In: ‘Neues Deutschland’, 2.1.2021
(als PDF 164 KB)
Immer wieder ist die Rede davon, die angeordneten Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie seien »obrigkeitsstaatlich«. AfD- und FDP-Politiker sagen das gern, auch manche Linksliberale und Linke sprechen vom »autoritären Staat«. Björn Höcke verkündete Ende November auf einem Landesparteitag, die Präventionsmaßnahmen seien »Teil einer Kampagne gegen die AfD«. Denn so, sagt er, werde die Mobilisierung erschwert. Dabei zeigt das Handeln der Polizei bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik das Gegenteil von »Obrigkeitsstaat« - so viel Nachgiebigkeit sah man selten. Was wir im Notstand erleben, ist die Rückkehr einer Instanz in öffentliches Bewusstsein, mit der Rechte und Linke oft ähnlich große Probleme haben, wenn auch mit anderen Argumenten: der Staat.
In modernen Gesellschaften treffen viele aufeinander. Ohne Staat müssten sich die Einzelpersonen untereinander verabreden. Das ist im Großen unpraktikabel. Da eine hohe Zahl von Individuen selbst organisierte Kooperation vereitelt, ist der Staat gefragt. Er »muss jene Verdünnung des Vertrauens ausgleichen, die dadurch entsteht, dass sich die Menschen in großen Gruppen nicht mehr unmittelbar beobachten und korrigieren können und dass sie nicht mehr so ganz voneinander abhängig sind«, so der Soziologe Hartmut Esser.
Der Staat handelt, wenn er denn so handelt, als exogener Förderer der Kooperation. Michael Baurmann präzisiert: Ein »entscheidender Aspekt der sozialen Ordnung« sind Verhaltensweisen, die »nicht allein durch natürliche oder ›spontan‹ entstehende, sondern nur durch ›künstliche‹ Verhaltensdeterminanten herbeigeführt werden können«. In einer nachkapitalistischen Gesellschaft fallen günstigenfalls sozialstrukturelle Ursachen für »Ausbeutung« weg. Die Versuchung, Partikularinteressen ohne Rücksicht zu verfolgen, wird aber nicht automatisch verschwinden. Antiautoritäre Linke haben in manchem zu Recht »den Staat« kritisiert. Oft übersehen sie aber dieses Moment seiner Legitimität.
In der Marktwirtschaft haben Individuen ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Der Vertrag ist die Normalform der Geschäftsbeziehungen. Doch sind die Interessen der »Vertragspartner« oft verschieden oder stehen einander entgegen. Im marktwirtschaftlichen Warentausch verfolgen die Teilnehmer Eigennutz, Sondervorteil oder Privatinteresse. Zugleich müssen sich die Teilnehmer an Waren-, Konsum- und Arbeitsmärkten an die rechtlichen Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung halten, die freilich nicht die Ursachen überwinden, welche aus Kooperation eine antagonistische Kooperation machen. Hierin steckt sowohl das Instrumentalisieren anderer für eigene Vorteile als auch die Variante: »Mir sind die anderen praktisch egal.« Sie muss sich nicht offensiv artikulieren. Es reicht, wenn Rücksicht »zu anstrengend« ist.
Ein Beispiel aus einer Berliner Grundschule, keineswegs in einem »Problemviertel«: Die Bezugserzieherin einer Klasse ist infiziert, die Klasse geht für zwei Wochen in Quarantäne. Teils haben die Schüler Geschwister auf der gleichen Schule. Das Gesundheitsamt bietet für diese kostenlose Tests, doch nur wenige Eltern nehmen das wahr. Das Geschwisterkind des vorsichtshalber isolierten Schülers besucht weiter den Unterricht. Das andere ausschließende Eigeninteresse dominiert in der Marktwirtschaft. Unter dieser Voraussetzung kann (und will) der Staat den Folgen der Gleichgültigkeit nur sehr begrenzt entgegen wirken.
Das Befolgen von Regeln ist jetzt kein Akt der Loyalität, des Gehorsams gegenüber dem Staat, sondern Solidarität mit anderen. Ein beliebter Einwand ist: Einzelne sollten selbst entscheiden, wann etwa die Maske nötig ist. Alles andere sei Staatswillkür und dringe auf blinden Gehorsam. Es ist aber keine Willkür, wenn der Staat Kriterien anlegt: Was braucht die Nation? Eine Ökonomie mit Arbeitskräften, sodann Schulen, die den Eltern den Rücken freihalten, und ein Gesundheitswesen, das nicht zu viel kostet und nicht durch Corona-Patienten lahmgelegt werden soll. Man muss die Rangfolge der Wertigkeiten nicht teilen. Wer sie kritisiert, sagt aber nicht: Die Maßnahmen sind willkürlich oder staatsautoritär. Tatsächlich geht der Staat so vor, dass er diejenigen Risiken einschränkt, die sich reduzieren lassen, ohne die Geschäftsgrundlagen der kapitalistischen Marktwirtschaft zu gefährden.
Es ist keine Willkür, sich auch dann an Regeln halten zu sollen, wenn ihre Übertretung pragmatisch niemandem schade. Gesellschaftliche Regeln können nicht ins individuelle Belieben gestellt werden. »Vor der roten Ampel halten - warum?«, mag mancher sagen. »Ich habe niemand gesehen, der sich der Kreuzung nähert«: Kann aber, wer so spricht, die Kreuzung wirklich umfassend einsehen? Im Zweifel berufen sich Freigeister und Trotzköpfchen aufeinander. Darf einer im Einzelfall riskant handeln, müsse das auch für andere gelten! Zu viel Sicherheit schade der Freiheit, so das Gefolge der Marktwirtschaft. Peter Sloterdijk sieht jetzt eine »Machtergreifung der ›Securitokratie‹«. Er könnte auch Falschfahrer auf Autobahnen feiern.
Während einer Pandemie sich keine Freiheit nehmen lassen zu wollen erinnert an eine anarcholiberale Kritik am »Obrigkeitsstaat«. Viele US-Amerikaner sind gegen alles aus Washington: Steuern, Regulierungen des Waffenrechts und jetzt Masken. Wer solche Vorgaben bereits als autoritäre Übergriffe wahrnimmt, bekämpft tatsächlich soziale Kooperation und Rücksicht auf weniger Robuste. Für entfesselte Bürger existiert keine positive Gesellschaftlichkeit, nur Individuen und Familien. Nicht ein »Querdenker«, sondern der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki hat das egozentrische Freiheitsverständnis treffend auf den Punkt gebracht: »Menschen müssen für sich selbst sorgen. Wenn jemand Angst hat, soll er eben zu Hause bleiben«.
Wer der Coronapolitik unabhängig von ihrem Inhalt etwas am Zeug flicken will, kann immer Einwände erheben: Entweder werden die Bundesländer zu wenig berücksichtigt oder der Bundestag. Er hat sich seit März mit der Corona-Seuche siebzig Mal befasst. Selbstverständlich kann das Parlament eine Verordnungsermächtigung, die schnelles Handeln im Notfall erlaubt, jederzeit widerrufen. Ein Freifahrtschein für die Exekutive ist nicht erteilt worden. Wer vorschlägt, exklusiv die »Risikogruppen« zu schützen, so dass sich andere nicht einschränken brauchen, ignoriert, wie groß die Risikogruppen sind.
Vieles »linke« Räsonieren über die Coronapolitik resultiert aus einem Mangel. Gewiss ist manche Kritik an einzelnen Maßnahmen gegen die Pandemie legitim. Detailkritik sollte aber nicht jene stärken, die pauschal die Regeln gegen die Ausbreitung von Corona ablehnen. Diese Regeln zerreden sie durch ein Sperrfeuer von beliebigen Einwänden. Linke sollten sich fragen: Was ist unser eigener Grund, sich mit Themen zu beschäftigen? Was sind unsere Fragen? Wir beteiligen uns nicht an der Konkurrenz um die bessere Verwaltung des Bestehenden und den besseren Katastrophenschutz. Das Thema der linken Agenda lautet vielmehr: Was sind unterstützenswerte Tendenzen und Kräfte in Richtung nachkapitalistische Gesellschaft, und wie lassen sie sich stärken und entwickeln? Mangelt es an solcher Zentrierung, herrscht eine Entropie der vielen Themen. Entsprechend reaktiv und pseudokonkret auf das jeweils einzelne Thema fixiert fallen dann oft die Fragen und Antworten aus.
Wer nicht von einer durchdachten Diagnose der Gegenwart und einem Paradigma des guten Lebens ausgeht, verbleibt häufig in einem formellen Willen zur Kritik: Ich bin kritisch, also muss ich irgendetwas finden, was ich an jedem einzelnen Phänomen in Staat und Gesellschaft auszusetzen habe. Diese zwar felsenfest auftretende, aber in ihrer Substanz wackelige »Kritik« hat in Bezug auf den Staat eine dogmatische Prämisse: Der Staat dieser Gesellschaft kann nichts richtig machen. Eine kritische Analyse von Staat und Gesellschaft kann hingegen unterscheiden. Die gegenwärtige Anti-Corona-Politik nimmt Ansteckungsrisiken in der Erwerbsarbeit und beengte Wohnverhältnisse armer Familien nicht genügend als Ursachen der Ausbreitung von Covid in den Blick. Viele Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche, gegen die Querdenker, AfD und FDP wettern, sind jedoch schlicht, einfach und objektiv erforderlich. »Kritik« ist kein Selbstzweck, der »Kritikfähigkeit« inszeniert.