloßen Trotz umgeschlagen“ und zu einem „asozialen Anschein von Freiheit geworden“ (Anders 2001, 93). Bei vielen Kritiken des vermeintlichen Obrigkeitsstaats in der Covid-Pandemie fragt sich: Wie unterscheiden sie sich substanziell von neoliberalen Plädoyers und von anarcholiberalen US-Bürgern? Letztere sehen den Grund allen Übels in „zu viel Staat“.
Literatur:
Anders, Günther 2001: Über Heidegger. München
Baurmann, Michael 1998: Universalisierung und Partikularisierung der Moral. In: Hans-Joachim Giegel (Hg.): Konflikte in modernen Gesellschaften. Frankfurt M.
Beltz, Matthias 1985: Homo irregularis, der Massenpartisan. In: Freibeuter, Nr. 25. Berlin
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Dorschel, Andreas 1992: Die idealistische Kritik des Willens. Hamburg
Esser, Hartmut 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 3: Soziales Handeln. Frankfurt M.
Hayek, Friedrich August von 2011: Der Weg zur Knechtschaft. München
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Hg. v. Moldenhauer/Michel 20 Bde. Frankfurt M. 1971
Kast, Verena 2012: Trotz allem Ich. Freiburg
Loick, Daniel 2017: Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts. Berlin
Marx, Karl 1974: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin (DDR)
Menke, Christoph 2015: Kritik der Rechte. Berlin
Niekisch, Ernst 1929: Gedanken über deutsche Politik. Dresden
Novy, Klaus 1986: Remoralisierung der Ökonomie? In: Rolf Schwendter (Hg:) Die Mühen der Berge. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie – Teil 1. München
Simmel: Georg Simmel Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt: Frankfurt M.
Suhr, Dieter 1975: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung. Berlin
Thielemann, Ulrich 2010: Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Marburg
Tocqueville, Alexis de 1987: Über die Demokratie in Amerika. Zürich